Die 56. Nordischen Filmtage Lübeck

Suche nach neuen Anfängen. Eine Festivalauswahl von Jurymitglied Mirko Klein
1001 Gramm

1001 Gramm


„Neue Anfänge“ war 2014 das Thema der nordischen Filmtage Lübeck. Dieser rote Faden war in allen 18 Filmen, die die INTERFILM-Jury zu bewerten hatte, nicht zu übersehen. Drei Roadmovies erzählten vom Weg in ein neues Leben. Auch die Themen Erwachsenwerden und Wirtschaftskrise klangen mehrfach an.

Hier ist eine Übersicht über die wichtigsten Filme des Festivals:

 

Höhere Gewalt (Ruben Östlund, Schweden 2014)

Im Original trägt der Film den weit weniger pathetischen Titel „Tourist“ und ist Schwedens Vorschlag für den Oscar 2015.

Die Schlüsselszene des Films, auf die sich der deutsche Titel bezieht, ereignet sich in den französischen Alpen auf der Terrasse eines Restaurants. Hier sitzt die schwedische Familie, die im Mittelpunkt des Films steht, gerade beim Essen. Eine kontrollierte Lawine rauscht den gegenüberliegenden Abhang hinab. Fasziniert schauen die Leute zu. Doch plötzlich breitet sich Panik aus, denn der aufgewirbelte Schnee der Lawine erreicht die Terrasse und hüllt alles in undurchsichtiges Weiß. Im Angesicht der anrollenden weißen Wolke greift die Mutter, Ebba, nach ihren beiden Kindern Vera und Harry, um bei Ihnen zu bleiben und sie zu schützen. Der Vater Tomas hingegen schnappt sein Smartphone und rennt davon.

© Alamode Film

Nach diesem Ereignis ist der Familienfrieden dahin, auch wenn alle zunächst versuchen, so zu tun, als wäre nichts gewesen. Ebba ist enttäuscht von ihrem Mann, Tomas fühlt sich in seiner Männlichkeit angegriffen und gekränkt. Zahlreiche Gespräche mit Freunden und untereinander folgen. Der Film entwickelt ein intensives Beziehungsdrama, indem mehr und mehr deutlich wird, dass es vor allem das vorausgesetzte aber nun widerlegte Familienbild ist, das den Konflikt antreibt. Bereits die allererste Szene von „Höhere Gewalt“ zeigt dieses gewünschte Familienbild: Ein Urlaubsfoto, auf dem alle lachen und auf dem Papa selbstverständlich der Größte ist, wenn er seiner Frau den Arm auf die Schulter legt. Doch dieses Bild ist eben nicht echt, es ist gestellt, wie alle Familienbilder aus dem Urlaub. So ist es auch nicht die richtige Lösung, das gestellte Bild irgendwie wiederherzustellen. Viel besser wäre es, die eigenen und die fremden Schwächen anzunehmen und mit Ihnen zu leben: Männer sind nicht immer Helden und Frauen sollten aufhören, das zu fordern.

Der Regisseur Ruben Östlund stellt seinem Plädoyer für ein echtes und natürliches Familienbild zahlreiche technische Errungenschaften entgegen, die er immer wieder bewusst in Szene setzt. Trotz Bergen und Schneelandschaft, in dieser Tourismus-Welt ist alles voller Technik. Selbst die Lawine ist nicht „echt“ denn sie ist ebenfalls von Menschen gemacht. Am Ende steigen die Touristen aus dem Bus aus, der sie zurück zum Flughafen bringen sollte, und gehen den Weg lieber zu Fuß: Ein Lebensweg, der weniger Technik und weniger Künstliches fordert und in Anspruch nimmt, wäre wohl in vieler Hinsicht besser.

Internetlinks:

„Höhere Gewalt“ auf imdb.com: http://www.imdb.com/title/tt3630276/?ref_=nv_sr_1
Deutscher Trailer auf YouTube: http://www.youtube.com/watch?v=iCOLG1RtgGA

 

Life in a Fishbowl (Straße der Hoffnung, Baldvin Zophoniasson, Island 2014)

Der Gewinner des NDR-Jury-Preises auf den Nordischen Filmtagen ist eine isländische Auseinandersetzung mit der Finanzkrise. Episodenhaft werden drei Biografien gezeigt und miteinander verwoben.

Da ist Sölvi, ein junger Familienvater am Beginn einer aufstrebenden Karriere als Banker. Eik ist eine alleinerziehende Kindergärtnerin, die mit ihrem Kontostand weit in den Dispokredit gerutscht ist. Móri ist ein alkoholabhängiger Dichter und Autor. Alle drei haben Ihre dunklen Geheimnisse. Alle drei suchen ihren eigenen Weg aus der Finanzkrise. Eik prostituiert sich, Sölvi baut auf einer mehrtägigen Sexparty seine Geschäftsbeziehungen aus, Móri könnte sein altes Haus verkaufen, um sich einen ersehnten Traum zu erfüllen, aber er tut sich schwer damit, sich von seiner Vergangenheit zu lösen.


In allen drei Geschichten sind es bezeichnender Weise immer die Kinder, die die Leidtragenden sind. Bei all der Sorge um das Geld und dem krampfhaften Versuch, ökonomische Sicherheit zu gewinnen, gerät die nächste Generation völlig aus dem Blick. Der Film spitzt diesen allgemeingültigen Vorwurf in seinen Episoden dramaturgisch zu: Eiks Tochter gerät in Lebensgefahr.

Der Film ist eine Mahnung: „Lasst die Kinder nicht die Verlierer eurer Finanzkrise sein!“ Das mag kitschig klingen, aber „Straße der Hoffnung“ führt durch eine so düstere Landschaft aus Arroganz, Resignation und ökonomischen Zwängen, dass der Film im Ganzen keineswegs so simpel wirkt wie seine Botschaft. Den Hauptdarstellern gelingt ein Drahtseilakt, der zwischen dem Mitgefühl und dem Unverständnis des Publikums balanciert. Man muss ihm zu Gute halten, dass er vor allem in die Zukunft denkt. Während sich das amerikanische Kino noch immer daran abarbeitet darzustellen, wie es überhaupt zur Finanzkrise kommen konnte (wie z.B. in The Wolf of Wall Street), oder düstere Visionen von Klassenkampf und Gesellschaftsspaltung zeichnet (wie z.B. in „Die Tribute von Panem“) findet dieser isländische Film einen hoffnungsvollen Weg aus der Krise heraus.

Der INTERFILM-Jury stellte sich in der Diskussion die Frage, ob Geld die Lösung für das Problem mit dem Geld sein kann, oder ob auch eine andere Lösung denkbar wäre. Wahrscheinlich ist letzteres ein frommer Wunsch und ersteres deshalb auch naheliegender.

Internetlinks:

„Straße der Hoffnung“ auf imdb.com: http://www.imdb.com/title/tt2172554/?ref_=nv_sr_2
Trailer auf YouTube: http://www.youtube.com/watch?v=n61wmuQsIlI

 

Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach (Roy Anderson, Schweden 2014)

Die Bewertungskriterien für INTERFILM-Jurys sehen vor, dass Filme von hohem künstlerischem Wert ausgezeichnet werden sollen. Wäre dies das einzige Kriterium, hätte dieser Film sicher den Preis bekommen müssen. In einer ganz eigenen Ästhetik zeigt Roy Anderson in einer Reihe absurder Szenen, sowohl komisch als auch beklemmend, was es bedeutet ein Homo Sapiens zu sein.

Der Film ist der letzte Teil einer Trilogie. Der Titel bezieht sich auf die erste Szene. Zu sehen ist ein Naturkundemuseum. Ein Mann betrachtet eine ausgestopfte Taube auf einem Zweig in einer Glasvitrine. Dann wendet er sich dem nächsten Ausstellungsstück zu. Schließlich fordert Ihn seine Frau auf, weiterzugehen. Die Szenen des Films erscheinen genauso wie die Exponate im Naturhistorischen Museum. Sie haben etwas sehr Künstliches. Den Figuren fehlt es an Lebendigkeit. In vielen Szenen gibt es ein Innen und ein Außen, oft geschehen wichtige Dinge vor oder hinter einer Glasscheibe. Die symbolischen Handlungen werden in jeder Szene nur aus einer einzigen Einstellung und ohne Schnitt gezeigt. Die Szenen wirken wie Gemälde in denen man den Eindruck gewinnt, dass jeder Stein, jeder Riss im Putz und jeder Grashalm, genau da platziert wurde, wo er sein soll.


Die Handlung dreht sich vor allem um zwei Scherzartikelverkäufer, die sich einer ernsten Mission angenommen haben: Es wird zu wenig gelacht in der Welt! So bemühen sie sich, den Menschen wieder etwas mehr Fröhlichkeit beizubringen. Doch sie wirken wenig überzeugend und bleiben meistens erfolglos, denn besonders fröhlich sind sie selber nicht. Die Menschen in Roy Andersons Exponat-Szenen führen alles in allem ein seelenloses und wenig verantwortungsbewusstes Leben. Nur in einer Szene fragt sich einer der beiden Scherzartikelverkäufer unter dem Eindruck eines fürchterlichen Alptraums, wer hier eigentlich die Verantwortung trägt. Er verlässt sein Zimmer und ruft auf dem Flur des Wohnhauses um Hilfe. Doch die einzige Antwort ist die, dass es gerade mitten in der Nacht ist und deshalb nicht die Zeit dafür sei, Fragen zu stellen. Für gewöhnlich haben die Menschen besseres zu tun, als ernsthaft nach Verantwortung zu fragen: Sie erkundigen sich gerne am Telefon nach dem Befinden des Anderen, sie suchen ihr persönliches Glück und verpassen doch, was wirklich wichtig ist.

Eine „frohe Botschaft“ hat der Film nicht. Theologisch gesprochen beschränkt er sich darauf, ein Sündenspiegel zu sein und Buße zu fordern. Dies aber tut er glaubwürdig und vehement. Der Film gewann bereits in Venedig den Goldenen Löwen. Auf den Nordischen Filmtagen ging er leider leer aus.

Internetlinks:

Der Film auf imdb.com: http://www.imdb.com/title/tt1883180/?ref_=nv_sr_1T
railer auf YouTube: http://www.youtube.com/watch?v=h7pna4laaAk

 

Hallohallo (Maria Blom, Schweden 2013)

Die nordischen Filme sind tendenziell von einer eher düsteren Grundstimmung geprägt. Den Filmemachern scheint es lieber zu sein, Probleme zu beschreiben, als die Zuschauer glücklich zu machen. „Hallo Hallo“ hingegen war auf den Nordischen Filmtagen ein Film, der einem das Herz aufgehen ließ. Wäre es nur danach gegangen, welcher Film eine „frohe Botschaft“ vermittelt, wäre „Hallohallo“ des Preises mehr als würdig gewesen.

© Memfis Film, Peter Widing

Der Film erzählt von Disa, einer schüchternen, alleinerziehenden Krankenschwester. Noch immer versucht sie heimlich ihrem Mann zu gefallen, wenn sie sich mit ihm zur Übergabe der Kinder trifft, noch immer wird sie von Ihren Eltern bevormundet und nicht ernstgenommen. Die neue Frau ihres Ex-Mannes ist viel selbstsicherer als sie und auch auf der Arbeit wird sie nur herumkommandiert. Sie träumt davon, Kampfsport zu lernen und wieder mit ihrem Exmann zusammen zu kommen. Doch daraus wird nichts: Ihr Mann und seine neue Frau erwarten ein Kind.

Disas Selbstbewusstsein bekommt einen plötzlichen Schub, nachdem sie bei ihrer Arbeit einer keifenden Seniorin im Krankenbett spontan Wasser über den Kopf gegossen hat. Disa ist zunächst erschrocken über ihre Tat, doch zwischen ihr und der Patientin entwickelt sich im weiteren Verlauf eine Freundschaft. Der Film zeigt auf herzerwärmende Weise und doch ohne jeden Kitsch, wie die große Kraft zur Veränderung der Protagonistin von der allerschwächsten Person im Film ausgeht. Disas Attacke mit dem Wasser auf die alte Mary erscheint auch gar nicht als ein Herauslassen von Frust an einer, die sich nicht wehren kann. Es erscheint vielmehr als ein Zugeständnis an die Macht der Alten, die eigentlich jeglicher Selbstbestimmung beraubt ist. Zuvor hatte Disa ihr Schimpfen nämlich stets mit Freundlichkeit ignoriert und übergangen. Doch dann erlebt die alte Mary, dass sie mit ihren Worten doch noch etwas bewegen kann. Disas Reaktion, ihr Wasser über den Kopf zu schütten, nimmt die keifende Patientin letztlich ernster, als ihre vorangegangene ignorante Freundlichkeit. Das ebnet den Weg für die Freundschaft der beiden Frauen und für Disas Veränderung.

Auch in den anderen Beziehungen ihres Lebens gewinnt Disa nun an Selbstvertrauen: Gegenüber dem Nachbarn, dem Exmann und seiner Frau, den Eltern, den Freunden. Dabei zeigt der Film keine perfekten Problemlösungen. Die wären zwar dramaturgisch denkbar, aber doch wenig glaubwürdig. Disa bleibt von Anfang bis zum Ende eine durchweg normale Person ohne große Karriere. Besonders sympathisch ist, dass der Film an keinem Punkt einem Rachegedanken Raum verschafft. Das gemeinsame Glück des Exmannes

und seiner so selbstbewussten Frau muss keinen Knick bekommen, um Disa aufzubauen. Disa lernt, den anderen ihr Glück nicht zu neiden, sondern ihre eigene Stärke zu finden und den alltäglichen Ungerechtigkeiten zu widerstehen.

„Hallohallo“ gewann auf den nordischen Filmtagen den Publikumspreis, der durch Stimmabgabe der Kinobesucher nach dem Film ermittelt wurde.

Internetlinks:

„Hallo Hallo“ auf imdb.com: http://www.imdb.com/title/tt3462892/?ref_=fn_al_tt_1
Trailer auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=uBSuGi2uKvw

 

1001 Gramm (Bent Hamer, Norwegen 2014)

Die INTERFILM-Jury vergab den Filmpreis schließlich an den Film, der von allem etwas bot: eine künstlerisch herausragende Arbeit, eine positive Botschaft und ein Bibelzitat, welches der Regisseur Bent Hamer auch in seinem Dankeswort bei der Preisverleihung noch einmal aufgriff: „Urteilt nicht, damit ihr nicht verurteilt werdet.“

Das genaue Abwägen, das Bemessen und Beurteilen ist der ganze Lebensinhalt von Marie. Sie ist Wissenschaftlerin am Nationalen Meteorologischen Institut in Norwegen. Der größte Schatz des Instituts ist das Original-Kilo der Norweger. Bereits Maries Vater hat sich mit den Messungen rund um dieses Ur-Kilo beschäftigt. Maries Leben scheint genau bemessen zu sein: Der Tagesablauf ist genau getaktet, es gibt keine Überraschungen, keine Veränderungen, keine Spontaneität.


Doch Marie muss die Erfahrung machen, dass nicht alles berechenbar ist: Als Ihr Vater stirbt gerät ihr bisher so vorhersehbares Leben aus dem Takt. Ungeahnte Fragen tun sich auf: Welchen Wert hat das Leben? Was bleibt unter dem Strich der Lebensbilanz übrig? Der Film macht das Original-Kilo zum Symbol für das wissenschaftlich Messbare und Kalkulierbare überhaupt: Es gibt noch etwas darüber hinaus. Etwas, dass sich den Kategorien von Messbarkeit und Erklärbarkeit entzieht: Ein Gramm mehr! Marie muss nach dem Tod ihres Vaters zu einer internationalen Versammlung nach Paris reisen, wo Wissenschaftler aus aller Welt die Original-Kilos ihres Landes messen und vergleichen.

Der Film wirkt in Einstellung und Schnitt sehr exakt und deutlich. Die Ästhetik der Präzision steckt in jeder Szene. Regisseur Bent Hamer gelingt es, die verkopften Wissenschaftler zwar mit feinfühliger Ironie, aber dennoch nicht abschätzig darzustellen. Wissenschaftliche Erkenntnisse haben ihren Wert, aber sie haben, wie alles andere auch, ihre Grenze. In „1001 Gramm“ sind es der Tod und die Liebe, die sich den Kategorien von Messbarkeit entziehen und die den Leben ein unkalkulierbares Plus geben, ein Plus, das den Wert des Lebens steigert, wenn auch vielleicht nur um ein einziges ungeahntes Gramm. Parallel zu dem Symbol des Kilos und des einen Gramms mehr entfaltet der Film in seiner Handlung eine treffliche und poetische Begegnung von Wissenschaft und Metaphysik.

Internetlinks:

1001 Gramm auf imdb.com: http://www.imdb.com/title/tt3346824/?ref_=nv_sr_3
Deutscher Trailer auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=NuoPONMFO2c