Erleuchtung gesucht
Dietrich Brügggemann: Kreuzweg (Preis der Ökumenischen Jury, Berlin 2014)
Erleuchtung gesucht: Der moderne Mensch tut das eher im Kino als in der Kirche. Ein Gespräch über Parallelen zwischen Film und Religion
(© diagonale)
Julia Helmke, Präsidentin der Internationalen Kirchlichen Filmorganisation INTERFILM, im Gespräch mit Kirsten Dietrich (deutschlandradio Kultur)
Kino und Kirchen haben viel gemein, sie sind "Erzählgemeinschaften", wie die Vorsitzende der evangelischen Filmorganisation INTERFILM sagt. Im Interview erklärt sie, was einen guten Film ausmacht und wann er als religiös gelten kann.
Kirsten Dietrich: Seit Donnerstag steht Berlin ganz im Zeichen des Films, die Internationalen Filmfestspiele haben begonnen. Und auch die Kirchen sind dabei! Eine ökumenische Jury begleitet das Festival und sie schaut nicht nur Filme, die sich ganz ausdrücklich mit Glauben beschäftigen. Wobei sie schon da eine Menge zu tun hätte, denn die Berlinale bietet viel: vom Großwerden einer strengst katholischen Familie – der Film "Kreuzweg" im Wettbewerb – bis zu einem Film, der verspricht, einen buddhistischen Mönch eine Stunde lang beim Schreiten durch Marseille zu begleiten. Die Kirchen interessieren sich also für den Film. Aber warum eigentlich? Das wollte ich von Julia Helmke wissen, sie ist Beauftragte für Kunst und Kultur in der Hannoverschen Landeskirche, evangelische Pfarrerin und Vorsitzende der evangelischen Filmgemeinschaft INTERFILM.
Julia Helmke: Weil beides Erzählgemeinschaften sind. Also, die Kirche ist eine Erzählgemeinschaft, die immer schon, von Beginn an biblische Geschichten erzählt hat, aufbewahrt hat, aber auch eben weiter tradiert hat, auch aktualisiert, neu erzählt. Und das Kino ist auch eine Erzählgemeinschaft, die Geschichten erzählt vom Menschen, aber dazu eben auch noch Bilder liefert, sichtbare Bilder. Und das macht es auch für die Kirche, die ja doch eher über das Wort auch erst mal bestimmt, interessant.
Die ersten Kinos hatten biblische Namen
Dietrich: Weil beide gemeinsam Geschichten entwerfen. Die Rituale ähneln sich ja auch fast ein bisschen, man geht in die Kirche, man geht ins Kino, man sitzt geordnet in einer Reihe, schaut nach vorne, vorne passiert das vielleicht Transzendente!
Helmke: Also, da, glaube ich, hat das Kino doch auch ein wenig von der Kirche geklaut oder hat sich da angelehnt! Also, die ersten großen Kinopaläste, die es ja vor 100 Jahren gab, die hatten ja auch biblische Namen, "Gloria", "Exzelsior", und waren wirklich wie Kathedralen auch ausgerichtet, da gibt es wirklich eine strukturelle Analogie. Man fühlt sich ähnlich in einer Kirche wie im Kino oder umgekehrt.
Dietrich: Kann es so weit gehen, dass der Film dann auch die Funktion zum Beispiel einer Predigt übernehmen kann?
Helmke: Ja, obwohl ich glaube, eine Predigt allein wäre zu langweilig. Wenn man einem Film ja auch sagt, er predigt, dann wird das eher negativ verstanden. Aber ich würde sagen, einen kompletten Gottesdienst, ja, durchaus. Man geht hoffentlich anders heraus, als man hineingegangen ist. Man weiß, was man erwartet, und wird doch hoffentlich immer wieder auch überrascht!
Dietrich: Das klingt, als ob das jetzt bei jedem Kinobesuch, bei jedem Filmschauen eigentlich automatisch so wäre. Spielt der Film dann gar keine Rolle mehr, also, was da eigentlich gezeigt wird?
Viele Spielfilme bedienen sich bei der "Heldenreise"
Helmke: Ich glaube, das Ritual ist wichtig, und auch heute noch wichtig, wenn auch immer mehr zu Hause geschaut wird. Aber dieser gemeinschaftliche Kinobesuch oder dass man eben auch nicht alleine nur etwas sieht, sondern das auch miteinander und vielleicht auch nachher noch teilen kann, das ist, denke ich, schon wichtig. Aber natürlich, wie eine gute Predigt oder ein guter Gottesdienst ist auch wichtig, dass der Film gut ist, so unterschiedlich es ja auch Filme gibt von den Genres her, aber die Qualität muss schon stimmen.
Dietrich: Gibt es denn Kriterien, die einen Film als religiös geeignet oder das Religiöse ansprechend irgendwie markieren?
Helmke: Eigentlich sehr wenige. Seit Langem wird ja auch in der Filmanalyse, Filmdramaturgie von der Reise des Helden oder auch der Heldin gesprochen, also, ein Mensch macht sich auf aus dem vertrauten Umfeld auf eine Reise, verändert sich dann dadurch, was ihm auch begegnet, und am Schluss kehrt er, wenn er sich nicht opfert für die Gemeinschaft, für andere, dann verändert wieder zurück. Da kann man natürlich auch die Heilsgeschichte, die christliche Heilsgeschichte erkennen, wie Christus sich auf den Weg gemacht hat in die Welt hinein, sich dann für die Welt gegeben hat und die Menschen dadurch verändert hat und die Welt auch.
Aber das ist auch ein alter archaischer Mythos, das sind sozusagen Mythen. Und weil ganz viele Spielfilme nach diesem Muster ablaufen, kann man in jedem Film dadurch auch etwas Religiöses erkennen. Aber natürlich gibt es auch inhaltliche Themen, Motive, die eher ansprechen. Aber da, würde ich sagen, ist das Kino, weil es ja ein Seismograf unserer Gesellschaft ist und auch der religiösen, kulturellen Befindlichkeiten, immer wieder neu auch dran an den Fragen des Lebens. Und das sind dann auch Fragen des Glaubens und der Religion.
Dietrich: Ich würde gern noch mal einen Moment bei der Heldenreise bleiben! Das heißt dann, dass Filme wie zum Beispiel ein riesiges Fantasy-Epos wie der "Herr der Ringe" oder "Harry Potter", wo es auf der Leinwand nur so kracht und knallt, dass dann auch diese Filme sozusagen eine in ihnen wohnende religiöse Struktur haben?
Ein Pfarrer im Film macht ihn noch nicht religiös
Helmke: Ja, auf jeden Fall. Man sprach ja in den 80er- oder 90er-Jahren sogar von der Hollywood-Religion. Dann ist es an Filmen wie auch "Terminator" mit Schwarzenegger oder auch den "Matrix"-Filmen ganz deutlich geworden, da ist dieses Muster sozusagen eins zu eins umgesetzt, eben auch aufgeladen mit religiösen Motiven. Aber das stimmt, ja.
Dietrich: Wie wichtig ist es dann in diesem Konzept, wenn Filme dann zusätzlich auch noch auf der inhaltlichen Ebene bei der Geschichte, die sie erzählen, auch noch wirklich religiöse Themen ansprechen? Oder wenn dann ein Pfarrer mit auftaucht, ist das einfach nur noch Beiwerk oder sind das dann besonders religiöse Filme?
Helmke: Allein, dass ein Pfarrer oder eine Pfarrerin dann im Film auftaucht, das würde ich nicht als Kennzeichen eines religiösen Films sehen. Aber es kommt natürlich immer auch auf die Themen drauf an, die in dem Film verhandelt werden, was begegnet diesem Menschen, der sich auf die Reise macht, was ist in ihm sozusagen, was treibt ihn um? Da gibt es ja, finde ich, gerade heute auch ganz interessante Beispiele.
Ich denke jetzt an den deutschen Film "Schwestern" von Anne Wild, da geht es ja darum, dass eine Schwester sich bewusst entscheidet, ins Kloster zu gehen, endgültig, jetzt ihr Leben lang, und die ganze Familie versucht, das einerseits zu unterstützen, weiß aber andererseits gar nicht mit so einer wirklich grundlegenden Entscheidung umzugehen, weil sie alle mehr oder weniger sich auch in ihrem Leben mal vor Entscheidungen drücken oder eben auch immer noch auf dem Weg sind, wie sie sich sozusagen entscheiden wollen. Und das finde ich ganz spannend, weil das wirklich ein grundlegendes religiöses auch Motiv, die Entscheidung oder auch die Umkehr hin zu Gott, das Bekennen … Und dass das in einem deutschen Film auf eine sehr leichte und doch auch anrührende Weise umgesetzt wird, das finde ich ein spannendes Motiv, noch in einem interessanten Film.
Dietrich: Und natürlich auch in einem Film, der sehr begeistert ist von den Ritualen und von der Musik, die es dann auch zu sehen gibt. Das heißt also, von dem, was die Religion an sich zu bieten hat, da zehrt der Film durchaus dann auch!
Helmke: Ja, und ich glaube, das ist auch heute fast eine Strömung. Weil, Christ sein ist ja nicht mehr selbstverständlich, oder auch religiös sein, in unserer Gesellschaft hier. Und die Filmemacherinnen und Filmemacher schauen fast wie von außen auch auf dieses Phänomen, dass jemand Christ sein will. Und wie er dieses Christsein dann auch lebt, das ist für viele Filmemacher interessant. Also, es ist eher da ein Blick von außen, der durchaus wertschätzend ist, aber es ist eben etwas Besonderes. Es ist nicht mehr normal, Christ zu sein, aber es wird neu ein Thema, weil es eben eher seltener ist.
Dietrich: Kann die Religion, können religiöse Menschen dann aus dem Kino, vom Film etwas lernen, was sie an anderen Orten der religiösen Vermittlung nicht lernen können?
Filme sind Fenster zu einer anderen Welt
Helmke: Zu einfach wäre es, wenn ich in dem Film dann etwas wiedererkenne, wo ich sage, aha, die Person glaubt auch, oder so würde ich es auch machen, deshalb bin ich richtig, also sozusagen rein affirmativ. Das wäre, glaube ich, zu einfach und auch zu billig. Aber immer wieder herausgefordert zu werden und zu merken, da stehen Menschen vor Entscheidungen und wie gehen sie damit um, da glaube ich schon durchaus, dass Menschen … Jetzt spreche ich auch von mir persönlich, ich nehme vom Film viel mit.
Filme sind für mich ja immer auch Fenster zu einer anderen Welt, ich kann mich auf etwas einlassen, von dem ich noch gar nicht wusste, dass es das gibt, das mir vielleicht auch fremd ist, und kann mich dadurch bereichern lassen, aber durchaus auch verändern. Das ist, finde ich, ganz stark auch im Bereich schon auch von Werte und Normen. Also, heute einfach auch, sei es in dem Bereich von unterschiedlichen Lebensformen, da zeigen mir Filme etwas, was ich vielleicht so nicht kenne, aber das kann mich erweitern, mich durchaus auch in meinem Glauben infrage stellen, aber doch auch dann zu einer weiteren, befreiteren Sicht bringen. Oder natürlich auch der Blick auf andere Religionen, also Kino als Fenster zur Welt, ganz wörtlich.
Dietrich: Wie sehr ist denn den normalen Filmguckern diese Dimension bewusst? Also, legt man da nicht etwas in Filme rein oder legt man Filmschauern da nicht etwas nahe, was vielleicht gar nicht unbedingt genuin zum Filmerlebnis gehört?
Helmke: Die Reise des Helden, die ich ja vorher gesagt habe, ist ja auch was, was untergründig abläuft. Aber ich glaube schon, dass der Film immer mehr auch in einem auslöst, als man zuerst auch denkt. Man spricht ja auch von dem Kino im Kopf, und ein guter Film ist etwas, der in mir etwas auslöst, von dem ich vielleicht in dem Moment noch gar nicht weiß.
Kino ist ja auch eine Emotionsmaschine, es spricht mich also erst mal über die Gefühle an, und da glaube ich schon, dass das jeden Zuschauer in der Form auch anspricht und auch verändern kann, auch wenn es dem erst mal gar nicht so bewusst ist. Aber dadurch ist ja zum Beispiel auch gerade das Filmnachgespräch oder der Kneipenbesuch ganz wichtig, dass man sich darüber dann noch mal austauschen kann, was hat der andere gesehen, was hat den aufgeregt, was hat den angeregt, und dann dadurch auch weiterzukommen. Aber manchmal können Filme einfach auch nur entspannen und das ist völlig richtig und gut so, und auch die Entspannung gehört ja zur Religion dazu!
Dietrich: Wie kann die Kirche an dieses ganz umfassende Filmerlebnis seriös anschließen, ohne also einfach nur die Filme zu benutzen, um Menschen zu sich zu locken, die sie vielleicht anders nicht mehr erreichen kann?
Die Kirchen werfen einen besonderen Blick auf die Filme
Helmke: Die evangelische Filmarbeit versucht das ja auf sehr verschieden Weise seit über 60 Jahren. Das eine ist natürlich mit Filmgesprächen, die nach dem Kinobesuch angeboten werden, die zum Teil auch mit Experten dann durchgeführt werden, das, finde ich, ist auch eine schöne Art und Weise, ins Kino einzuladen als Kirche, mit einem anschließenden Gespräch, das auch moderiert wird und wo noch mal eben andere Aspekte auftauchen können. Dann dadurch, dass es immer noch und hoffentlich noch auf lange Zeit epd Film gibt oder dann im katholischen Bereich Filmdienst, wo eben wirklich Filmkritiken auf hohem Niveau auch zur Verfügung gestellt werden.
Dann, dass es eine Filmgesellschaft wie EIKON gibt, die ja auch Filme mit besonderen Inhalten dann produziert. Dass es – dafür stehe ich ja auch – Jurys gibt, die auf den großen Festivals wie die Berlinale in Cannes, Venedig, aber auch auf kleinen Festivals, Kurzfilmfestivals wie in Oberhausen, dann auch mit eigenen Jurys dann die Filme auszeichnen und so einen besonderen Blick dann darauf werfen, das finde ich in der Form gut und umfassend.
Dietrich: Immer mehr werden ja auch Kirchen oder religiöse Gemeinschaften selber zu Filmemachern. Dass also dann fromme Menschen fromme Filme mit zum Beispiel bewegenden Bekehrungsgeschichten für fromme Zuschauer produzieren. Was sagt dann die kirchliche Filmbeauftragte, die kirchliche Filmfrau zu solchen Filmen?
Helmke: Die sehe ich eigentlich nicht. Also, die kommen sehr, sehr selten zu mir. Ich kann es sehr unterstützen, wenn Filme auch produziert werden von Gemeindemitgliedern, da kenne ich auch einige, gerade auch im Jugendbereich, die sich mit der Kamera ausprobieren. Das finde ich ganz spannend, aber es ist natürlich noch mal eine ganz andere Kategorie, Qualität als eben Filme, die professionell dann auch produziert werden. Es gibt im evangelikalen Bereich, aber dann doch vor allem auch eher in den USA als hier in Deutschland, gibt es natürlich auch Filme, die von frommen, wie Sie sagen, auch Filmgesellschaften oder Einzelpersonen produziert werden, aber die sind dann doch für ein sehr kleines Segment auch der Christen dann gedacht und werden dort gezeigt.
Also, ich denke nicht, dass in den meisten evangelischen oder auch katholischen Gemeindehäusern oder Kirchen auch so was gezeigt wird, aber durchaus auf der anderen Seite immer mehr Filmgottesdienste zum Beispiel stattfinden mit Kurzfilmen, Spielfilmen, Dokumentarfilmen. Aber dann eben auf einem bestimmten Niveau.
Dietrich: Wo es darauf ankommt, dass der Film auch an sich vor einem nicht kirchlichen Publikum Bestand haben kann.
"In den letzten Jahren hat sich einiges gewandelt"
Helmke: Ja, weil, es ist eben doch ein Filmkunstwerk und kann dann nicht irgendwie auch nur in Ausschnitten gezeigt werden oder eben wirklich funktionalisiert, instrumentalisiert werden.
Dietrich: Welche Rolle spielt der Film denn bei der kirchlichen Auseinandersetzung mit Kunst, mit Kultur überhaupt? Ich weiß, als die evangelische Kirche vor zehn Jahren da gründlich über ihr Verhältnis zur Kultur nachdachte und eine sogenannte Denkschrift zum Thema erstellte, da hatte man im ersten Durchgang den Film glatt vergessen!
Helmke: Ja genau, die Räume der Begegnung, das stimmt. Da kann die evangelische Filmarbeit sozusagen immer auch noch ein wenig dann die offizielle Kirche anpieksen, weil sei auf der einen Seite eigentlich am längsten und stringentesten wirklich auch Kulturarbeit betrieben hat. Ich glaube, da war immer noch so ein bisschen in den Köpfen einerseits, das Kino und die kirchliche Filmarbeit, die gibt es sowieso, an die brauchen wir vielleicht gar nicht besonders denken, aber andererseits eben immer noch ist das Kino eben wirklich auch Kultur und Kunst. Da hat sich, glaube ich, in den letzten Jahren auch noch einiges gewandelt. Es gibt die evangelische Filmarbeit noch, zum Glück, aber sie muss eben, muss man wirklich sagen, wie viele andere Sparten, dann doch auch sehr um ihr Überleben kämpfen.
Julia Helmke ist Kunst- und Kulturbeauftragte der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und Präsidentin der internationalen kirchlichen Filmorganisation INTERFILM.