Die 63. Filmfestspiele in Cannes - von Julia Helmke, Mitglied der Jury

Die Sturmwelle, die Teile des Strandes wegspülte, die Aschewolke über Südfrankreich und die Abwesenheit manch erwarteter amerikanischer und europäischer Meisterregisseure ließ ein gedämpftes und ‚schwaches’ Cannes erwarten. Und auch nach dem Ende der 65. Filmfestspiele von Cannes blieben manche Journalisten bei ihrer frühen Einschätzung eines eher flauen Jahrgangs.

Aus Sicht der ökumenischen Jury hat es sich dagegen um ein reichhaltiges Jahr gehandelt. Bis zum letzten Tag der Jurysitzung waren noch sechs der 19 Wettbewerbsfilme in der engeren Wahl: „Another Year“ des britischen Altmeisters Ken Mike Leigh, „Chongqing Blues“ des chinesischen Regisseurs Wang Xiaoshuai, „Biutiful“ von Alejandro Gonzalez Iñárritu, „Un homme qui crie“ von Mahamat-Saleh Haroun aus dem Tschad, „Poetry“ von Lee Chang-Dong aus Südkorea und „Les Hommes et les Dieux“ nach der wahren Geschichte über die Ermordung von sieben Zisterzienser-Mönche im Atlas-Gebirge/Algerien im Jahr 1996, und alle sind aus unserer Sicht unbedingt sehenswert und werden zur Diskussion anregen.

Ein Grundthema dieser Filme, wie auch fast aller übriger Filme im Wettbewerb, und soweit gesehen auch in der weiteren Sektion „Un Certain Regard“, stellt dabei die Suche nach der Orientierung dar. Dies ist vielleicht paradigmatisch in einer Zeit, die allerorten von Krise spricht, eine Krisenstimmung wahrnimmt, und das Kino seismographisch dies in Bilder und Geschichten, in Filme transformiert.

Die Suche nach der Orientierung – ein Weg ohne Hoffnung

Orientierung sucht z.B. Uxbal (eindrucksvoll verkörpert von Javier Bardem) in „Biutiful“ des mexikanischen Regisseurs Alejandro G. Iñárritu. Er ist ein Kleinkrimineller mit der Gabe, die Toten sprechen zu hören und sie im Übergang von dieser in eine andere Welt zu begleiten, der als alleinerziehender Vater in den Slums von Barcelona, den Siedlungen illegal arbeitender Migranten immer auf der Suche nach Geld und Zukunft für seine Kinder hetzt, auf der Suche nach Liebe, nach Leben, umso mehr, als er von seiner tödlichen Krebserkrankung erfährt. Ein Film, der anhand einer Biographie so konsequent auf die Schattenseiten unserer globalisierten Städte schaut, mit fast gewalttätiger audiovisueller Kraft, dass die Option des Lebens kaum mehr Luft zum Atmen hat.

Orientierung sucht ganz gewiss der namenlose Lastwagenfahrer aus Russland, der in Sergei Loznitsas Spielfilmdebut eine Odyssee in den Weiten und Tiefen einer zutiefst korrumpierten Gesellschaft durchlebt, eine Kompilation menschlicher Abgründe, die am Ende nur in Tod und Dunkelheit enden kann. Keine Hoffnung, nirgends. Ähnlich negativ endet „Route Irish“, das als „erster Post-Irak-Film“ etwas zu hoch gehandelte jüngste Werk von Ken Loach, das jedoch durchaus eindrucksvoll den völligen Orientierungsverlust von traumatisierten Soldaten und kaltherzigen Kriegsgewinnlern porträtiert.

Familie als Hoffnung auf Orientierung

Orientierung Familie: Der italienische Beitrag „La nostra vita“ und der in Italien spielende Film des iranischen Großmeisters Abbas Kiarostami „Copie Conforme “ (Beglaubigte Kopie) stellen beide die Hoffnung auf Orientierung mit Bezugspunkt und Beziehungsraum von Familie in den Mittelpunkt. Der von Elio Germano (Darstellerpreis 2010, gemeinsam mit Javier Bardem) gespielte Claudio verliert seine hochschwangere Frau bei der Geburt des gemeinsamen dritten Kindes. Er versucht zu vergessen und sich in die Arbeit zu flüchten. Geld soll nun sein Lebensmotto werden, Geld, das er als Subunternehmer nun auf seiner eigenen Baustelle mit illegalen Bauarbeitern verdienen will. Und Pfusch am Bau ist das Thema Italiens (einer der umstrittensten Dokumentarfilme – „Draquila“ – nimmt die politischen und wirtschaftlichen Verstrickungen des Präsidenten Silvio Berlusconi in den Wiederaufbau der erdbebenzerstörten Stadt L’Aquila mit in den Blick und Italien ins Gebet als eine angeschlagene Demokratie). Doch Claudio ist ein Familienmensch und kein kaltherziger Raffer, und so gibt es nicht nur noch existierende Familiennetze, sondern fast so etwas wie ein Happy End. Anders als im raffinierten Kopfkino von „Copia Conforme“, bei der eine grandiose Juliette Binoche und eine englische Zufallsbekanntschaft (oder doch ihr langjähriger verschollener Ehemann) eine Ehepaar spielen oder vorgeben zu spielen und alle Konnotationen von Wunsch und Wirklichkeit, Kopie und Original, Frauen und Männer, Sehnsucht und Eigensinn, Lebenstraum und Traumleben wie Jonglierbälle zugleich in der Luft halten. Leider ermüden die dauernden Jonglierbälle auf Spielfilmlänge etwas.

Deutsche Such-Bewegungen

Orientierung und die Suche danach ... So könnte Film an Film gereiht werden. Auch in den beiden deutschen Beiträgen in der Sektion „Un Certain Regard“: „Unter Dir die Stadt“ von Christoph Hochhäusler. Es ist eine ästhetischperfekte und kalte Inszenierung der biblischen „Bathseba und David“-Geschichte im Frankfurter Banker-Milieu, in der es um Orientierung an Werten geht, an der Infragestellung der Zusammengehörigkeit oder Antithese von Liebe und Macht, von Kontrolle und Leidenschaft. Der Regisseur, ein Vertreter der Berliner Schule, analysiert gesellschaftlich messerscharf und verliert sich dann leider im Hin und Her einer Affäre ohne Zukunft. „Life above all“ ist der Film des in Südafrika geborenen Sohnes deutscher Emigranten, Oliver Schmitz, der in Deutschland u.a. durch die intelligente Fernsehserie „Türkisch für Anfänger“ bekannt geworden ist und nun die Literaturerzählung von Allan Stratton „Chandas’s Secrets“ in seinem Heimatland mit klassischer Dramaturgie, eindringlichen Bildern und Dialogen und einer beeindruckenden jungen Hauptdarstellerin umgesetzt hat. Die Geschichte eines 12-jährigen Schulmädchens, deren Stiefbruder, Stiefvater und schließlich auch die Mutter an AIDS sterben und die, je weiter die Krankheit voranschreitet, umso stärker vor einer Mauer des Schweigens steht und die mithilfe ihres Mutes, ihrer Liebe und ihres Gerechtigkeitssinnes schafft, nicht nur ihre Mutter ohne Angst sterben zu lassen, sondern auch für die Zukunft ein Leben in Würde zu ermöglichen.

Empfehlenswerte Filme

Doch nun zu den Favoriten der Ökumenischen Jury, von denen ich drei näher vorstellen möchte:

„Another Year“ von Mike Leigh erzählt eine Geschichte von Frühling bis Winter, es ist die Geschichte eines älteren Paares, Tom und Gerry, die versuchen, im Wechsel der Jahreszeiten, den sie vor allem in ihrem Garten erleben, im Wechsel von Arbeit und erfülltem Privatleben miteinander und mit den Menschen, die ihnen verbunden sind, in Gastfreundschaft und Zuwendung ihr Leben zu meistern. In all den Alltäglichkeiten und in den Existenzialia, die ihnen dabei begegnen, dem Tod einer Verwandten, der Panik vor dem Ruhestand eines Freundes, der Freude über die erste Freundin ihres dreißigjährigen Sohnes. Es ist das Leben, das sich zeigt, ein Leben, das sich durch Wandel und Kontinuität auszeichnet und lebenswert wird. Es ist zugleich die Geschichte von Mary, einer Arbeitskollegin und Bekannten von Gerry, die haltlos durch das Leben trudelt, die noch lange gehalten wird von den sozialen Netzen, die Tom und Gerry ihr knüpfen, und das dennoch immer löchriger wird. Ein Film über das, was Menschen ändern können und was auch nicht. Ein Film über tieftraurige Einsamkeit und die Kraft von Gemeinschaft gleichermaßen.

„Rizhao Chongqing“ (Chongqing Blues) von Wang Xiaoshuai trägt im französischen wie englischen Titel je einen anderen Aspekt dieses berührenden Filmes über eine vergebene Vater-Sohn-Liebe. Rizhao Chongqing sind zwei chinesische Städte, eine am Meer und eine weit davon entfernt; und die Leidenschaft für das Meer und nach Freiheit hat den Vater dazu gebracht, seine Familie und seinen kleinen Sohn zu verlassen. Inzwischen neu verheiratet und Vater eines zweiten kleines Sohnes, erfährt er vom gewaltsamen Tod seines erwachsenen ersten Sohnes. Dieser hat in einem Supermarkt scheinbar völlig unmotiviert eine Geisel genommen, das Personal verletzt und ist nach Stunden von der Polizei erschossen worden.

Der Vater versucht zu verstehen, und er versucht, sich ein Bild zu machen von dem Sohn, den er nicht kennt. Er sucht seine frühere Ehefrau auf, eine trauernde und wütende Mutter, er sucht den Kontakt zu der Geisel, einer jungen Ärztin, zur ausführenden Polizei, vor allem aber zu dessen Freunden. Er versucht zu verstehen und mit der eigenen Schuld umzugehen, mit der Lücke, die er in das Leben seines Sohnes gerissen hat. Er sucht und sucht, und ohne auf Vergebung zu hoffen, entsteht die Möglichkeit eines Neuanfangs. Ein Film, der den Blues hat und visuell mit dem Blues einer Großstadt spielt, und der versucht in der Bedrückung des Blues nicht unterzugehen, sondern sie anzunehmen und auszusprechen.

Die Kraft der Wörter und der Gesten wird noch stärker in einem ebenfalls aus dem asiatischen Kontext stammenden Film: „Poetry“ von Lee Chang-dong aus Südkorea. Mija, eine Großmutter um die 60, erzieht ihren Enkel alleine. Ihre Rente reicht kaum aus, so dass sie immer noch als Putzhilfe arbeiten geht und besorgt ist, da sie immer wieder Worte vergisst. Eine beginnende Alzheimer-Erkrankung, die ihr genau zu dem Zeitpunkt prognostiziert wird, als sie sich zu einem Volkshochschulkurs in Poesie anmeldet. Ihr Ziel, ein eigenes Gedicht zu schreiben, ihr Leben in Poesie umzuwandeln, bestimmt ihre Wahrnehmung von Welt und der Schönheit der Schöpfung, und die Zuschauer werden mit ihr auf einen Weg mitgenommen. Zugleich wird sie mit der Ambivalenz und Abgründigkeit ihrer Lebenswelt konfrontiert, als sich herausstellt, dass ihr geliebter Enkel an einer kontinuierlichen Gruppenvergewaltigung einer Mitschülerin beteiligt war, die das Mädchen zum Selbstmord getrieben hat. Die Väter der anderen Jungen wollen das Problem durch eine hohe Geldentschädigung an die Familie lösen, doch Mija geht einen anderen Weg, sie sucht nach wahren Worten und wahrhaftigem Handeln.

Orientierung durch Glauben und auf den Frieden: Les Hommes et les Dieux

Eigentlich war es schon am fünften Tag des Festivals klar (und auch selbst vielen anderen, wie z.B. der täglichen Prognose der populären Tageszeitung NiceMatin): Der Sieger in diesem Jahr konnte nur heißen „Les Hommes et les Dieux“ (Menschen und Götter) des französischen Regisseurs Xavier Beauvois.

Der Film beruht auf einer wahren Geschichte, die politisch für erhebliches Aufsehen vor allem in Frankreich und Algerien und durch die neu zugänglichen Dokumente in 2009 noch einmal für neue Brisanz gesorgt hat: 1996 sind sieben der neun französischen Mönche einer kleinen Trappistenabtei im Atlas-Gebirge entführt und enthauptet aufgefunden worden. Der Film handelt von dem Davor. Er zeigt das nachbarschaftliche und freundschaftliche Miteinander des Dorfes und seiner muslimischen Bewohner und den christlichen Mönchen, die das Land bewirtschaften, medizinische Sprechstunden abhalten und auch im praktischen wie theologischen Gespräch miteinander stehen. Und umgeben von einer atemberaubenden Schönheit der Schöpfung. Ein Bürgerkrieg bahnt sich an, islamistische und fremdenfeindliche Überfälle vermehren sich, und die Frage für die Mönche heißt: Bleiben oder gehen? Keiner der Mönche will als Märtyrer sterben, die Dorfgemeinschaft bittet die christlichen Männer zu bleiben, sie seien ein Beweis für Frieden und Sicherheit, die algerische Regierung drängt auf Abreise. Im Gebet, im gemeinsamen Gesang, im Gespräch miteinander, gewinnen sie die Gewissheit, die ein Leben mit sich bringt, das sich äußeren Zwängen nicht beugt und nach dem inneren Willen Gottes fragt.

Auf der Pressekonferenz in Cannes bezeichnete der Regisseur ebenso wie Hauptdarsteller Lambert Wilson die Drehzeit und die Gemeinschaft der Schauspieler als ein „Moment von Gnade“. Das sieht man dem Film an, das überträgt sich auf die Zuschauer und berührt zutiefst die Frage, wo und wie Orientierung in und für diese Welt zu finden ist.

Ökumenische Juryarbeit – in Cannes einzigartig

Jede Jury arbeitet auf jedem Filmfestival unterschiedlich. Cannes ist als Filmfestival einzigartig, nach den Olympischen Spielen erfährt es jedes Jahr neu die größte weltweite Medienöffentlichkeit für ein kulturelles Ereignis. Auch die ökumenische Juryarbeit in Cannes ist einzigartig und von allen anderen Filmfestival unterschieden. Eine ganze Equipe von Ehrenamtlichen ist bereits lange vor dem Festival und vor allem während dieser Tage für die ökumenische Jury, aber vor allem für die Verortung von Kirche, Ökumene, Film und gesellschaftlicher Relevanz aktiv. Ein Team arbeitet an einem tagesaktuellen Internetauftritt mit Fotos, Filmbesprechungen, Interviewauszügen etc, ein Team leistet zehn Tage lang die Präsenz eines Standes der ökumenischen Jury auf dem riesigen und wichtigen Filmmarkt im Untergeschoss des Festival du Film, seit 25 Jahren eine sichtbare Schnittstelle von Filmkultur und ökumenischem Engagement, es gibt Verantwortliche für die internationale und lokale Pressearbeit (u.a. für den jährlichen Empfang beim Bürgermeister), für die Kontakte zur Geistlichkeit vor Ort und die Organisation von zwei Gottesdiensten mit anschließenden Empfängen.

Die Zusammenarbeit in der Jury war in diesem Jahr 2010 von besonderer Harmonie geprägt, auch dank der klugen und kompetenten Moderatorin und Präsidentin der Jury, der französischen Theologie- und Filmdozentin Michele Debidour aus Lyon. 2010 – ein Jahr auf der Suche nach Orientierung, ein Film-Jahrgang, der einlädt zur Kontemplation (und darin enthalten sind sowohl Mystik und Widerstand). Wir bleiben auf der Suche.

Pressekonferenz der Jury zur Preisverleihung

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