Das Beste kommt zum Schluss

Filme der Berlinale 2018. Von Inge Kirsner, Präsidentin der Ökumenischen Jury

Die Ökumenische Jury der Berlinale 2018, v.l.: Roland Wicher (Festivaldelegierter), Jeffreya Mahan, Inge Kirsner, Winifred Loh, Joachim Opahle, Vesna Andonovic, Freek Bakker; Foto: © Francis Verquin

Das Beste kam zum Schluss: Während noch gerätselt wurde, ob nun "Transit" von Christian Petzold oder der vierstündige Kritikerliebling "Season of the Devil" von Lav Diaz das Bärenrennen gewinnen würde, liefen nacheinander die Pressevorführungen "Twarz" (Fratze) von Małgorzata Szumowska und Thomas Stubers "In den Gängen".
 

Letzterer ist trotz der überwältigenden Walzer-Klänge zu Beginn ein stiller Film, der neben einem wunderbaren Franz Rogowski als Lagerarbeiter Christian und einer immer toughen Sandra Hüller als seine Kollegin Marion einen Gabelstapler zum Protagonisten hatte und ohne drastische Gewalt- und Sexszenen auskommt. Und fast auch ohne Religion, wäre da nicht Weihnachten, wo auch zwischen den mit Sternen und Lichterketten behängten Regalen eines Großmarktes liebliche Klänge erschallen. Nach Weihnachten wird dann die Musik, die der Vorarbeiter allabendlich einlegt, geerdeter; nach klassischen Tönen zu Anfang sind jetzt auch schon mal Rock- und Popsongs zu hören.

Wir sehen zu Beginn von oben auf die Regalfluchten – wie in einer Simulation des Blickes Gottes auf die Welt - aber fast ebenso hoch kommt auch der Gabelstapler. Wird dieser langsam hoch- und dann wieder heruntergefahren, meint man den Wellenschlag des Meeres zu hören. Und Palmen finden sich als Paradies-Symbole auch in der kleinen Kaffeebar, die den Mittel- und Fluchtpunkt des Marktes bildet.

In den Gängen; Foto: © Sommerhaus Filmproduktion / Anke Neugebauer

Stuber zeichnet nach der gleichnamigen Kurzgeschichte von Clemens Meyer eine Welt, in der fast nie die Sonne scheint. Der Film spielt auf dem flachen Land und verharrt dort, wo sich eine enge Gemeinschaft von Menschen bildet, die einander nicht zum Wolf werden (wobei in einem kurzen Besuch ehemaliger Neonazikollegen von Christian durchaus die Bedrohung ˈvon außenˈ aufblitzt). Vielmehr erscheint es so, als ob hier ein Teil der Bergpredigt nachgezeichnet wird, in der jene selig gepriesen werden, die ˈreinen Herzensˈ sind.
 

Eine sehr explizite Rolle spielt die Religion hingegen - in ihrer katholischen Spielart - in dem polnischen Film "Twarz". Er rechnet damit ab, dass die Menschen an Weihnachten zwar einen Platz für Jesus Christus an der Tafel frei lassen, aber gleichzeitig nach dem Essen Judenwitze reißen. Die vor dem Ort errichtete riesige Jesusstatue scheint jedenfalls weg zu wollen - am Ende hat sie ihren Kopf gedreht und blickt dem Protagonisten nach, der die bigotte, rassistische Landgesellschaft hinter sich lässt und fortreist.

Twarz

"Twarz" beginnt in einem Warenhaus, wo "Nackedeis" Weihnachtsschnäppchen versprochen werden. Wie Zombies stürzen sich diese dann tatsächlich halbnackt auf die nicht für alle ausreichenden TV-Riesenbildschirme.
 

Dass das, was man zum Leben braucht, nicht auf den Regalen zu finden ist, sondern ˈin den Gängenˈ, davon erzählt hingegen der von der ökumenischen Jury ausgezeichnete Film Stubers. Ein weiterer deutscher Beitrag, "Styx" von Wolfgang Fischer, gewann den Forum-Preis, in der Filmreihe "Panorama" wurde "Teatro de guerra" von Lola Arias gewählt.

Auf der diesjährigen Berlinale gab es einige "Ausreißer" nach oben wie nach unten. Keiner dieser "Ausreißer" wurde mit einem Bären ausgezeichnet. "Transit" hätte durchaus zumindest einen Silbernen Bären verdient: Er verknüpft Flüchtlingsschicksale auf zwei Zeitebenen miteinander - die Gegenwart mit dem 2. Weltkrieg, wie ihn Anna Seghers gleichnamige Literaturvorlage beschreibt. Der Film schafft einen traumartigen Raum des Übergangs, in dem sich die Menschen wie ˈlebende Toteˈ aufhalten. Manchen gelingt die Flucht, andere wählen den Tod.

Utøya - 22. Juli; Foto: © Agnete Brun

Der Tod ist die Hauptfigur in "Utøya - 22. Juli", dem beklemmenden Film von Erik Poppe, der uns in einer langanhaltenden, nur mit der Handkamera gefilmten und ungeschnittenen Sequenz mit dem schockierenden Attentat von Utøya konfrontiert, dem 69 junge Menschen zum Opfer fielen. Zugleich eröffnet er den Zuschauenden überzeugende Momente von Stärke und Hoffnung im Angesicht der Tragödie.

Die Ökumenische Jury zeichnete den Film mit einer Lobenden Erwähnung aus.

Auch "Styx" spielt im Hades. Es ist ein künstlerisch herausragender und spannungsvoller Film, der die Geschichte einer guten Samariterin umsetzt, die in sich ihrem Einsatz für Flüchtlinge als kompromisslos und zugleich klug erweist, und darin eine überzeugende Antwort gibt auf eine der größten ethischen Herausforderungen unserer Zeit.

"Teatro de guerra" zeigt, wie der Tod des einen den anderen zum Leben führen kann, indem dieser begreift, dass ihm in dem eben gestorbenen feindlichen Soldaten ein Bruder gestorben ist - eine der eindrücklichsten Szenen des Films.

Teatro de guerra

Die Geschichte des Falklandkrieges wird in Szenen lebendig, die den klassischen Theaterrahmen sprengen. Sie wird in lebenden Gemälden und überraschenden Schauplätzen mit argentinischen und britischen Veteranen sowie jungen Schauspielern reinszeniert. Die Regisseurin gibt den Protagonisten 35 Jahre später Raum und Zeit, ihre persönlichen Geschichten zu erforschen und darzustellen. Das Geschehen und dessen traumatische Folgen werden so stellvertretend für alle Kriegserlebnisse in Reenactments dargestellt. - Gezeigt wird,  wie Erinnerungsarbeit den Weg zu neuem Leben eröffnen kann und Menschlichkeit durch den Krieg nicht zerstört werden muss.
 

Am Ende der Berlinale steht einmal mehr das Leben, das Beleuchten von Geschichten, die, wie "In den Gängen", von der Liebe zur Arbeit und der Arbeit an der Liebe erzählen.