Eine neue Erfahrung

Bericht vom 37. Internationalen Filmfestival Warschau
Miracle (Bogdan George Apetri)

Grand Prix Warschau 2021: "Miracle" (Bogdan George Apetri)


Eigentlich war es mein Traum, einmal am Warschauer Festival teilzunehmen. Dieses Jahr ist er in Erfüllung gegangen. Das 37. Festival (8.-17. Oktober 2021) hat trotz Covid-Pandemie erfolgreich stattgefunden, wenn auch alle Masken tragen mussten. Eine Überraschung war, dass die 15 Filme aus dem internationalen Wettbewerb nur von der internationalen und der ökumenischen Jury zu bewerten waren. Die Kollegen der FIPRRESCI, des internationalen Verbands der Filmkritik, der sogar mit zwei Jurys vertreten war, von NETPAC (Network for the Promotion of Asian Cinema) und andere Jurys hatten andere Sektionen zu sichten: “Erste und zweite Filme” und “Free Spirit”, den Wettbewerb für Dokumentar- und für Kurzfilme. Die von Festivaldirektor Stephan Laudyn verantwortete Programmauswahl umfasste ein breites Spektrum. Gerade seine persönliche Anwesenheit hat die sehr warme und professionelle Atmosphäre des ganzen Festivals geprägt, die wir auch dank unser wunderbaren Jury-Koordinatorin Kasia Pilewska empfanden – obwohl das Festival in einem Multikino und einem großem Kaufhaus stattfindet.

Die Entscheidung, unseren Preis dem Film “Albanian Virgin” (Regisseur Bujar Alimani, Deutschland, Belgien, Albanien, Kosovo 2021) zu verleihen, fiel nach längerer Diskussion einstimmig. Unsere Begründung bezieht sich auf die Situation Albaniens in den 50er Jahren, in denen die Geschichte spielt: Wo Frauen den von ihren Eltern bestimmten Mann heiraten mussten und Blutrache noch immer aktuell war. Die Heldin entscheidet sich schließlich, das Leben eines Mannes zu führen – und verzichtet damit auf Liebe, Ehe und ein Familienleben, um selbst Rache üben zu können. Erst die überraschende Schlusswendung bringt den Kreislauf der Gewalt zum Stillstand und eröffnet einen Weg zur Versöhnung. Auch die internationale Jury zeichnete “Albanian Virgin" aus (Special Award).


Für eine Lobende Erwähnung gab es für uns mehrere Kandidaten. Die endgültige Wahl fiel auf den japanischen Film “Ring Wandering” von Masakazu Kaneko. Der zweite Film des noch jungen Regisseurs (geb. 1978) zeugt von einem tiefen Interesse, Geschichte, Vergangenheit und Kunst mit dem heutigen Leben in Tokio zu verbinden. Ein junger Manga-Künstler stößt unerwartet auf Zeugnisse einer alten Legende über Jäger und Wolf. Eine Verschmelzung von mystischen und realistischen Facetten schlägt einen Bogen über Jahrhunderte hinweg und lässt uns die spirituelle Dimension dieses im Kammerstil aufgenommenen Kunstwerkes empfinden.

“Wunder” (Miracol) von Bogdan George Apetri (Rumänien, Tschechien, Lettland 2021) erhielt den Hauptpreis des 37 Warschauer Festivals. Auch diesen Film haben wir in unserer Jury diskutiert. Es geht um eine Nonne, Christina (Joana Bugarin), eigentlich noch eine Novizin, die aus ihrem Kloster in die Stadt aufbricht. Ist ihr Verschwinden ein Wunder? Welche der zwei Versionen des Polizei-Detektivs, der den Fall untersucht ist die richtige? Der Film ist ein künstlerisch sensibel gespieltes und attraktiv fotografiertes Drama, in dem die Spannung gleichzeitig mit dem Schmerz über das Verbrechen und das Böse wächst. “Violence, Sacrifice and Religion” hieß vor vielen Jahren ein Seminar in Graz. Dort wurde der Film “The Bad Lieutenant” von Abel Ferrara gezeigt, in dem eine Nonne grausam vergewaltigt wird. Sie aber lässt die Verbrecher, Teenager von nebenan, straflos ziehen. Im rumänischen ”Wunder” geht es nicht um Verzeihung oder Versöhnung – ein Wunder wird zwar deklariert, aber es bleibt offen, ob und wie es geschieht.

Warschau ist sicher nicht Cannes, Venedig oder Berlin, wo berühmte Regisseure im Wettbewerb miteinander konkurrieren. Für mich persönlich war einer der wenigen bekannten Namen in diesem Jahr Algimantas Puipa, der litauische Klassiker, dessen Filme “Eine Frau und ihre vier Männer” (Moteris ir keturi jos vyrai, 1983) oder “Ewiges Licht” (Amžinoji šviesa, 1987) weltbekannt und vielfach ausgezeichnet worden sind. Sein neuer Film, “Cinephilia”, ist eine schwarze Komödie, die aus neun Geschichten besteht und ziemlich verrückt ist, aber trotz zweier Monde, die an Lars von Trier erinnern, etwas Kafka und etwas Polanski leider nicht das Niveau dieser Meister erreicht.


Auch der polnische Klassiker Lech Majewski fand großes Interesse. Sein Film “Brigitte Bardot Forever” (Brigitte Bardot cudowa), den er auch selbst geschrieben hat, spielt während der Zeit des Sozialismus in Polen und gibt seine eigenen Erfahrungen, Träume und Wünsche wider. Man sieht Brigitte Bardot in Godards „Le Mépris“ (Die Verachtung, 1963), wie der während des Zweiten Weltkriegs verschwundene Vater des Regisseurs auf einem Sportplatz landet und andere schöne Kinomomente.

Ein gewichtiges Werk war der ukrainische Film von Taras Tomenko, “Slovo House. Unfinished Novel” (Budynik Slovo. Neskinchenyi roman). Es ist eine eindrucksvolle und düstere Entlarvung der menschlichen Natur im Stalinismus. Als in Charkov ein Haus für Schriftsteller errichtet wird, zahlt mancher den Preis des Verrats, um das Privileg zu erringen, dort wohnen zu dürfen. Es folgen Verhöre, Vertreibung und Mord. Im Hintergrund steht einer der größten Genozide des XX Jahrhunderts – der Holodomor, in dem 7 Millionen Menschen an Hunger gestorben sind.


Wegen des Warschauer Festivals kam ich mit 4 Tagen Verspätung zu unserem Riga IFF (Internationales Filmfestival Riga, 14.-24.10.). Leider wurde es kurzfristig abgebrochen. Ab heute, den 21. Oktober, ist in Lettland alles geschlossen, Lockdown von 20.00 – 05.00 Uhr.

Wollen wir hoffen, dass im nächsten Jahr alle Festivals stattfinden können, dass wir alle noch da sind und uns da sehen werden. Take care, bleibt gesund!