Zwei Filme des Filmfestivals Venedig 2018


Ein rechteckiger Quader kann unter der Sonne Mexicos alles sein: Ein Altar, ein Grabstein, ein Waschstein. Tatsächlich trifft all dies zu in Alfonso Cuaróns hochgradig verdichtetem Film Roma. Links liegt Cleo, die indigene Haushälterin einer in Mexico City lebenden Familie der hispanischen Oberschicht. Kopf an Kopf mit ihr streckt sich der  neunjährige Tono zur rechten Seite aus. Der jüngste Sohn ihrer Arbeitgeber spielt Totsein. Als Toter braucht er nicht zu gehorchen – den verwöhnten Kindern ist das Dach des Hauses verboten. Cleo lässt sich auf sein Spiel ein und erfährt die Ambivalenz der Wahrheit. „Es ist großartig, tot zu sein“, sagt sie und schaut verzückt in die tropfnasse Wäsche, die über ihnen hängend die Hitze des Tages erträglich macht.

Dann ist der Moment vorbei und der Betrachter kann sich darauf verlassen, dass diese Vignette bereits alles in sich birgt, was vor Cleo und Mexico liegt. Tono ist das alter ego des auf der 75. Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica preisgekrönten mexikanischen Regisseurs Alfonso Cuarón, Cleo die gute Seele seiner Kindheit. Obwohl die vier Kinder von Signora Sofia und Signor Antonio nach dem Vorbild ihrer unselbständigen Mutter und ihres verantwortungslosen Vaters alles fallen, stehen und liegen lassen, sieht die fleißige Indigena in ihnen nur das Beste. Liebe und Wohlwollen begleiten ihre rastlosen Handlungen, selbst wenn sie in einem morgendlichen Ritual den beklemmend engen, überdachten Vorhof des Hauses von Hundescheiße reinigt. Der Hund heißt Borras und ist mitsamt seiner Hinterlassenschaft das Inbild dessen, was zum Himmel stinkt im postkolonialen, von Rassismus, Sexismus und Fortschrittsgläubigkeit geprägten Mexico des Jahres 1970. Der Hund bewacht das Haus, weil Reichtum sich hier nicht öffnet. Raus darf er nie. Einer der stoischen Kamerafahrten des Films zeigt, wie im großbürgerlichen Viertel „Roma“ hinter jeder verschlossenen Tür solch ein Hund rast. Für seinen Hund hat Hausherr Antonio, der zu Beginn des Films Ehefrau und Kinder verlässt, um zur nächstjüngeren Frau zu ziehen, nur Verachtung übrig. Borras soll, wie Cleo und die ebenfalls indigene Köchin Adela, keine Bedürfnisse haben Zur Strafe lässt der Regisseur die egomanische Vaterfigur ausgiebig in die Scheiße treten.

Cuaróns Realitätssinn ist nicht minder komplex als seine stupende Fähigkeit, hinter jeder individuell gelebten Wirklichkeit das Gepräge der Machtstrukturen, der Vorurteile, der Verkettung von Schicksalen zu sehen. Nichts, was der Familie und ihrer indigenen Madonna zustößt, ereignet sich allein im familiären Rahmen – alle Handlungen spiegeln die kollektive Misere Mexicos. Der untreue Familienvater ist Arzt. Geld spielt keine Rolle, solange er es für sich ausgeben kann. Seine Frau Sofia muss zum ersten Mal in ihrem Leben erkennen, dass schön zu sein unter einem Macho-Regime bedeutet, schön gewesen zu sein. Ohne Beruf und Einkommen entdeckt Signora Sofia eine neue Freiheit. Sie lernt, Cleos uneitlen Pragmatismus zu schätzen. Die einsetzende Solidarität zwischen der Weißen, die stellvertretend fürs Patriarchat erst einmal den Cadillac ihres Mannes zerbeulen muss, und der konkurrenzlos freundlichen Indigena ist die Frohe Botschaft des Films.

In Schwarz und Weiß gedreht ist der Film wohl auch deshalb, weil die Fülle seiner ineinander geschachtelten Botschaften unter dem leisesten Hauch von Farbe Überdruss, ja, Widerwillen erzeugen würde. So aber, durchdekliniert in furchtlosen Grautönen, aufgezeichnet in den Schattenreichen der Seele, nimmt man dem Film nie übel, dass er Geschicke wuchern lässt wie tropische Schlingpflanzen über aztekischen Ruinen.


Die weltfremde Cleo lässt sich von einem jungen Mann entjungfern, der ihr die Rolle der heiligen Trösterin zuspricht. Fermin ist in einem Slum aufgewachsen und bedient sich an Cleos Gutgläubigkeit. Als sie schwanger wird, verstößt er sie im erlernten katholischen Ritus und schwört, sie als Hure umzubringen, solle sie ihn jemals wieder als Kindsvater bezeichnen. Fermin hasst sich für seine eigene indigene Abstammung. Mit anderen Slumbewohnern trainiert er Aikido. Doch auch er ist ein Betrogener: Keiner der weißen Ausbilder will wissen, wie diszipliniert er sich als Martial-Arts-Kämpfer bewegen kann. Stattdessen werden Fermin und Seinesgleichen mit Waffen und Schlagstöcken losgeschickt, um bei einer regierungskritischen Demonstration blutjunge, unbewaffnete Menschen zu töten. Die Fronleichnams-Demonstration des Jahres 1971 hat Cuarón so akribisch nachinszeniert, dass die Ereignisse zu explodieren scheinen. Sie passen in seine Geschichte, aber seine Geschichte ist keine Fiktion.

Vor allem auf der Tonspur hört der Film auf, als nachvollziehbares Universum zu existieren. Schreie, Schüsse, Zerfallendes, Sterbendes, Weinendes, alles mischt sich und dringt ein in Cleo, die während des Massakers an den Studenten hochschwanger in einem Möbelgeschäft  in der Innenstadt steht. Signora Teresa, die Mutter von Cleos Arbeitgeberin, versucht gerade, Rabatt für die Wiege herauszuschlagen, die sie für Cleos Baby kaufen will. Ein Student flieht vor dem paramilitärischen Mob in das Möbelgeschäft und wird vor aller Augen erschossen. Unter den Mördern entdeckt Cleo Fermin, den Mann, der sich selbst und die Seinen verleugnet. Und wieder wird klar, dass dieser Film Zeichen und Wunder ineinandersetzt. Cleos Kind wird tot geboren. Doch einem anderen Kind kann sie später das Leben retten, weil sie kein eigenes zu versorgen hat.

Was ist Schicksal? Ist es Zufall oder die Folge bestimmter  Handlungsweisen? Das untersucht auch der tibetische Regisseur und Schriftstellers Pema Tseden in seinem zutiefst beeindruckenden Film Jinpa. Produzent ist Wong Kar Wai, selbst ein legendärer Regisseur, der über ein ganzes Jahrzehnt lang Maßstäbe setzte für die Farbtöne und Nuancen karmisch zu nennender Liebesdramen.


Jinpa beruht auf einer gelungenen Mischung von Tsering Norbus Erzählung „The Slayer“ und Pema Tsedens eigener Novelle „I Ran Over a Sheep“. Der nicht mehr ganz junge Mann, der einen Lastwagenfahrer auf der staubigen Hochebene von Kekexil zum Anhalten bringt, könnte ein Geist sein. So unwirklich steht er im Zwielicht einer monotonen Wegstrecke, so ähnlich sieht er in seinem verschlissenen Stolz einem herrenlosen Samurai. Doch der Mann mit den verfilzten Haaren trägt unter seinen schmutzigen Gewändern ein glänzendes, realitätsgeprüftes Schwert. Der Lastwagenfahrer sieht es, er hat ein Gespür für den Tod. Gerade hat der Hüne, der weit verstreute Ortschaften auf dem Hochtableau mit dem Nötigsten beliefert, ein Schaf überfahren. Aus dem Nichts ist es erschienen in der Ödnis eines Filmanfangs, der im schier endlos wirkenden Staub nicht allein von einem weitgehend unbekannten Tibet erzählt. Die Hochebene gibt grau und grimmig die Wüstenei eines Landes wieder, das seine Wurzeln eingebüßt hat. Zwar baumelt im Truck das Bild eines hochrangigen buddhistischen Würdenträgers vom Rückspiegel, zwar trägt der Lastwagenbesitzer neben einer speckigen Lederjacke und einer dunklen Sonnenbrille tibetische Heilsteine, doch ist er sich seiner selbst nicht sicher. Wie weit ist er von der Verwahrlosung seines seltsamen Fahrgastes entfernt?

Vielleicht ist es das Blut auf dem Beifahrersitz, es stammt von dem überfahrenen Schaf, das der Lastwagenfahrer mitgenommen hat, oder das Schicksal: Jedenfalls spricht der Anhalter unvermittelt aus, was in ihm spukt. Er will nichts als Rache. Seitdem sein Vater vor zehn Jahren ermordet wurde, sucht er den Täter. Nun glaubt er sich in der Nähe des Mannes, den er töten will. Er weiß, dass der Vatermörder Martsa heißt und mittlerweile einen Sohn hat. Er weiß, dass dieser Sohn ihn eines Tages für den Mord an Martsa ermorden wird.

Wie denn sein Name sei, will der Lastwagenfahrer wissen und enthält eine Antwort, die sein Leben verändert. Der Mörder in spe, der mit ihm reist, heißt wie er selbst, Jinpa.

Von diesem Moment an kommt die spirituelle Realität Tibets, die unter der ungastlichen Landschaft liegt, zum Vorschein. Der Glaube an Reinkarnation und das Wissen um karmische Verstrickungen lenken Jinpa mit dem toten Schaf in ein buddhistisches Kloster. Um der Seele des Tieres Frieden zu schenken, beauftragt er einen Mönch, für das Schaf zu beten. Er spendet Geld. Doch die alten Rituale wirken nicht. Der Rock'n Roller der Wüste beginnt, Gesichte zu haben. Der angekündigte Mord an dem Mann namens Martsa steht ihm so plastisch vor Augen wie dem Betrachter des Films. Sind es visuelle Vorgriffe? Oder Rückblenden in ein früheres Leben, in dem auch der Sonnenbrillen-Jinpa schon einmal aus Rache zum Mörder wurde? Der Film gibt keine Antwort, er ermöglicht Fragen. Obschon der Sex, den Jinpa auf seinen Touren regelmäßig ansteuert, ein Teil seines sorgsam verheimlichten Lebens ist, versagt sich ihm die Lust. Ein Mord wird geschehen, und er weiß es.

Mitten im schwarzweiß, grau und grauer gehaltenen Film tauchen Farben auf: Geier in großer Zahl, glühend im Kupfer einer untergehenden Sonne, stürzen sich auf eine Leiche, die ihnen von einem Mönch in rostroter Robe dargeboten wird. Ein Mann, der weder tot noch am Leben zu sein scheint, weder jung  noch alt, folgt dem roten Getümmel in die Fluchtlinie des Bildes. Das tibetische Bestattungsritual, den Körper gezielt der Zerstörung in Gestalt heiliger Geier auszusetzen, zeugt von Akzeptanz. Es ehrt die Vergänglichkeit des Körpers und die Unsterblichkeit des Geistes. Es lehrt die Einheit aller Materie. Doch was ist, wenn einer, der nicht in dieses Ensemble gehört, vor der Zeit in den Übergang stolpert, der im Buddhismus „Bardo“ genannt wird?


Mit jeder Vision zerfällt Jinpas Wirklichkeit. Bislang ist es dem Mann, der Tag und Nacht seine dunkle Sonnenbrille trägt, geglückt, sich aus dem Leben der Anderen herauszuhalten. Auf der Suche nach seinem unheimlichen Doppelgänger erlebt er die Gleichgültigkeit eines besetzten Landes. Keiner, dem der andere, rachsüchtige Jinpa begegnet ist, reagiert mitleidvoll. In einer surrealen Szene erlebt der Lastwagenfahrer, wie sich die Besucher der einzigen Kneipe weit und breit über Nichtigkeiten zerstreiten. Auch hier öffnen sich dem Betrachter, der durch Jinpas Augen sieht, buchstäblich andere Dimensionen. Ist das wirklich passiert, dass sich die Neider und die Säufer in Jinpas Beisein gerade halbtot geprügelt haben? Im Halbdunkel der höhlengleichen Kneipe tauchen Gesichter auf, deren Körper zu fehlen scheinen. Geister? Ahnen?

Durstige Seelen sind sie alle, die sich auf der Suche nach dem Mörder begegnen. Wie zyklisch ihr Kreisen ist, wie deutlich der Hinweis auf die Auslösung oder Auflösung von Karma, zeigt sich im Abspann des Films. Während die Bilder noch laufen und die Hoffnung auf das Ende des Blutvergießens überwiegt, denn Jinpa bedeutet im Tibetischen „Großmut“, blendet Pema Tseden ein tibetisches Sprichwort ein:

If I tell you my dream, you might forget it.
If I act on my dream, perhaps you will remember it.
But if I involve you, it becomes your dream too.”

Information

Festivals

"Tel Aviv On Fire" von Sameh Zoabi hat beim Filmfestial Venedig 2018 den INTERFILM-Preis zur Förderung des interreligiösen Dialogs gewonnen. Der Goldene Löwe ging an "Roma" von Alfonso Cuarón.