Die Folgen einer fatalen Globalisierung

Das 36. Filmfestival Karlovy Vary. Von Heike Kühn
Chico (ibolya Fekete)

Preisträger der Ökumenischen Jury Karlovy Vary 2001: "Chico"


Der Mann sieht aus wie ein Hausmeister, der schon in Kafkas Schloß schlechte Dienste geleistet hat. Aber der Held der sarkastischen Trailer, die das 36. Internationale Filmfestival von Karlovy Vary den Beiträgen des Offiziellen Wettbewerbs voranstellte, ist ein Filmvorführer. Die Organisation der tschechischen Filmvorführer mochte noch so heftig protestieren, der fiktive Kollege erfreute das Publikum dennoch mit den Minidramen einer schicksalsergebenen Wurschtigkeit, die das Erhabene der siebten Kunst und die Niederungen des Alltags aufs Schönste verbanden. Vom tschechischen Sinn fürs Absurde zeugt die Pflanze, die das letzte Blatt abwirft, während der Vorführer sich an einem Naturfilm erfreut. Das wahre Leben ist nahe wie die Platzanweiserin, die neben ihm verblüht. Aber wer kann schon soviel Nähe ertragen? Ganz sicher nicht die Protagonisten des deutschen Wettbewerbsbeitrags.

Zwei Männer und zwei Frauen, die als Freunde, Geliebte und Vertraute die Möglichkeiten wechselseitiger Enttäuschungen ausgereizt haben, gehen in Stefan Jägers Film Birthday im Streit auseinander. Jahre später feiern Tamara und Claudio, Harald und Bibiana dennoch gemeinsam Haralds dreißigsten Geburtstag. Harald könnte seine Homosexualität eingestehen, ließe man ihn ausreden. Claudio ist immer noch in Tamara verliebt, demonstriert aber stattdessen, wie man einer Weinflasche den Hals bricht. Tamara hat eine Karriere hinter sich, die das Tragen asymmetrisch geschnittener Oberteile erfordert. Bibiana spricht wie immer davon, sich umzubringen: Und alle sind sie so damit beschäftigt, ihr Ego zu hätscheln, daß der Zerfall dieser Viererbande weitaus weniger verwundert als ihr Bedürfnis, sich bei weiteren symbolträchtigen Geburtstagen auf die Nerven zu gehen.

Die Chance, den kollektiven Verdrängungsprozess der deutschen Realitätsflüchtlinge zu analysieren, lässt sich der 31-jährige Regisseur in einem Maß entgehen, das peinliche Distanzlosigkeit zu den eigenen Figuren offenbart. Pseudodokumentarische Interviewblöcke, in denen die Narzissten tief in die Kamera blicken, während sie einen einsamen Gedanken drehen und wenden als sei er ein Spanferkel, das vorm Austrocknen bewahrt werden muß, bestätigen nur, daß es mit dem Denken in Birthday hapert. Als deutscher Festivalbesucher hatte man nach diesem verbalen und visuellen Gestammel seine liebe Not, den besorgten Gastgebern zu versichern, daß es auch hier zu Lande üblich sei, in ganzen Sätzen zu reden.

Noch befremdlicher erschien im Internationalen Wettbewerb nur die Zulassung des tschechischen Films Angel Exit von Vladimír Michálek, der allein durch eine keineswegs experimentell gemeinte Konfusion auffiel. Park Chul Soos Bongja, der südkoreanische Mitstreiter um den in Karlovy Vary verliehenen Christal Globe, nahm sich angesichts einer sorgfältig edierten Retrospektive zum Neuen Koreanischen Film aus wie ein nordkoreanischer Sabotageakt. War es also ein durch und durch enttäuschender Jahrgang, den das Festival präsentierte ? Das wäre zuviel gesagt. Aber auffällig viele Filme, die etwas zu sagen haben, sind nicht mehr in der Lage, ihr Material zu organisieren. Zu gekünstelt, zu zerquält vom Anspruch auf Allgemeingültigkeit vermitteln diese Filme die Perspektive einer fatalen Globalisierung. Ihr Motiv stammt aus der eigenen Kultur, aber ihre Filmsprache ist ohne Selbstbewußtsein: Sie beugt sich den Bedürfnissen des westeuropäischen und amerikanischen Marktes, der vom bizzaren Schicksal an den Rändern Europas bezaubert, aber bloß nicht durch Eigenwilligkeit befremdet werden soll.

Die bulgarisch-französische Coproduktion Touchés par la grâce ist ein hoch reflektiertes Beispiel dieser Doppelzüngigkeit, entkommt aber dem Verhängnis, sich Europa im amerikanischen Tempo zu erklären, dennoch nicht. Dabei hätte Peter Popzlatevs Tragikomödie alle Vorraussetzungen, um als bissigste Parabel postkommunistischer Wahrnehmungsstörungen in die Filmgeschichte einzugehen. 100 Kilometer vom Kosovo entfernt, in einer Grauzone zwischen Europa und Asien, liegt das Dorf der 18 Seelen, in dem Muslime und Christen friedlich zusammenleben – wenn auch einige von ihnen in der wechselvollen Geschichte des Landstrichs so oft umgetauft wurden, daß sie sich kaum ihres ursprünglichen Namens erinnern.

Ein Mann verkörpert die Schizophrenie der bulgarischen Identität in Personalunion. Als Bürgermeister, Lehrer und Postbeamter lebt Vladimir nicht nur im Sinne der vormals politisch angeratenen, nun zwanghaft gewordenen Persönlichkeitsspaltung, sondern betrügt sich in wechselnder Funktion auch noch mit seiner eigenen Frau Maria. Ein französischer Soziologe, der multiethnische Studien betreibt, komplettiert die herrliche Groteske, in der alle bis auf die ungeteilt leidende Maria und den dreifachen Vladimir, als Doppelgänger umgehen. „Sind wir reif für Europa ?“ will Vladimir von seinem französischen Gast wissen, und erklärt das Dörfchen kurzerhand zur französischen Enklave. Ein Film, der die deutsche Nabelschau durch Weitsicht beschämt. Aber leider im ersten Teil so hastig abgespult, als müsse die anhaltende Geschichte des osteuropäischen Identitätsverlusts sich hetzen wie ein Rap-Song.

Wo sich Aussagekraft, Phantasie und Formwillen so selten glücklich ergänzen wie in Jean Pierre Jeunets Le fabuleux destin d`Amélie Poulain, konnte der Preis der Internationalen Jury nicht ausbleiben. Filme, die auch nur halb soviel Qualitäten auf sich vereinen konnten wie Jeunets feinsinniges Spiel mit den Erwartungserhaltungen des Kinos und der Liebe, zogen einen regelrechten Preisregen auf sich, etwa Cześć Tereska von Robert Glińsky. Tatsächlich beginnt Hallo Tereska verheißungsvoll wie ein Film von Krzysztof Kieslowski, des verstorbenen Meisters einer radikal verdichteten Filmerzählung. Frisch gefirmte Jungen und Mädchen singen vorm Altar einer katholischen Kirche ein Loblied auf Mama und Papa. Schnitt. Und da sind sie, die Gepriesenen. Auf den Balkonen einer Plattenbaussiedlung tigern schmerbäuchige Väter hin und her, abschätzig, lauernd, erpicht auf die Schande der anderen. Die lässt nicht auf sich warten.

Nicht, daß sich die Eltern der siebenjährigen Tereska wesentlich von ihren Nachbarn unterscheiden. Auch in ihrem Fernseher laufen Game-Shows, mit denen die Polen ihre Europatauglichkeit beweisen, eingereiht in die Nationen, die es lieben sich vor laufender Kamera für Geld lächerlich zu machen. Erst die Geburt einer kleinen Schwester, die bevorzugt wird, entlässt Tereska in eine Jugend voller Gleichgültigkeit. 14-jährig erkämpft sie sich eine Ausbildung in einer Schule für Schneiderhandwerk, aber der Zuschnitt für ein neues Leben mißlingt. Von der in jeder Hinsicht erfahrenen Renata lässt sich Tereska zum Klauen und Trinken anleiten. Bald darauf, das ist die Schwäche eines Films, der von der Gesellschaftsanalyse zum schwarz-weiß grundierten Moralaposteltum überläuft, ist Tereska desillusioniert, gewaltsam entjungfert und für die Welt verloren.

Zurückgewonnen für eine Welt, in der Ideologien alle Heilsversprechungen eingebüßt haben, wird der vielsprachige Held des ungarischen Wettbewerbbeitrags Chico. Halb Jude, halb Katholik ist der Protagonist, der in der Jugend zur Gänze Kommunist ist und als Zeuge des kommunistischen Sündenfalls von Osteuropa bis Jugoslawien vollständig desillusioniert, ein wandelnder Spaltprozeß. Wie ihr bulgarischer Kollege hat sich die Regisseurin Ibolya Fekete eingelassen auf ein historisches Gedächtnis, das über den eigenen dreißigsten Geburtstag hinausreicht. Dafür wurde Chico der Preis der Ökumenischen Jury zuteil und die Auszeichnung der Internationalen Jury für die beste Regie.