Ich habe doch nichts getan
Die Ökumenische Jury Oberhausen 2015, v.l.: Eberhard Streier, Franz Indra, Theresia Merz, Theo Peporté
"Aber ich habe ihm doch nichts getan, ich habe ihm nichts angetan!", jammert der Mann mit den auffälligen Gesichtszügen. Er stellt Judas dar. Gleich wird er sich eine Ku-Klux-Klan-artige Kapuze überziehen und mit seinen Kompagnons die große Holzfigur auf einem Lastwagen durch die Straßen fahren, um den Verräter symbolisch zu verbrennen.
Es ist keine schöne österliche Tradition, die sich der spanische Regisseur David Pantaleón für La pasión de Judas (The Passion of Judas) ausgesucht hat, wird hier doch ganz unchristlich die Rache zelebriert. Seine Wirkung entfaltet der Film aber vor allem, da er den Brauch nicht einfach dokumentiert hat: Eine Laientruppe von Menschen mit Handicap inszeniert ihn sozusagen öffentlich, in klar gesetzten Bildern fotografiert. Dafür wurde er von der Ökumenischen Jury, bestehend aus den Medienpädagogen Theresia Merz und Eberhard Streier, dem Vizepräsidenten von Signis Europa, Théo Peporte, und dem Filmemacher Franz Indra, ausgezeichnet.
Leicht fiel darüber hinaus die Wahl für die Kaufempfehlung eines Kinder- oder Jugendfilms: Tisina Mujo (Der stille Mujo) von Ursula Meier ist ein Film, in dem alles passt: die überraschende Wendung vom Fußballplatz zum Friedhof, wo der verschossene Ball gesucht werden muß; die beiläufige Verortung im heutigen Sarajewo; die akzentuierte Bildsprache; der wortkarge Dialog auf Augenhöhe zwischen Trauernder und Kind.
Freilich gab es im Internationalen Wettbewerb eine Vielzahl weiterer bemerkenswerter Werke, die eine erstaunliche Bandbreite abdeckten. Diese begann bei mit sehr genauem Blick gedrehte Studien; beispielhaft genannt seien hier Renunciation von Ieva Epnere aus Lettland, in dem ein Pfarrer und zwölf Bäuerinnen sorgsam ihre Trachten anlegen, bevor sie in die Kirche gehen und gemeinsam singen, Earth and Shape des kasachischen Regisseurs Alexander Ugay, der halb heruntergekommene auf futuristische Architektur treffen läßt und mit ihr das heutige Leben auf das alte Olympia, sowie Paradies, in dem der Schweizer Max Philipp Schmid einen auch inszenatorisch von feinem Humor durchzogenen Blick auf das Kleingärtner-Glück hinter hohen Hecken und Zäunen wirft. Weiter ging es über visuelle Vignetten wie Panchrome I, II, III von T. Marie aus den USA oder Haus und All der Österreicherin Antoinette Zwirchmayr zu klassischen Animations- und Experimentalfilmen, etwa Descent von Johan Rijpma aus den Niederlanden oder Love Me der Kanadierin Barbara Sternberg, der nur aus Text besteht. Schließlich gab es auch geradezu erbarmungslose autobiographische Analysen. Im mit dem Hauptpreis ausgezeichneten Film 32 and 4 verfolgt Chan Hau Chun mit der Kamera ihre schon lange getrennt lebenden Eltern in deren winzige Wohnungen in Hong Kong. My Mommy aus Norwegen zeigt die Therapie-Sitzung einer als Kind mißbrauchten Frau - der Film endet mit einem schrecklichen Kameraschwenk auf den beobachtenden Regisseur, ihren Sohn.
Umgekehrt trafen die Jurys bei der stattlichen Anzahl von Preisen auch Entscheidungen, mit denen man nicht unbedingt einverstanden sein muß - allerdings wäre bei dieser Auswahl nichts irritierender gewesen als einheitliche Urteile. Oberhausen bleibt sich treu, im besten Sinne. Das nach eigener Auskunft älteste Kurzfilmfest der Welt hat weiterhin viele Filme im Programm, die zu zeigen sich andere Festivals nicht trauen würden: zu experimentell, zu wenig zugänglich, zu "schwierig". Hier kann man halbstündige Filme ohne Dialog sehen, abstrakte Bildkompositionen (mit oder ohne Computer erzeugt), Einblicke in fremde Innenwelten und auch ein paar einfach bizarre Stücke. Bei den Kurzfilmtagen ist tatsächlich der narrative Film der Exot.
Über 500 Filme in knapp 60 Blöcken - trotz sieben (!) Zeitschienen wurden nur die wenigsten Programme wiederholt, was sicher auch an den begrenzten Räumlichkeiten liegt. Neben den drei Wettbewerben, den Kinder- und Musik-Reihen gab es gleich fünf Retrospektiven, Programme von Verleihern und aus verschiedenen Archiven und viele Specials. Man würde den Kurzfilmtagen fast ein wenig mehr Beschränkung wünschen. Mit dieser Fülle hätte man problemlos eine weitere Woche bespielen können; so mußte man einiges verpassen, was das Interesse geweckt hatte. Godard im 3D-Programm, Jennifer Reeder, der deutsche Wettbewerb, das Super8-Fühwerk von Derek Jarman (ganz zu schweigen von den Diskussionsveranstaltungen), es war einfach zu wenig Zeit.
Festivalleiter Lars Henrik Gass hat die 61. Auflage der Kurzfilmtage gewohnt souverän gemeistert, nichts merkte man von kurz erwähnten katastrophalen Ausfällen wenige Wochen vor Festivalbeginn. Eher kann man den Eindruck gewinnen: Bürgermeister kommen und gehen, Gass bleibt. Und für den in der Abschlußrede wie nebenbei erwähnten Vorschlag, ein schon lange leer stehendes Kino als weitere Veranstaltungsstätte zu reaktivieren, wünschen wir viel Glück!