Ein Ereignis ist das Erscheinen der Dissertation von Julia Helmke für die Evangelische Filmarbeit. Dies gilt besonders auch für INTERFILM. Die Erinnerungskultur, die die Entscheidungen der Gegenwart mit dem Denken und Handeln der Vergangenheit konfrontiert, hat endlich auch die Filmarbeit der Kirchen erreicht. Ich gestehe, dass ich als langjähriger Präsident von INTERFILM manches anders angepackt hätte, wenn ich all das gewusst hätte, was Julia Helmke zusammengetragen hat. Aber auch die Evangelische Kirche insgesamt sollte dieser Arbeit große Aufmerksamkeit schenken. Denn die Filmarbeit der Kirchen ist weit und breit der einzige Bereich, in dem die Evangelische wie die Katholische Kirche einen langen (mindestens 60 Jahre) kontinuierlichen und umfassenden Dialog mit einem autonomen Kultursektor europaweit und weltweit führt. Weder von dem Dialog mit der Literatur, dem Theater. der Musik aller Sparten, nicht einmal von dem Dialog mit der Bildenden Kunst lässt sich Vergleichbares sagen.
Julia Helmkes Arbeit ist schwerpunktmäßig eine historische Recherche, die sie am Ende systematisch in den Ertrag für die Bewertungskriterien der Arbeit der kirchlichen Jurys auf Filmfestivals auszuweiten sucht Mit der Beschränkung auf die Jahre 1948-88 und auf die Evangelische Filmarbeit sind prägnante Exkurse auf die Vorgeschichte und die Nachgeschichte, auch auf die Katholische Filmarbeit, verbunden. Nationale und internationale Entwicklungen überschneiden sich, und so ist die Dissertation Helmkes neben einer Darstellung der Geschichte von INTERFILM und ihrer Arbeit auf Filmfestivals auch eine Geschichte der Evangelischen Filmarbeit in Deutschland. Die Quellenlage ist, vor al!em im Bereich von INTERFILM, katastrophal, wie sich das bei einer weithin nebenamtlichen und ehrenamtlichen Tätigkeit zu ergeben pflegt. Bravourös hat Julia Helmke diese Schwierigkeit gemeistert. Ganze, längst vergessene Problembereiche werden ans Licht gebracht, wie die frühe Diskussion über den Film als Gleichnis spiritueller Erfahrungen oder über den Unterhaltungsfaktor des Films. Und das Profil von Pionieren der nationalen und vor allen Dingen der internationalen Filmarbeit, wie Werner Hess, Friedrich Hochstrasser, Jan Hes, Dolf Rindlisbacher, Gerd Albrecht, auf katholischer Seite von Ambros Eichenberger, tritt deutlich und klar heraus.
Julia Helmke periodisiert die Geschichte der nationalen evangelischen Filmarbeit in Deutschland. Auf eine Aufbruchszeit mit dem Stichwort vom „Wächteramt der Kirche und der "Magna Charta" der Evangelischen Filmarbeit, der „Schwalbacher Entschließung" von 1950, die dankenswerter Weise in vollem Wortlaut abgedruckt wird, folgt eine Zeit der wachsenden Spannung zwischen progressiven (1968!) und beharrenden Tendenzen. Die Epoche, in der die filmästhetischen Fragen, aber auch die Suche nach spiritueller Vertiefung und theologischer Standortbestimmung die Diskussion prägen, mündet dann schon in die Gegenwart hinein.
Aber längst hat sich, 1955 in Paris, die protestantische Filmarbeit verschiedener europäischer Länder auf der Basis des "Ökumenischen Rates der Kirchen" in INTERFILM zusammengeschlossen, und dieser internationalen Ebene gilt die besondere Aufmerksamkeit der Studie. Spannend ist es, noch einmal mitzuerleben, wie nach einer Anfangsebene des Informationsaustauschs über Ländergrenzen hinweg die Diskussion über eine Beteiligung an der Juryarbeit einsetzt und durchaus kontrovers geführt wird. Der erste Film, den INTERFILM - noch auf einer eigenen Tagung - prämiert, ist lngmar Bergmans WILDE ERDBEEREN. Die Untersuchung focussiert sich immer mehr auf Berlin und Cannes: Erste INTERFILM-Jurys auf der Berlinale 1963, in Cannes 1968. Die Zeit der Ökumenischen Jurys, gemeinsam mit der Katholischen Filmarbeit, zieht langsam herauf: Eher pragmatisch, manchmal auf Druck von außen, als Experiment, das sich bewährt und auf Dauer steift. 1973 die erste Ökumenische Jury in Locarno, 1974 in Cannes, erst 1992 in Berlin. Krisen der kirchlichen Filmarbeit wie die Auseinandersetzung um die FRAGE 7 1962 in Bertin oder der Eklat bei der Zurückweisung des Preises der Ökumenischen Jury für seinen Film HÖHENFEUER durch Fredi Murer (wegen der Begründung zur Preisverleihung) 1985 in Locarno werden ausführlich beleuchtet und diskutiert.
Am Ende werden für die 60er, 70er und 80er Jahre ausgewählte Preisträgerfilme der Kirchenjurys von Cannes und Berlin vorgestellt und in ihrer Auswahl und Begründung hinterfragt. Da ist es dann endgültig klar, dass die kirchliche Filmarbeit einen engen, gar einen konfessionellen Kirchenblick weit hinter sich gelassen hat. EASY RIDER, ANGST ESSEN SEELE AUF, PADRE PADRONE oder CAMORRA lassen sich auf einfache Formeln nicht mehr bringen.
Aber die Frage nach den Bewertungskriterien einer Kirchenjury bleibt. Sieben Kriterien hat Julia Helmke für die Bewertung von Filmen durch kirchliche Jurys bei ihrem Gang durch die 40 Jahre herausgefunden. Sie stellt sie abschließend in systematischer Erörterung vor: Moral, Unterhaltung, Lebenswirklichkeit, Nähe zur biblischen Botschaft, Sozial- und Gesellschaftskritik, Verantwortung. Hoffnung. Unterschiedliches Gewicht haben die Kriterien natürlich und zeitgeschichtliche Bedingtheiten gibt es außerdem. Als Leitkriterium für die Evangelische Filmarbeit aber stellt die Autorin das ,,Menschenbild" heraus. Einen weiten Rahmen eröffnet dieses Kriterium, das von einer biblischen Begründung über die ethische Herausforderung des Menschen bis zum „Möglichkeitshorizont“ reicht, der den Weg in eine andere Zukunft des Menschen öffnen will.
Eine kontroverse Debatte ist damit eröffnet. Filmkritik und Filmbeurteilung ohne Bewertung gibt es nicht. Aber wie sehen die Kriterienkataloge aus? Fast hätte mich Julia Helmke davon überzeugt, dass die Kriterien (und das heißt doch: im Rahmen der bisherigen Erörterungen) zwar nicht die ganze Bewertungsarbeit ausmachen, aber der „wichtigste Teilbereich von Bewertungsarbeit sind" (J. Helmke, S. 359). Bis mir auf einmal deutlich wird. dass an dieser Stelle sich Julia Helmke mit den eigenen Waffen schlägt. Denn die sieben Kriterien, die sie für mögliche Bewertungskataloge herausgefunden hat, sind alle inhaltlicher Natur. Die zunehmende Beachtung und Unerlässlichkeit von filmästhetischen Fragen für die Beurteilung von Filmen hat sie aber gerade selbst - mit großer Zustimmung - herausgestellt. Solange es uns nicht gelingt, die filmästhetischen Fragen in Gleichberechtigung und Interdependenz mit den inhaltlichen Fragen in unsere Kriterienkataloge aufzunehmen, fallen meiner Meinung nach die Entscheidungen nur zum Teil auf dieser Ebene. Das Niveau der kirchlichen Filmarbeit aber wird von den Grenzgängern abhängen, die theologische und filmästhetische Kompetenz in irgendeiner Weise miteinander vereinen. Wie es an Julia Helmke selbst zu studieren ist.
Julia Helmke: Kirche, Film und Festivals. Geschichte sowie Bewertungskriterien Evangelischer und Ökumenischer Juryarbeit in den Jahren 1948-1988. Studien zur christlichen Publizistik Band XI. Christlicher Publizistik Verlag, Erlangen, 2005, 482 Seiten, EURO 25.-.