1,2 Milliarden Menschen. Ein Land so groß wie ein Kontinent. 1.652 Sprachen und Dialekte, zuletzt aufgelistet in einer 1971 publizierten Erhebung der Sprachen Indiens. Hindi gilt seit 1950 als offizielle Sprache der indischen Föderation, dennoch werden weitere 15 Sprachen, darunter Englisch zu den Hauptsprachen gezählt. 800 Filme werden jährlich in Indien gedreht, Filme, die nicht nur die Sprachenvielfalt, sondern auch eine kaum zu überbietende Symbiose von Genres und Stilen, kommerziellen und politischen, sozialkritischen und künstlerischen Absichten reflektieren. Vom indischen Kino zu sprechen, ist so unmöglich wie die Menschheit in einem Satz einzuschließen.
Wer sich an eine Retrospektive des indischen Films wagt, muss gute Nerven, enorme Vorstellungskraft und entscheidungsfreudige Mitarbeiter haben. Die ehemalige Filmkritikerin Irene Bignardi, seit zwei Jahren Direktorin des Festival internazionale del film Locarno, verfügt über all dies. Wie der diesjährige Wettbewerb des Festivals ausfallen wird, das schon immer eher für seine Retrospektiven berühmt war, ist nach der Hälfte des Programms offen. Der " Indische Sommer" jedoch, der 30 Produktionen aus den letzten 25 Jahren indischer Filmgeschichte umfasst und von Uma da Cunha, der Kuratorin der Retrospektive, allzu bescheiden als der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein beschrieben wird, trägt von Tag zu Tag zum Glück der Besucher bei. Was hier entdeckt, wiedergesehen und im Kontext einer bestechend klugen Auswahl neu eingeordnet werden will, könnte das Fundament legen für künstlerische und ideelle Grenzüberschreitungen.
Baz Luhrmann hat sich für seine Variante des Musical-Recyclings von Bollywoods Glamour einnehmen lassen und in Moulin Rouge eine "typisch" indische Tanzeinlage eingebaut. Wo aber ist der europäische Regisseur, der die Filme des 1992 verstorbenen Satyajit Ray kennt und sich von dem Meister des differenzierten indischen Films zu einer Auseinandersetzung mit den Konflikten multiethnischer und multireligiöser Gesellschaften beflügeln lässt, so wie Ray dereinst jenseits der Sprachbarrieren in De Sicas neorealistischem Klassiker Fahrraddiebe die gemeinsame Sprache des Humanismus erkannte? Warum berufen sich westliche Experimentalfilmer nicht auf den 1942 geborenen Filmemacher und Maler Mani Kaul, der anstelle des Raums, der eine Erzählung organisiert, in Bildern von buchstäblich aufgelöster Bedeutung auf einem indischen Fluss das akausale und non-narrativeVerfließen der (filmischen) Zeit beobachtet?
Ignoranten sind wir, und solcher Retrospektiven auch außerhalb eines Film-Festivals bedürftig, um die Bildungslücke Europa zu schließen. Auch dann, wenn wir den einen oder anderen preisgekrönten Film von Satyajit Ray, Mrinal Sen oder Ritwik Ghatak kennen. Gerade dann, wenn seit dem Erfolg von Laagan Bollywood auf den verknappten Begriff der farbenprächtigen Romanze mit Tanz- und Gesangseinlagen gebracht wird. Wie komplex selbst ein Film sein kann, in dem eine indische Miss World sich in 20 verschiedenen Saris, paillettenbesetzen Minis und einem betörenden Lisa-Minelli-Outfit als Tänzerin beweist, die eines Partners wie Fred Astairs würdig wäre, zeigt Mani Ratnams 1997 entstandener Film Iruvar (The Duo). Mehr noch als in Laagan stellen sich hier die Tanzeinlagen in den Dienst eines ebenso vergnüglichen wie kritischen Politik-Unterrichts.
Ein Schauspieler und ein Drehbuchautor treten in jungen Jahren einer neu gegründeten tamilischen Partei bei. Der Drehbuchautor steigt zum Premierminister auf und scheitert an der Durchsetzung seiner Ideale. Der Schauspieler glaubt, Korruption und Armut besser bekämpfen zu können und gründet eine rivalisierende Partei. Anstelle eines Parteiprogramms stellt er Filme vor, in denen er die Revolution besingt. Der Schauspieler wird der nächste Premierminister sein, doch die Korruption ist nicht abwählbar. Iruvar ist eine beinah dreistündige Explosion von Schaulust und Pathos. Die Botschaft an Millionen von indischen Kinogängern lautet dennoch: Liebt die Illusion, aber durchschaut sie.
Ein besonderer Coup ist dem Festival mit der Erstaufführung des neuen Films von Mrinal Sen gelungen. Aamaar Bhuvan (This, My Land) erzählt eine vertrackte Scheidungsgeschichte, die in einem bengalischen Dorf obendrein die Armut eines Ehepaars, das Sohn und Tochter hat, mit dem Reichtum eines kinderlosen Paars konfrontiert. Das reiche Paar gewinnt die Zuneigung des kleinen Sohns aus armem Hause. Mord und Totschlag scheinen vorprogrammiert, zumal der Wohlhabende der Ex-Ehemann der mittellosen Mutter ist. Dass nichts passiert, ist Mrinals Sens Antwort auf eine gewalttätige, von Klassenunterschieden und Religionskriegen zerrissene Welt. So wie der Film in einem für indische Filme revolutionärem Maß auf jede religiöse Geste verzichtet, konzentriert sich auch die Bewältigung des Konflikts auf die Dimension des "rein Menschlichen". Geld, Status und Erziehung spielen ihre Rolle, doch verlangt der Regisseur, der 50 Jahre des indischen Filmschaffens geprägt hat, seinen Protagonisten ab, was im indischen Kino lange undenkbar war: Eine individuelle Entscheidung, die Privilegien und Unterwürfigkeit gleichermaßen bannt und unterschiedslos auf die Vernunft des Herzens setzt