Über Kindliche Sichtweisen und das, woran man glaubt, im Film ZUCKERSAND beim SCHLINGEL 2017


Die Ökumenische Jury von SIGNIS und INTERFILM war 2017 zum zweiten Mal beim Filmfestival Schlingel präsent. Auf dem 22. Internationalen Filmfestival wurden vom 25.9. bis 1.10.2017 158 Filme gezeigt und 19 Schlingelpreise im Gesamtwert von 64.000 Euro vergeben. Die Ökumenische Jury verlieh ihren Preis an den brasilianischen Film „Auf Rädern“ (2017) und sprach dem hier vorgestellten deutschen Film „Zuckersand“ (2016) eine lobende Erwähnung aus.


„So ein schönes Gefühl im Bauch“, sagt der zehnjährige Fred, als er mit seinem besten Freund mit seiner Mutter betet. Es ist ihm fremd, aber es zieht ihn an. Er wächst 1979 in Falkenwerder im deutsch-deutschen-Grenzgebiet auf. Dort, wo die Hunde scharf gemacht werden und der Vater als Grenzbeamter auch mal Kirschen mit nach Hause bringt. Das Konforme mit dem System, was seine Familie ausmacht („Wollt ihr, dass wir in Eisenhüttenstadt wohnen?“) steht im Gegensatz zur Familie seines besten Freundes Jonas. Als Teil der religiösen Friedensbewegung entscheidet die Mutter, mit Jonas auszureisen. Und damit ist nicht nur die Frage nach einem Bruch mit dem System angesprochen, sondern auch der Bruch einer Freundschaft. Einer so fein gezeichneten Freundschaft von Kindern, die sich entscheiden Blutsbrüder zu werden: „Ein Blut, nicht Ostler und Westler“ schwören sie sich nach dem Freundschaftsakt am See, während ihre Füße im Wasser baumeln.

Das Drama „Zuckersand“ von Dirk Kummer schafft es, einen Film aus Sicht der Kinder und mit Blick auf Kinder zu zeigen, ohne dabei sentimental oder „ostalgisch“ zu sein. Er ist ganz unterschiedlich lesbar: als Film über das Aufwachsen in einem politischen System, als Film über eine grenzenlose Freundschaft, ein Film über Übergänge und Wechsel. Aber vor allem als Film über die Frage, woran man eigentlich glaubt. Als man die Mutter nach der tragischen Ausreise alleine mit dem Koffer den Aufgang zum Westteil der Stadt hochgehen sieht, ist alles verschwommen. Wie der Bumerang zurückkommt, den Freds Nachbar Katschmarek mitbringt und durch die Luft segeln lässt, erhält auch Fred seinen Brief an Jonas in Westberlin zurück. Ganz alleine sitzt er in einer Bankreihe des Stadions der Sportschule Potsdam mit seiner Hoffnung, seinen Freund beim Reisen wieder zu sehen.

Der Einzelne im System ist wie beim Flug des Bumerangs immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Auf seine eigenen moralischen Koordinaten, auf die Frage, was es heißt, richtig zu handeln. Als die Jungen den Bumerang  einmal über den Grenzstreifen werfen, kommt er nicht zurück. Und das gemeinsame Loch im Zuckersand, das sie in einer verlassenen Fabrikhalle buddeln, um den Weg auf die andere Seite des Globus in Australien zu ebnen, wo sie sich wiedersehen wollen, wird ihre Hoffnung zwar begraben, aber nicht beenden.

Kinder haben einen eigenen Blick auf die Welt. Ihre Fragen verweisen auf das Wesentliche, auf das, woran wir uns schon so gut gewöhnt haben, obwohl es falsch zu sein scheint: das Bürokratische, das Menschenfeindliche, den Systemzwang. „Was ist das, eine Seele?“, fragt einer der Jungen. „Was ist ein Joch?“ der andere. „Weiß nicht, antwortet der Freund darauf, „aber die sagen das doch immer“. Kinder als Protagonisten verweisen auf den Anfang, auf den Blick auf das Wesentliche. Ihnen geht es - trotz aller Systemfehler - darum, zusammen zu sein, zu spielen, gemeinsam zu entdecken und sich in der Freundschaft des anderen wiederzufinden. Sie beweisen Solidarität, suchen Wahrheit und fordern Gerechtigkeit – ohne dass es in diesem Film idealisiert wird. In einer Szene hat Jonas seinen Turnbeutel verloren und Fred leiht ihm die Hälfte seiner Sachen. Und so teilen sie sich den anschließenden Ärger, damit der andere ihn nicht ganz alleine trägt.

In Zeiten des Umbruchs, dem Zulauf radikaler Parteien und gesellschaftlicher Spaltungen verweisen diese Kinder auf den Blick auf das Wesentliche. Sie können viele Wörter noch nicht aussprechen und manchmal sind ihre Eltern ihnen fremd. Aber sie glauben an ewige Freundschaft: „Wenn einem was wirklich wichtig ist“, sagt Fred, „dann vergisst man es nicht“. Er wird seinen Freund nicht vergessen, sie sind nicht wirklich trennbar. Aber der Zuschauer steuert mit dem Film auch auf die unbequeme Frage zu, ob wir als Einzelne, aber auch im System immer wissen, was uns eigentlich wichtig ist.

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Zum 2. Mal nahm eine Ökumenische Jury am Filmfestival SCHLINGEL in Chemnitz teil. Sie vergab ihren Preis an den brasilianischen Film "Auf Rädern" (Sobre rodas) von Mauro D'Addio.