Das Märchen vom Märchen
Ein Märchen. Man muss das Wort nur aussprechen, sofort teilt sich die Welt. Im Märchen spiegeln sich ungerechte und absurde Verhältnisse, die Held und Heldin überwinden müssen. „Erzähl mir keine Märchen“, lautet der Gegen-Satz und meint: Wer phantastische Lösungen für möglich hält, lügt.
Hollywood hat für seine Märchenproduktion jahrzehntelang einen Rahmen gefunden, der die rebellische Kraft des Wundersamen in einen Zerrspiegel verwandelt hat. Während die Wirklichkeit draußen vor dem Kino gewalttätiger, frauenfeindlicher und gieriger wurde, konnten die Betrachter sich damit trösten, dass Disney die gängigsten weiblichen Märchenfiguren einem Upgrade unterzog. Die Kleine Meerjungfrau, die Eisprinzessin und selbst Mulan, die Tochter, die sich im Kampf um die Ehre ihres Clans als Sohn ausgibt, stolpern nicht mehr ganz so hilflos über ihre Liebe zu wankelmütigen Männern, perfektem Aussehen und anderen Familientraditionen. Ist der Film zu Ende, bleibt die Botschaft klar. Der Fischschwanz der Meerjungfrau ist nicht echt. Solltest du einen haben, dein Pech. Fin Fun Meerjungfrauenflossen aus Nylon mit einem zwanzigprozentigem Stretch-Anteil finden sich in der Spielzeugabteilung neben den rosa Einhörnern.
Guillermo del Toro: "The Shape of Water"
Aus diesem intellektuellen wie emotionalen Debakel schöpft Guillermo del Toros Film „The Shape of Water“ neue Kraft, brunnentief in die Metaebene der Filmgeschichte eintauchend. Der Abgrund des Horrorgenres ist hier von Anfang an so präsent wie das Wissen um das Sperrgebiet des Kitsches. Zu Beginn des Films hört man die müde Stimme eines Mannes: „Wo ist das?“ fragt er, während wir der Kamera folgen, in Räume, die auch ohne die grünblauen Wellen, die bis unters Dach mit dem Mobiliar spielen, schon versunken ausgesehen haben müssen. Räume voller Bücher und Zeichnungen. „Was“, fragt der unsichtbare Erzähler aus dem OFF, „soll man dazu sagen?“ Etwas über die Zeit? Oder über den Ort? Oder solle er von ihr erzählen, der Frau, die über dem Sofa schwebt und auf ihrem Wasserkissen das Zentrum dieser Bilderfluten ist? Solle er erzählen von der „Prinzessin ohne Stimme“, von „Liebe und Verlust und von dem Monster, das versucht hat, alles zu zerstören?“.
Was wollen wir erzählt bekommen? Dass dies ein Fantasy-Film ist, in den ein Monster hereinbricht?
Das Filmfestival von Venedig hat sich 2017 einer Revision unterzogen, die eine vielschichtigere Realität zulässt. Ein Film wie „The Shape of Water“ bringt dem Internationalen Wettbewerb nicht allein deshalb Glanz, weil sagenhafte Schauspieler auf ein mutiges Drehbuch, einen visionären Kameramann und einen poetisch wie analytisch gebildeten Regisseur treffen. Es war hohe Zeit, dass sich das Weltkino seiner Beschränkungen entledigt. Kunst oder Kommerz? Warum soll sich Kunst nicht verkaufen, wenn sie uns bereichert.
Die Prinzessin ohne Stimme heißt Elisa und erwacht aus ihrem Traum. Das Wasser, das alles leicht gemacht hat, läuft ab. Die Räume trocknen aus zur Normalität einer Schicksalsgemeinschaft, die im Jahr 1963 ein Dachgeschoss über einem Kinosaal bewohnt. Elisa Esposito hat Narben am Hals, die wie verklebte Kiemen aussehen, und kann keinen Laut von sich geben. Doch so ausgesetzt wie sie der Verachtung der vermeintlich Intakten auch ist, ihre Blicke sind ebenso lebenslustig wie ihre Hände. Bevor sie ihren Dienst in einer Militärbasis in Baltimore antritt, nimmt sie ein Bad und masturbiert. Bergmanns Film „Das Schweigen“ plätschert durch die sich täglich wiederholende Befriedigung. Was für ein Aufstand das einmal war! Elisa liebt sich in aller Unschuld selbst. Ihr WG-Freund Giles ist alt, schwul, gebildet und arbeitslos, seitdem Fotografien die Kunst seiner Werbegrafiken ersetzt haben. Das reicht, um die beiden an den Rand einer Geschichte zu stellen, die sich Amerika nennt.
Im Fernsehen läuft der Vietnamkrieg. Elisa und Giles schauen lieber Musicals. Das Kino unter ihren Füßen sieht aus wie ein sterbender Wal. Aus seinem Bauch kommen die Schreie der Hebräer, die unter Peitschenhieben für falsche Götter Pyramiden bauen müssen. „The Story of Ruth“ heißt der Film von Henry Koster aus dem Jahr 1960, den Guillermo del Toro als Film im Film, quasi im Untergeschss der Handlung einspielt. „Ich habe Zweifel an der Opferzeremonie“, hört man die biblische Ruth sagen, während im leeren Kino kaum jemand zuhört. Elisa versteht diesen Satz auf ihre Weise. Sally Hawkins spielt die schmale junge Frau mit der Vorliebe für elegante Schuhe als Personifikation eines zärtlichen Widerstands. Eliza sei nicht taubstumm, sagt ihre schwarze Freundin und Beschützerin Zelda Fuller, die neben ihr in der unterirdischen Militärbasis Toiletten und Labors reinigt. Elisa hat viel zu sagen. Die schwarze Frau, die ihr übersetzend zur Seite steht, ist eine Alleskönnerin. Neben dem Aufwischen der von weißen Militärs und Wissenschaftlern hinterlassenen Klebrigkeiten hat Zelda noch die Energie, Gebärdensprache zu lernen und im Versagen ihrer Ehe das Versagen aller zwischenmenschlichen Beziehungen zu analysieren. Zelda Fuller, wirklich gespielt von Octavia Spencer, ist der volle, irdische Ausgleich für Elisas ätherisches Innenleben. Zusammen mit dem stigmatisierten Giles sind sie eine unberechenbare Größe. Gegen alle Regeln, die den weißen, männlichen, heterosexuellen und kriegslüsternen Amerikaner zum Erben von God´s Own Country, also der Welt ausrufen, werden sie einen befreien, der aus Sicht der Kalten Krieger noch niedriger rangiert.
Im Amazonas, prahlt ihr Gegenspieler Colonel Strickland, habe er die KREATUR gefangen, die von den Indianern als Gott verehrt werde. Aber was wissen schon die Wilden, die versucht haben, Strickland und die amerikanische Industrie von der Ausbeutung der Ölvorkommen in ihren Gewässern abzuhalten? Das Monster, erklärt Strickland den beiden Putzfrauen, die das Blut seiner Folterorgien wegputzen, gehe auf zwei Beinen und sehe menschenähnlich aus. Doch scheint der in blaugrüne Schuppen gehüllte Amphibienmann den Gott nicht zu kennen, den Strickland verehrt, nämlich Strickland höchstselbst. Der Gefangene mit den großen beweglichen Augen und den Flossenhänden beißt Strickland zwei Finger ab und macht die Fäulnis offenbar. Die Wunde, die sich nicht schließt, hat in diesem Film mythische Ausmaße. Allein der Gral heilt bekanntlich in der Parsifal-Legende die Wunde des sich selbst nicht beherrschenden Herrschers.
Ein Gral, das ist dieser Film selbst. Guillermo del Toro verkehrt alle Genre-Muster zu einer Gesellschaftskritik, die wirklichkeitsgetreuer nicht ausfallen könnte. Und wagt zugleich eine Heilsbotschaft, die alle Wahrnehmung sprengt. Während Elisa dem angeketteten Meeresmann hart gekochte Eier zusteckt, ihm Gebärdensprache und Musik nahebringt, sich verliebt und still verstanden weiß, macht der Film die monströsen Verhältnisse sichtbar. Jede Nebenfigur, ob der Verkäufer des imageträchtigen Cadillacs, den Strickland nach dem Verlust seiner Finger haben muss, oder Stricklands Ehefrau, die grünen Wackelpudding als Highlight des Tages anbietet, bezeugen die Gehaltlosigkeit eines Lebensstils, in dem nichts mehr echt ist, schon gar nicht die giftig aussehende „Götterspeise“. Dieses Amerika ist bigott wie die Hölle. Ehelicher Sex ist ein Todeswunsch, Nettigkeit eine Verkaufsstrategie, Rassismus und Sexismus die allgegenwärtige Methode, sich menschlich zu fühlen. Die Passionsgeschichte des Amphibienmenschen ist überdeutlich, doch auch die normative Mehrheit kreuzigt sich permanent gegenseitig. Selbst der soldatische Anstand, auf den Strickland sich gegenüber seinem General beruft, ist ein Konsumgut für die Welt, die getäuscht werden will. Der einzige Anstand, sagt der General, sei der Erfolg. Strickland kann einem leidtun. Auch das ist, angesichts der großartigen Bösartigkeit, mit der Michael Shannon Stricklands Kadavergehorsam spielt, ein Verdienst des Films.
Nur die erneute Versklavung des in einem wilden Coup befreiten Meeresmannes trennt Strickland von der Bedeutungslosigkeit. Wäre da nicht der schwarz, schwul, weiblich und übermenschliche Austausch neu entdeckter Kräfte, wäre da nicht der Zauber der Liebesszenen zwischen Elisa und ihrem Wassermann, der Film wäre bitter wie jede Gegenwart, die sich allein auf die Herrschaft der Realität verlässt.
Ai Weiwei: "Human Flow"
Auf den ersten Blick sieht „Human Flow“ aus wie der Antipode zu „The Shape of Water“. Der Wettbewerbsbeitrag des chinesischen Künstlers Ai Weiwei, 140 Minuten lang, dokumentiert in 23 Ländern und 40 Lagern das Elend der Flüchtlinge aus aller Herren Länder. Zahlen, Daten, Fakten. Ein von einer weiblichen Stimme gesprochener Kommentar, der den Strom der Millionen Armen und Abgerissenen, Ausgebombten und Ausgegrenzten mitfühlend vorträgt. Kinder ohne Perspektive sind Kinder, die leicht missbraucht werden können, nicht nur sexuell, sondern auch als Sendboten des Fundamentalismus. Empathisch wird abgewogen, wie leicht es ist, die Angst vor den Vertriebenen zu schüren, wie berechtigt es ist, auf Radikalisierung hinzuweisen, wenn aus Auffanglagern Zeltstädte einer fortgesetzten Drangsal werden. Und doch glaubt man, man sei im falschen Film.
Wie kann es sein, dass das Orange der Schwimmwesten in der Verdichtung der erschöpften Leiber einen derart exquisiten Kontrast bildet zum tiefblauen Meer? Die Sonne ist zu golden, während Flüchtlinge gerettet werden – oder auch nicht. Die Erde setzt Akzente wie ein Maler, Wolken bauschen sich wie auf kostbaren Gemälden, Regen fällt wie in Gedichten. Die Menschen, die Ai Weiwei persönlich, also mit dem Mut zum Da-Sein befragt, kaum dass er 2015 von der chinesischen Regierung seinen widerrechtlich eingezogenen Pass zurückerhalten hatte, passen nicht in den Kanon der medialen Darstellung. Sie sprechen von der Grausamkeit des Krieges, den Toden, dem Affront, in Niemandsländern gefangen gehalten zu werden, aber sie entsprechen nicht dieser Masse Mensch, die man uns in den Nachrichten gezeigt hat. Sie sind schön in der tragischen Wucht ihrer Tränen; ein Mann klingt wie Hamlet, wenn er davon spricht, dass die Geister seiner Toten ihn heimsuchen und er nicht weiß, was er tun soll. Zwei verhüllte Frauen sitzen auf einer Bank und erzählen, dass sie nicht vor noch zurück können, doch zwischen ihnen sitzt ein kleines Mädchen, das anstelle eines Schleiers Luftballons auf dem Kopf trägt, rosa und lustig gewunden, eine Krone aus billiger Zuwendung und doch aus schierer Hoffnung. Eine Frau, sie möchte nur ihren Rücken zeigen, spricht tränenerstickt davon, dass sie 60 Tage mit ihrem Sohn unterwegs war: „Und niemand hat uns den Weg gezeigt“. Sie bricht das Interview ab. Ai Weiwei ist neben ihr im Bild und reicht ihr ein Taschentuch.
Ist das professionell? Das, hat Ai Weiwei in Interviews gesagt, sei eine erstaunlich deutsche Frage. Sich selbst aus dem Bild, aus dem Text, aus der Kritik zu entfernen, gilt in deutschen Medien als Tugend. In der Kunst, das Ich zu verbergen, haben wir viel geleistet. Dabei war es immer da. Sprechen wir weniger durch die Blume der Selbstzensur, kommt unsere Leidenschaft ans Licht. Das Leben ist nicht allein eine Frage unserer Wirklichkeit, sondern auch der Wirklichkeit des Anderen. Schon in diesem Übergang beginnt die Verwandlung: Es ist nicht so, das Ai Weiwei poetische oder komische, zarte oder ekstatische Bilder außerhalb des Sichtbarens auffängt, sie sind immer da, wo Menschen um ihre Existenz ringen. Die Inszenierung des Nachrichten-Formats hat den Flüchtling als antiken Helden, Schelm oder Schönheitssucher ausgeklammert.
In einem Interview, publiziert auf ZEIT online, hat man Ai Weiwei die Frage gestellt: „Wie haben sie es geschafft, den Menschen so nahezukommen?“ Seine Antwort: „Soll ich poetisch oder realistisch antworten?“
Beide Antworten fließen in diesem Film zusammen. Es werden Gedichte eingesprochen, die nobelpreiswürdig sind, während die Heimat, die sie besingen, ausgeblutet wird. Zahlen, Fakten, Namen. Irgendwo in Europa, in einer Wüste aus Schlamm, glitschig vom Regen und tausenden von Füßen, die das Bahnhofsgelände zertrampelt haben, sitzen Frauen und waschen Wäsche. Sie können nicht vergessen, wer sie sind, nur weil der Matsch knöcheltief ist. „Schlangen und Skorpione in den Schlafsäcken der Kinder“, sagt eine von ihnen. Ihr Erstaunen ist wahr wie ihre Entschlossenheit, sich nicht von der Unkultur der Menschheit zur Kreatur machen zu lassen.
Alireza Khatami; "Los Versos del Olvido - Oblivion Verses"
Eigentlich sollte der Film im Iran spielen. Doch wie hätte er die Zensur passieren können? Es geht um einen Krieg, den eine Diktatur ausnutzt, um Oppositionelle zu töten und mit ihren Leichen die Straßen zu unterfüttern, die dann als Fortschritt der Vernunft gefeiert werden. Es geht um das Vermächtnis des Schweigens. Niemand kann sich an das Geringste erinnern. Das Schweigen türmt sich zum Himmel, selbst die Wale, die göttlichen Sänger der Meere, ertragen es nicht mehr. Stellvertretend für die verängstigten Menschen werfen sie sich auf den Strand und sterben. Der iranische Regisseur Alireza Khatami, der mit seiner Geschichte deutsche, französische und holländische Produzenten begeisterte, fand in Chile die Orte für seinen ausgesprochen realistischen Film. Der poetische Realismus der großen iranischen Regie-Meister Abbas Kiarostami und Mohsen Makhmalbaf gehört ebenso sichtbar zu seinem Erbe wie der magische Realismus Lateinamerikas. „El Sur“ von Victor Erice ist ein Kontext, ebenso Borges` berühmte labyrinthische Bibliothek. Verdichtet zu einer höheren Wirklichkeit ist Alitreza Khatamis Film ein eigenständiges, erschütterndes Werk, das ihn auf Anhieb in den Parthenon der Filmgeschichte hebt.
Von niemandem auf diesem Festival übertroffen, spielt Juan Margallo in diesem spanisch-sprachigen und wundersam universellen Film einen alten Friedhofswärter, der sich als Einziger an alles erinnern kann. Sein Gedächtnis macht ihn gefährlich für die Folterknechte der Regierung, die auf dem Friedhof ihre Opfer unter lang Verstorbenen verscharren. Die vergessenen Verse sind die Toten selbst, ihre Akten bilden unter dem Friedhof das Labyrinth aus Papier, in dem sich der sture Friedhofswärter lieber lebendig einmauern lässt, als seine Erinnerung preiszugeben.
Doch so engelsgleich, wie der einsame Alte nach jedem Mordanschlag wieder auftaucht, sind die Kräfte an seiner Seite: Eine alte Frau, die vergeblich den Leichnam ihrer Tochter sucht, ein blinder Totengräber, ein Wal, der sich seufzend und singend in die Luft über der Stadt schwingt, in der die Menschen nicht leben, sondern gehorchen. Und so geschieht das Wunder. Das zu Tode geprügelte Mädchen, das die Militärs in der Leichenhalle übersehen, bekommt eine menschenwürdige Beerdigung. In ihr strömen alle Erinnerung an das Gute, das Einfache zusammen. Versehen mit falschen Papieren, von Fremden gewaschen und betrauert, wird sie zur Tochter des ganzen Landes. Ein Wal gleitet ins Meer zurück und überlebt.
„Los Versos del Olvido“ ist der INTERFILM-Preisträger eines denkwürdigen Festivals. Das Märchen ist nicht märchenhaft. Es ist die Erlösung der Realität.