Festivalbericht Karlovy Vary 2021. Von Angelika Obert

Sind die Tschechen nicht berühmt für ihren besonderen Humor und auch für ihre besondere Plakatkunst? Das raffiniert einfache Logo des 55. Filmfestivals in Karlovy Vary stellte es unter Beweis: Auf den ersten Blick waren es bloß zwei schwarz-weiße Glupschaugen unter strengen Augenbrauen, die uns in vielfältigen Mustern begegneten – aber nein, bei näherem Besehen war das auch die 55!

Endlich – Covid-bedingt mit über einjähriger Verspätung - herrschte wieder Festival-Stimmung in Karlovy Vary und die Freude darüber war allenthalben spürbar. Auch wenn es immer wieder regnete – es wurde gefeiert bis tief in die Nacht und die Maskenpflicht zumindest am Eröffnungsabend gänzlich vergessen. Passt ja auch nicht, eine FFP2-Maske zum Abendkleid! Und alle trugen ja das schwarze Bändchen um‘s Handgelenk, das den Zutritt nur den Geimpften und Getesteten gewährte, und an den ‚Arbeitstagen‘ des Festivals hielten sie sich dann auch an die Maskenpflicht sogar während der Vorstellungen.

Zwölf Filme waren im Wettbewerb und in gewisser Weise setzte gleich der erste das Vorzeichen für den Gesamteindruck der Auswahl: Es gab viel präzise Beobachtung, eher wenig starke Emotionen.

Im Debütfilm ‚Le Prince‘ von Lisa Bierwirth ist die Liebesgeschichte zwischen einer Frankfurter Kuratorin und einem Flüchtling aus dem Kongo Anlass zu zeigen, wie sehr die Lebenswelten der wohlmeinenden deutschen Intellektuellen und der afrikanischen Migranten-Community auseinanderdriften, wie fremd man sich trotz aller Bereitwilligkeit bleibt. Während die einen sich mit Karriereproblemen herumschlagen, müssen die andern jenseits von bürgerlicher Ordnung irgendwie durchkommen. Der Film findet dafür starke Szenen. Es bleibt nur leider die Liebesgeschichte unterbelichtet, die das Ganze tragen soll.  

‚Die wirklichen Probleme haben die andern‘- so fasste Anita Uzulniece am letzten Abend ihre Eindrücke vom Wettbewerb zusammen. So habe auch ich es wahrgenommen, wobei genau genommen die Probleme ‚der anderen‘, d.h. der Migranten und Geflüchteten, nur in zwei Filmen thematisiert wurden. Viel öfter ging es ging es um die eher ‚unwirklichen‘ Problemen einigermaßen gut situierter Leute im sicheren Europa. Einen besonders starken Eindruck in Sachen ‚Unwirklichkeit‘ hinterließ dabei der Film ‚Nö‘ von Dietrich Brüggemann, in dem er in sarkastischen Episoden das Unbehagen der jungen Erwachsenen aufs Korn nimmt: ihre Entschlusslosigkeit, ihre Ängste, ihre Ratlosigkeit gerade angesichts allzu vieler Optionen und Erfolgsrezepte. Dass Brüggemann mit seiner beißenden Kritik so falsch nicht liegt, bewies der tschechische Dokumentarfilm ‚Every Single Minute‘, der ein junges, offenbar sehr wohlhabendes Ehepaar dabei beobachtet, wie es von morgens bis abends nichts anderes tut, als den kleinen Sohn nach einer bestimmten Methode so zu trainieren, dass aus ihm auf jeden Fall ein ‚Gewinner‘ wird – sei es als Leistungssportler oder als Nobelpreisträger. Am Ende gewinnt der Junge auch: im Sportkampf der Vierjährigen. Wohingegen der andere, sehr gut gemachte Dokumentarfilm des Wettbewerbs ‚At full throttle‘ vom schweren Leben eines notorischen Lebensverlierers handelt und ihn am Ende seltsam unkritisch im rechtsradikalen Milieu zeigt.

Dass auch ‚Gewinner‘ sich auf dünnem Eis bewegen, war das Thema des amüsanten, ebenfalls tschechischen Films ‚Bird Atlas‘, in dem es um das bittere Ende eines Finanz-Patriarchen geht, und des englischen One-Shot-Films ‚Boiling Point‘, der vom unendlichen Stress eines Gourmet-Kochs erzählt.

Mit den Herausforderungen des Berufslebens sehr viel ernsthafter und glaubwürdiger befasst sich dagegen ‚The Staffroom‘, der Debütfilm der kroatischen Regisseurin Sonja Tarokić. Hier tritt eine junge Frau ihre erste Stelle als psychologische Beraterin in einer Grundschule an und gerät inmitten der eingeschworenen Cliquen und lang geübten Machtspiele im Lehrerzimmer immer wieder an Grenzen.

Sie kommt nicht darum herum, sich anzupassen, hört aber auch nicht auf, ihre Integrität zu bewahren. Es ist ein anstrengender Film, der dem Publikum die Schulrealität nicht erspart: beständige Unruhe, unaufhörliches Gewimmel: eine Hommage an alle Lehrkräfte, die sich in dieser aufgeladenen Atmosphäre bemühen, den Kindern gerecht zu werden. Zugleich ein Film, der auch als Parabel für die inneren Spannungen und Zwänge gesehen werden kann, die in jeder Institution herrschen. Die ökumenische Jury, die sich nach der Vorstellung ziemlich erschlagen fand, war sich im Nachhinein doch einig: ‚The Staffroom‘ bekommt eine besondere Empfehlung.

Wirklich ergreifend, auch künstlerisch vollkommen überzeugend war dann am Ende aber doch der Film des serbischen Regisseurs Stefan Arsenijević, der von den ‚wirklichen‘ Problemen der ‚anderen‘ handelte: ‚As far as I can go‘. Inspiriert von einem alten serbischen Epos, in dem ein Prinz unendliche Gefahren besteht, um seine geraubte Geliebte wiederzufinden, erzählt  Arsenijević die Geschichte eines ghanaischen Paares, das auf der Flucht nach Europa in einem serbischen Flüchtlingslager gestrandet ist. Während er bereit ist, in Serbien zu bleiben und auch schon einen Job gefunden hat, kann sie als ausgebildete Schauspielerin sich nicht damit abfinden, keine eigene Aufgabe zu haben. So verschwindet sie eines Tages – und es ist nun an ihm, unendliche Gefahren zu bestehen, um sie wiederzufinden.

Die Poesie einer großen Liebesgeschichte geht zusammen mit bewegend genauen Bildern, die bis in die nächtlichen Geräusche hinein die Realität in den Flüchtlingslagern dokumentieren und die Migrantinnen und Migranten auf ihren Versuchen begleiten, irgendwie weiter und eben auch illegal über die Grenzen zu kommen. Nur die Hauptdarsteller sind hier Schauspieler. Die Verbindung von Dokumentation und Epos gibt dem Film eine ganz besondere Dichte und den Migranten die Würde, die sie verdienen.

Wie von selbst fielen im Gespräch der Ökumenischen Jury die Worte ‚Passionsgeschichte‘ und ‚Exodus‘. Die großen Themen der Bibel waren im Film absichtslos gegenwärtig, was den sehr sympathischen Regisseur dann selbst erstaunte, als er den Preis der Ökumenischen Jury erhielt: „Yes, it is spiritual“, meinte er nachdenklich beim Umtrunk nach der Preisverleihung. Und da wusste er noch nicht, dass ihn am Abend auch der Crystal Globe erwartete und außerdem ein Crystal Globe für seinen Hauptdarsteller und eine besondere Erwähnung für die Kamerafrau. Ich fand das nicht erstaunlich – der Film ist herausragend. Erstaunlich allerdings, dass die Crew in dem großen Rummel danach noch Zeit fand für einen fröhlichen Smalltalk mit der Ökumenischen Jury und wir alle mal einen Crystal Globe in Händen halten durften. 

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"As Far as I Can Walk" von Stefan Arsinijević aus Serbien hat den Preis der Ökumenischen Jury in Karlovy Vary 2021 gewonnen. Der Film wurde auch mit dem Crystal Globe für den Besten Film von der Internationalen Festivaljury ausgezeichnet