Festivalbericht von Dietmar Adler, Mitglied der Ökumenischen Jury


Die ganze Stadt wird zum Festival, Kinderspielaktionen, Halb-Marathon, angesagte tschechische Bands – und natürlich: Filme. Im mährischen Zlín im Süden der Tschechischen Republik geht zu Festivalzeiten die Post ab.

Gegründet ist die Stadt auf Schuhen. Die Schuh-Unternehmer Thomas und Jan Antonin Bat’a bauten von 1900 bis 1939 die Stadt auf: von den Fabriken über das 17-stöckige Verwaltungsgebäude (mit Büro im Fahrstuhl für den Chef) bis zum zweitgrößten Kino Mitteleuropas (leider derzeit nicht in Betrieb), von den kubischen Einfamilienhäusern für die Arbeitenden bis zur evangelischen Kirche: alles in einem funktionalistischen Stil, zumeist mit Klinkern. Zlín gilt als eine frühe Modellstadt der Moderne. Ebenfalls in dieser Zeit wurden die Studios am Berg gegründet, zunächst für Werbefilme, dann stark auch für Animationsfilme für Kinder.

Schuhe werden in Zlín nicht mehr produziert, Filme aber schon. Und es gibt seit über 60 Jahren das Internationale Filmfestival für Kinder- und Jugendfilme, seit 2000 auch mit einer Ökumenischen Jury.

Erfreut nahmen die Jurys die ausgesprochen hohe und für manche Besucher*innen überraschende Qualität der allermeisten Filme im Wettbewerb zur Kenntnis. Programmmacherin Markéta Pášmová und ihr Team sind in der ganzen Welt fündig geworden und bieten – schon seit Jahren – eine gute Auswahl von Filmen für Kinder und Jugendliche.
Da ist natürlich immer wieder die zu diskutierende Frage: Was macht einen (guten) Kinder- oder Jugendfilm aus? Nur, dass die Protagonist*innen Kinder oder Jugendliche sind, oder dass die Filme auch für diese Zielgruppe geeignet sind, so Pášmová. Anregend, herausfordernd, weder über- noch unterfordernd – all diese Gesichtspunkte spielen neben den filmischen Mitteln und anderen Kriterien eine Rolle.

Der Wettbewerb gliedert sich in drei Altersklassen: Children, Juniors, Youth; der Fokus der Ökumenischen Jury richtete sich auf die Junior- und Youth-Filme.

Einer der herausragenden Filme war sicherlich Sun Children (2020) des iranischen Filmemacher Majid Majidi. Auch in diesem Film sind wie so oft im iranischen nach-revolutionären Kino Kinder die Hauptfiguren. Schon oft ist vermutet worden, dass iranische Filmemacher*innen Filme über Kinder machen, weil sie mit ihnen Geschichten erzählen können, die sie sonst nicht durch die Zensur bekämen, von The Runner (1984, Amir Naderi) über die Filme von Abbas Kiarostami bis hin zur neuen Generation iranischer Filmemacher*innen wie Majid Majidi.
Hier geht es um eine Clique von Straßenkindern rund um den 12-jährigen Ali. Sie wittern das große Glück, als sie angeheuert werden, einen Schatz zu heben, für den sie einen Tunnel aus einem Schulgebäude heraus graben müssen. Ihr mehr und mehr verzweifelter Kampf um den Schatz kommt ihnen eindrücklich nahe, immer beklemmender werden ihre Kämpfe innerhalb und außerhalb des Tunnels, immer klaustrophobischer die Einstellungen (Golden Slipper für den besten langen Film in der Junior-Kategorie).

Ein wiederkehrendes Thema: Identitätssuche

Den Preis der Ökumenischen Jury erhielt der Film Beans der kanadischen Regisseurin Tracey Deer (Sektion Juniors). Es ist der Film ihres Lebens. Er beruht auf Ereignissen im Jahr 1990 in der kanadischen Provinz Quebec, der so genannten Oka Krise, ausgelöst durch die versuchte Errichtung eines Golfplatzes auf dem Gebiet der First-Nation-People Mohawk. Der Spielfilm stellt die 12-jährige Tekahentahkhwa in den Mittelpunkt; sie ist es schon gewohnt, dass man sich beim Aussprechen ihres Namens aus indigener Tradition keine Mühe gibt, und bietet ihren Gesprächspartner an, sie „Beans“ zu nennen. Zu Beginn des Films bewirbt sie sich, unterstützt von ihrer ehrgeizigen Mutter, um die Aufnahme in einer renommierten Schule. Die Auseinandersetzungen um das von den Mohawk besonders geschätzte Land eskalieren. Mehr und mehr werden auch Beans und ihre Familie involviert. Mit immer heftigerem Rassismus aus der weißen Mehrheitsgesellschaft werden die Mohawk konfrontiert. Gleichzeitig orientiert sich Beans an älteren Jugendlichen, die unangepasst ihren Weg gehen, und verlässt nach und nach die ihr in ihrer Familie zugedachte Rolle.

Tracey Deer, die selbst aus dem Volk der Mohawk stammt, den Zweitnamen Tekahentahkhwa trägt und zum Zeitpunkt der Oka-Krise 12 Jahre alt war, setzt sich in diesem fulminanten Film mit selbst erlebter und ihr Leben prägender Geschichte auseinander. Auch europäische Zuschauer*innen werden in den Sog dieser Ereignisse und in das Leben der wunderbar von Kiawenti:io Tarbell gespielten Beans involviert. Stark werden die Frauen der Mohawk gezeichnet, die Alternativen zu der Spirale der Gewalt suchen. Es sind schon sehr viele Themen und Motive für einen Spielfilm, aber durch seine Fokussierung auf Beans überzeugt er trotzdem. In die Spielfilmhandlung werden zudem immer wieder Dokumentaraufnahmen aus dem Jahr 1990 montiert; das gibt dem Film zusätzliche Authentizität. Fragen, ob etwa der Rassismus sich im Kanada des Jahres 1990 wirklich so brutal gezeigt hat, werden klar beantwortet. Der Film ist auch als Kommentar zum heutigen Diskurs über Rassismus zu lesen. Ein politischer Film, ein feministischer Film, ein kraftvoller Film. Zugleich ein Film, in denen Jugendliche sich mit Identitätssuche im Angesicht von Rassismus und dem Widerstand dagegen auseinandersetzen können.

Ebenfalls sehr beeindruckt hat die Ökumenische Jury der brasilianische Film Valentina (2020, Cássio Pereira dos Santos). Die 17-jährige Valentina zieht mit ihrer Mutter aus der Großstadt in eine Kleinstadt auf dem Land. Sie verbindet damit, dass sie neu anfangen will und den Diskriminierungen entgehen will, denen sie als trans-Person ausgesetzt ist. Aber durch einen sexuellen Übergriff wird auch in der Kleinstadt ihre Identität bekannt. Und sie wird Opfer von verletzter männlicher Ehre, Macho-Gehabe und traditionellen Moral- und Rollenvorstellungen. Eine Freundin und ein Freund halten zu ihr. Eine universale Geschichte, die durch die Nähe zu den Protagonist*innen überzeugt (Golden Slipper für den besten langen Film in der Youth-Kategorie und Lobende Erwähnung der Ökumenischen Jury).

 Überhaupt ist es bemerkenswert, wie selbstverständlich in Jugendfilmen Fragen sexueller Identität sichtbar werden. Überzeugt hat auch Dating Amber (Irland 2020) von David Freyne. Eddie ist schwul, Amber lesbisch. Dem Versteckspiel in ihrer Abschlussklasse versuchen sie zu entkommen, indem sie ein Liebespaar vorspielen. Und tatsächlich entwickelt sich eine Liebesbeziehung anderer Art zwischen den beiden.

Bemerkenswerte Animationsfilme

Traditionell hat der Animationsfilm eine besondere Rolle im tschechischen Filmschaffen. Auch die Filmstudios in Zlín haben zu diesem Erbe beigetragen. So ist es folgerichtig, dass auch das Filmfestival Zlín sich dem aktuellen Animationsfilm verpflichtet weiß und nicht nur viele animierte Kurzfilme, sondern auch Langfilme präsentiert. Große Aufmerksamkeit fand der tschechische Film Even Mice Belong to Heaven (2021) von  Denisa Grimmová und Jan Bubeníček, eine freche Geschichte über eine kleine Maus, die ihrem berühmten, tapferen Vater nachfolgt.
Ästhetisch anspruchsvoll ist The Crossing ( Frankreich, Tschechien, Deutschland 2021) der französischen Künstlerin Florence Mialhe, die ihren Film auf Glas gemalt hat. Es handelt sich um die Passionsgeschichte zweier Kinder, zeitweise an Verfolgungssituation jüdischer Menschen in Russland orientiert, dann aber doch wieder zeitlos und universal. Die ambitionierte Filmsprache macht den Film zu einem Kunstwerk eigener Art.

Ein Besuch in der Modell-Stadt Zlín mag sich auch zu anderen Zeiten lohnen, zu Festivalzeiten gibt es dort Film-Schätze aus aller Welt und ästhetische Abenteuer zu entdecken. Und es wird – wie auch beim Festival in Karlovy Vary – eindrücklich vor Augen gestellt, welche Wertschätzung der Film in der Tschechischen Republik genießt.

Festivals

Nach einem ersten Teil, der online stattfand (28.5.-1.6.2021), wurde der zweite Teil des 61. Filmfestivals Zlín am 9. September on site eröffnet. Im Mittelpunkt des Festivals stehen die Sektionen des internationalen Wettbewerbs.