Frühling in Nyon: Visions du Réel zurück im Kino
Eröffnungsfilm: "Les Guérisseurs" von Marie-Eve Hildbrand
«Es ist traurig, wenn man alles hier so leer sieht», sagte letztes Jahr Emilie Bujès, die Direktorin des Internationalen Filmfestivals Visions du Réel in Nyon, als sie Ende April vor dem ungeschmückten Festivalgebäude auf dem stillen Platz des «Village du festival» stand. Voller Optimismus versprach sie glaubwürdig, alles daran zu setzen, das Festival dieses Jahr wieder physisch durchzuführen. Während die einen oder anderen Festivals ihre Durchführung im Laufe des Winters pandemiebedingt absagten oder die Terminplanung änderten, hielt Nyon denn auch an der ursprünglichen Planung fest, im Bewusstsein, dass eine Durchführung bestenfalls in einer bloss hybriden und nicht in der ursprünglichen Form möglich sein würde. Es verlängerte nur die Dauer des Festivals auf die Zeit vom 15.-25. April 2021.
Die Eröffnung und die ersten Tage des Festivals konnten nur unter erheblichen Einschränkungen stattfinden. Neben dem lokalen jungen Publikum (Schulklassen) und Studierenden konnten nur eine zahlenmässig limitierte Anzahl professioneller Festivalbesucher Filme in den Kinos von Nyon sichten. Für alle anderen waren die Vorführungen bloss online zugänglich, wobei zusätzlich galt, dass die Filme nur in der Schweiz abrufbar waren, mit der Ausnahme von Akkreditierten. Angesichts der nach wie vor geltenden Einschränkungen «(haben wir) für das Festival eine digitale Form gefunden, die dem Publikum und Fachpersonen einen sicheren Zugang zu den kühnen und einzigartigen Werken ermöglicht, die für das 52. Festival ausgewählt worden sind», schrieb Raymond Loretan, der Präsident des Festivals, zur Eröffnung.
Und plötzlich war alles anders: Entgegen allen bisherigen Informationen sah Festivaldirektorin Emilie Bujès ihren hoffnungsvollen Optimismus belohnt, und es gab merkwürdige Koinzidenzen: Einen Tag bevor Bundesrat Alain Berset am 15. April anlässlich der Eröffnung des Festivals seine Grüsse als «Kulturminister» noch virtuell überbrachte, hatte er vorgängig als «Gesundheitsminister» an einer schweizweit erwarteten Medienkonferenz für die folgende Woche Lockerungen von Corona-bedingten Vorsichtsmassnahmen bekannt gegeben und u.a. auch die Wiedereröffnung der Kinos signalisiert. Das Festival liess mit der Verbreitung seiner Schlussfolgerung nicht lange auf sich warten:
Mit vier Publikumstagen feiert das Festival die Wiedereröffnung der Säle
«Als erstes Festival der Schweiz (und als eines der ersten weltweit) können wir Schritte in die ‹Normalität› zurückmachen. Wir sind überglücklich, in der zweiten Festivalhälfte unser Publikum wieder vor Ort empfangen zu können! Wenn wir das Festival letztes Jahr innerhalb von kürzester Zeit ins Netz verlegt haben, gehen wir nun den umgekehrten Weg und kehren innerhalb weniger Tage ins Kino zurück», freute sich Emilie Bujès, ganz nach der Devise von Festivalpräsident Raymond Loretan: «So virtuell wie nötig und so physisch wie möglich» kommentierte er.
Ab Donnerstag, den 22. April, öffnet das Festival bis zum Abschluss am 25. April seine Türen für das allgemeine Publikum in den Kinos Capitol, Grande Salle und Usine à Gaz. Im Rahmen der für Kulturanlässe erlaubten Teilnehmerzahl werden 57 Vorführungen von Filmen aus dem Programm des Internationalen Wettbewerbs, des Wettbewerbs Burning Lights, des Nationalen Wettbewerbs und des Wettbewerbs Grand Angle stattfinden.
Indessen werden seit Sonntag auch gegen 170 nationale und internationale Filmschaffende und Vertreter*innen der Filmindustrie erwartet, neben dem Ehrengast Emmanuel Carrière auch einige Regisseurinnen und Regisseure des internationalen Wettbewerbs Langfilm und anderer Sektionen. Das hybride Industry-Programm empfängt neben der künstlerischen Leiterin des Sundance Film Festivals Tabitha Jackson u.a. auch Carlo Chatrian, den künstlerischen Leiter der Berlinale. Für Interessenten ist die laufende Aktualisierung der Festivalwebsite höchst spannend
Zum Programm
142 Filme aus 58 Ländern sind aus 3000 Einsendungen für die diesjährige Festivalausgabe ausgewählt und programmiert worden. 82 Filme werden als Weltpremiere und 16 als internationale Premiere vorgestellt. Der Internationale Wettbewerb, der erneut auch von einer aus vier Mitgliedern bestehenden interreligiösen Jury online beurteilt wird, umfasst 13 Filme, davon 9 Weltpremieren und 4 Internationale Erstaufführungen aus 20 Ländern. Er zeigt den zeitgenössischen Dokumentarfilm in einer breiten und offenen Definition. Zu den weiteren Sektionen gehört unter anderen der Wettbewerb «Burning Lights», der sich mit 15 Lang- und mittellangen Filmen aus 15 Ländern neuen Filmsprachen und Stimmen, künstlerischen Recherchen und dem narrativen und formalen Experiment widmet. Der «Nationale Wettbewerb» zeigt 12 mittellange und lange (Ko-)Produktionen aus der Schweiz und die Sektion «Grand Angle» 11 Filme, die bereits auf anderen Festivals überzeugt haben.
Eröffnung des Festivals
Zur offiziellen Eröffnung des Festivals am 15. April, die ab 19h30 per Livestream aus der Uzine à Gaz in Nyon übertragen wurde, sprachen neben Bundesrat Alain Berset unter anderem auch Staatsrätin Cesla Amaralle und Nyons Gemeinderätin Fabienne Freymond Cantone.
Danach folgte als Eröffnungsfilm aus der Sektion «Nationaler Wettbewerb» die Weltpremiere des Films «Les Guérisseurs» (Healers) von Marie-Eve Hildbrand (Schweiz 2021), der danach im Rahmen einer Spezialsendung am Freitag, 16. April um 20h15 auch von RTS2 ausgestrahlt und von Festivaldirektorin Emilie Bujès mit der Filmregisseurin diskutiert wurde. Ausgehend davon, dass der in Rente gehende Landarzt Dr. Hildebrand, einen Nachfolger sucht, eröffnen sich in «Les Guérisseurs» Fragen der Berufung und der tieferen Sinnhaftigkeit eines Dienstes am Anderen. Marie-Eve Hildebrand interessiert sich für die menschliche Seite eines Gesundheitssystems in tiefgreifendem Wandel.