Identität, Diversität und Differenz aus der Perspektive Jugendlicher

Notizen vom 62. Internationalen Filmfestival für Kinder und Jugendliche in Zlín
Ökumenische Jury Zlín 2022

Die Ökumenische Jury in Zlín 2022, v.l.: Barbora Cihelkova, Adriana Răcășan, Kathrin Rudolph


Nach zwei besonderen Jahren hat sich das Internationale Kinder- und Jugendfilmfestival in Zlín selbst gefeiert. Spürbar wichtig war es den Veranstaltern, jetzt wieder an den angestammten Platz im Jahr Ende Mai/Anfang Juni zurückzukehren, der auch vom Wetter her optimale Fest-Bedingungen schafft. Und die Atmosphäre war herausragend, nicht nur wegen der hohen Professionalität von Festival und Filmen, sondern auch wegen des Publikums. Schon der tschechisch-slowakische Eröffnungsfilm hat einen Saal mit mehreren hundert Grundschülern derart in den Bann gezogen, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.

Eine Woche lang gab es nun in zahlreichen Kategorien Wettbewerbsbeiträge, und absolut verdient ging der Hauptpreis der Kategorie „Jugend“ an die ukrainisch-schweizerisch-französische Koproduktion „Olga“ des Regisseurs Elie Grappe. Der Spielfilm schaut zurück ins Jahr 2013 und erzählt die Geschichte einer 15-jährigen Leistungssportlerin, die im ukrainischen Gymnastik-Nationalteam trainiert. Da ihre Mutter als Journalistin die Janukowytsch-Regierung unter Druck setzt und ihr Leben durch Anschläge bedroht ist, soll Olga in die Schweiz gehen. Während Olga versucht, sich an das neue Team und die neuen Lebensbedingungen zu gewöhnen, brechen in Kyjiw die Unruhen auf dem Maidan aus.


Olga ist über das Smartphone ihrer besten Freundin mitten drin und muss sich entscheiden, ob sie zurückkehrt und ihre Solidarität zeigt oder ihren Traum vom Spitzensport weiterverfolgt. Der Film ermutigt überzeugend dazu, selbst dann Lebensentscheidungen zu treffen, wenn ihr Ausgang nicht absehbar ist. Und mitnichten war es eine politische Entscheidung, den Film zu prämieren. Er überzeugt von der durchgehaltenen Dramaturgie ebenso wie von der Kameraführung und dem Ton.

Seit 22 Jahren vergibt auch eine Ökumenische Jury einen eigenen Preis in Zlin. In diesem Jahr ging er an den intensiven US-amerikanischen Film „Coast“ des Regisseure Jessica Hester und Derek Schweickart, der ebenfalls im Wettbewerb in der Kategorie „Jugend“ zu sehen war. Die 16-jährige Protagonistin Abby möchte nichts lieber, als ihre Kleinstadt an der Küste verlassen. Im Tourbus einer durchreisenden Band scheint die Möglichkeit zum Greifen nah. Dass und warum die Protagonistin schließlich doch ihren Frieden mit der eigenen Situation macht, ist plausibel und herzergreifend erzählt.

 

Neben Abby und ihrer Clique lernen die Zuschauer:innen auch verschiedene erwachsene Bezugspersonen von ihr kennen, die wenig falsch machen, aber für die Heranwachsende eben doch einem anderen Universum zu entstammen scheinen. Die Hilflosigkeit seitens der Erwachsenen, die trotzdem an der Wendung gegen Ende wesentlich beteiligt sind, macht die Geschichte zu einem Film für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen. Abby jedenfalls kann sich schließlich zu ihren Wurzeln bekennen und den Begriff „Heimat“ für sich füllen, ohne diese verlassen zu müssen. Die Jury fühlte sich an die Geschichte vom „verlorenen Sohn“ erinnert bzw. mehr noch an den daheim bleibenden Bruder, dessen Geschichte hier neu erzählt wird.

Mit einer „Lobenden Erwähnung“ hat die Ökumenische Jury den niederländischen Film „Bigman“ von Camiel Schouwenaar in der Kategorie „Junior“ bedacht. Im Gegensatz zu vielen anderen Produktionen, die auf dem Festival zu sehen waren, ist er eher konventionell erzählt. Der 13-jährige Dylan und sein Freund Youssef wachsen im vom Fußball geprägten Rotterdam auf. Dylans Vater ist Trainer bei einem Regionalverein, auch zu Hause werden schon beim Frühstück erfolgversprechende Aufstellungen besprochen. Vater und Sohn kabbeln sich nach der Art „echter“ Männer auch scherzhaft physisch, wenn die Meinungen auseinander gehen. Dann passiert das Unvorstellbare: ein Unfall zwingt Dylan in den Rollstuhl, der Traum von der Karriere als Fußballprofi ist aus.


Wir sehen, wie Vater und Sohn ihre Träume an die Realität anpassen müssen, wie sich physische Limitationen auf stark kompetitive Umgangsformen auswirken, aber vor allem auch die Stärke einer Jungenfreundschaft. Dass Youssef seinen eigenen Weg weitergehen kann, während Dylan zu einem Kurswechsel gezwungen ist, führt realistischerweise zu Konflikten, an denen beide wachsen. Das jugendliche Publikum war während der Vorführung sehr angetan und beteiligte sich engagiert im Nachgespräch mit Drehbuchschreiber, Regisseur und Hauptdarsteller. Der Film ist sicher geeignet, um in Schulklassen oder jüngeren Jugendgruppen die Themen Vater-Sohn-Beziehungen, Freundschaft und Behinderungen ins Gespräch zu bringen.

Auf den ersten Blick etwas überraschend ob seiner Schwere und seines bitteren Endes gewann der chilenische Film „My Brothers Dream Awake“ von Claudia Huaiquimilla den Publikumspreis des Festivals. Er spielt bis auf wenige Rückblenden vollständig in den Mauern eines Jugendgefängnisses, und zwar noch zu Beginn der Jugendaufstände, die für Chile eine Zeitenwende bis hin zum (noch nicht verabschiedeten) neuen Verfassungsentwurf bedeuteten. Die Regisseurin gehört selbst zur indigenen Bevölkerung Chiles und hatte bereits in ihrem ersten Film die Themen Mobbing, Entwurzelung und Identitätskrise anhand der Situation von Jugendlichen beleuchtet.


Auch im Wettbewerbsbeitrag in Zlín stehen die Jugendlichen offensichtlich pars pro toto für die chilenische Gesellschaft als solche. Die Darstellung der Gemeinschaft innerhalb der Gefängnismauern erinnert manchmal mehr an ein behütetes SOS-Kinderdorf, als man es von der Realität erwarten würde, und markiert damit den allegorischen Charakter des Films. Und doch haben die jugendlichen Protagonisten keine wirkliche Chance auf ein Leben, zu brutal sind und bleiben die Rahmenbedingungen, die jede Perspektive ersticken. Dieser Film bleibt lange im Gedächtnis.

Dem Zlín-Filmfest ist ob der Diversität seiner Wettbewerbsbeiträge zu gratulieren. Die Bandbreite der Themen und Herkunftsländer war groß, obwohl Filme für Kinder und Jugendliche nur in wenigen Ländern wie in Deutschland einen vergleichsweise hohen Marktwert haben (abgesehen vielleicht von der Animationstradition in Tschechien selbst, was mit zur Gründung des Festivals vor 62 Jahren geführt hat). In diesem Jahr fand zum ersten Mal ein Koproduzenten-Forum statt, um auch Filmschaffende aus solchen Ländern zu fördern, in denen es bisher schwierig ist, Kinder- und Jugendfilme zu produzieren. Dem Festival und seinen Programmgestalter:innen ist also viel Erfolg auch für die kommenden Jahre zu wünschen!