Das Kino ist eine universelle Gedächtnisleistung. Das gilt für fiktive Geschichten, die neue Erinnerungen schaffen oder alte Erzähltraditionen wiederbeleben, ebenso wie für den Dokumentarfilm. Die Verbindung zwischen Fiktion und Dokumentation ist das Ringen mit dem Vergessen. Diesen Kampf führt der 1963 in Osaka geborene Regisseur Funahashi Atsushi mit seinem Schwarz-Weiß-Film Deep in the Valley so exemplarisch, dass Realität und Fiktion wie Bruder und Schwester erscheinen, die sich auf ihren gemeinsamen Ursprung besinnen. Zu Beginn glaubt man sich in einem Dokumentarfilm. In Yanaka, einem alten Viertel in der Tokioter Innenstadt, hebt die allmorgendliche Beschäftigung mit den Toten an. Das Viertel ist berühmt für seine zahlreichen und uralten buddhistischen Tempel und Friedhöfe. Eine Friedhofswärterin schrubbt Grabsteine, ein Priester zelebriert Gedenkgottesdienste. Doch unversehens ist schon das Mädchen durchs Bild geradelt, das sich als die Heldin der in die Wirklichkeit eingelassenen Spielfilmhandlung erweist. Im Dienst einer gemeinnützigen Organisation, die hausgemachte Super-Acht-Filme sammelt und restauriert, ist Kaori auf der Suche nach einem Schatz. 1957 ist die berühmte „Five-Story-Pagoda“ des Viertels abgebrannt. Einen Film zu finden, der den Brand dokumentiert, könnte der Gemeinde Trost spenden: In realen Interviews beklagen vor allem die alten Bewohner von Yanaka, wie sehr ihnen die Pagode als spiritueller Mittelpunkt fehlt. „Wir haben ihren Anblick immer für normal gehalten“, sagt eine alte Frau, „erst als sie weg war, wurde uns klar, dass sie was Besonderes war.“ Sie habe sich, sagt eine andere, im Labyrinth der Grabsteine immer an der Pagode orientieren können.“ „Die Errettung der äußeren Wirklichkeit durch den Film“ (so der Untertitel der Filmtheorie von Siegfried Kracauer) funktioniert hier so doppelbödig, elegant und passioniert, dass man am liebsten eine DVD von Deep in the Valley auf Kracauers Grab legen möchte. Über die Suche nach den reliquiengleichen Bildern vom Verglühen der Pagode kommen Moderne und Tradition in Kontakt. Atsushi skizziert aber auch eine (ver)gammelnde Jugend, die die Alten ausbeutet. In die Tempel, klagt ein realer Priester der Kamera, kämen die Japaner auch nur noch selten, obendrein hätten sie sich eine Patch-Work-Religiosität zugelegt, die es ihnen erlaube, auch Weihachten zu feiern. Der Film erhebt sich im Tal des Vergessens als Leuchtfeuer, Orientierungshilfe und Abgesang zugleich.
Die asiatischen Filme des diesjährigen Forums-Programms weisen nicht alle diese makellose, Poesie und Reflexion integrierende Haltung auf, aber man kommt an ihnen nicht vorbei. Ein vierstündiger Film wie Love Exposure von Sono Sion kommt einem nach zwei, drei Stunden wie ein Fluch vor, aber vom Vergessen ist er nun wirklich nicht bedroht. Love Exposure zeigt die Kehrseite von Funahashi Atsuhis Hoffnung. Frech, monströs, vulgär und komisch, spielt sich ein in traditionellen Kong-Fu-Künsten und postmoderner Überdrehung ebenso begabtes Schauspielteam durch unwahrscheinlich wahrscheinliche Verfallsszenarien. Im Mittelpunkt steht der wohlerzogene Yu, dessen Mutter früh stirbt und ihm ans Herz legt, dereinst ein Mädchen zu heiraten, das keusch ist wie Maria. Yus Vater macht seinen christlichen Glauben zur Profession und wird Priester. Nachdem ihm eine japanische Sirene verleitet und verlassen hat, entwickelt sich der sanfte Mann zum Großinquisitor. Fortan muss Yu ihm täglich beichten. Seine Sünden sind so lässlich, dass er dazu übergeht, seinem Vater zur Freude ein Bösewicht zu werden. Das Verhältnis zu einem Meister, der hier nicht martial art, sondern die Kunst der Upskirt-Photographie lehrt, wird ebenso köstlich karikiert wie der japanische Schulmädchen-Fetischismus. Yus Verwegenheit beim Erschleichen der Höschen-Photographie macht ihn zum König aller Freaks. Bedauerlicherweise weiß seine als Kampf-Lesbe auftauchende Maria nicht, dass Yus vermeintliche Perversion einem bizarren Verständnis von Katholizismus entstammt. Es folgen Abstecher in allerlei Kindheitstraumata. Missbrauch, Inzest und Sadismus reimen sich hier auf die Anfälligkeit für Sekten. Die japanische Maria wird einer Gehirnwäsche unterzogen. Wer nie gezwungen war, sich quietschbunte Zeichentrickfilme anzuschauen, in denen die japanische Version von Heidi großäugig Kinderschänderland entdeckt, bevor sie sich von einem Hund zum Orgasmus verhelfen lässt, dem kann Love Exposure einen angemessen grotesken Eindruck in die Bandbreite gängiger japanischer Bild- und Glaubensobsessionen vermitteln.
Ein konventionell, kurz und zurückhaltend erzählter Spielfilm wie Treeless Mountain von So Yong Kim, erscheint dagegen zunächst als Wohltat. Doch die Stille, die über den Bildern der südkoreanischen Regisseurin liegt, täuscht. Sie liegt wie eine schwere Decke über dem Schicksal der sechsjährigen Jin und ihrer kleinen Schwester Bin. Als der Schutz der Gewohnheit fortgezogen wird, müssen sich die beiden Kinder einem Leben in Kälte und Verlassenheit stellen. Überfordert und alleinerziehend, lässt ihre Mutter sie bei einer alkoholsüchtigen Schwägerin zurück. Sie werde wiederkommen, sagt die Mutter, wenn das Plastikschwein der Kinder sich mit Münzen gefüllt haben. So verfallen die Mädchen darauf, Heuschrecken zu fangen, zu grillen und zu verkaufen. Der Erlös füllt ihr Schwein, doch nicht ihre Herzen. Unfähig, sich um sich selbst zu kümmern, bringt die Säuferin die Kinder schließlich zu den Großeltern mütterlicherseits. Die Bewegung der herzzerreißend (gut) spielenden Kinder ist gegenläufig zum Ziel der meisten Koreaner. Sie führt von der Stadt zurück aufs Land. Bei ihrer gütigen, hart arbeitenden Großmutter finden die Kinder eine Heimat und das Plastikschwein seine Bestimmung: Mit seiner Hilfe können die Kinder ihrer Oma neue Schuhe schenken.
Facetten von Entwurzelung gehören schon seit über zehn Jahren zu den Charakteristika der asiatischen Filme des Forum-Programms. Doch scheint ihre Intensität zuzunehmen. Bei So Yong Kim taucht das Motiv eines abgebrochenen Zweiges auf, den die Kinder vegeblich in die Erde stecken. Ein Kinderspiel verdichtet sich zur Klage. Mit der Sehnsucht der Kinder wachsen die schlichten Bilder über sich hinaus. Eine letztlich glückliche „Verpflanzung“ wie die aus Treeless Mountain ist die Ausnahme. Sie ist übrigens die Geschichte der 1968 in Pusan geborenen Regisseurin.