Kraftfelder des Konkreten

Kirche und Film nach 1945. Rede zum Kirchenempfang in Cottbus 2003
Der Mann ohne Vergangenheit

Aki Kaurismäki: Der Mann ohne Vergangenheit (Templeton-Filmpreis 2002)

 
Über den Stand des Diskussion zum Verhältnis von Kirche und Kino, Film und Theologie soll ich Ihnen in wenigen Minuten einen kleinen Eindruck geben. Exemplarisch geht man dann am besten vor, habe ich mir gedacht, und schließe einige allgemeine Bemerkungen an.
 
In den Tagen der Berlinale, im Februar jeden Jahres, hat INTERFILM, unsere kirchliche Filmorganisation auf der Basis des Ökumenischen Rates der Kirchen, die Gelegenheit, den Templeton-Filmpreis zu vergeben. Er soll an einen europäischen Film des Vorjahres gehen, der - so die Zielsetzung des Stifters - am besten dem „religiösen Fortschritt“ dient. For religious progress: Was immer das heißen mag, es eröffnet einen weiten Assoziationsrahmen, den wir zu nutzen wissen. In diesem Jahr ist der Preis an THE MAN WITHOUT A PAST („Der Mann ohne Vergangenheit“) von Aki Kaurismäki gegangen. Viele von Ihnen werden diesen Film kennen.
 
Ich rufe in Erinnerung oder erzähle denen, die ihn nicht kennen: Es ist der Film über einen Mann, der auf einer Dienstfahrt von einer Dreierbande, die sich auf das Ausrauben von Menschen spezialisiert hat, einen Schlag über den Kopf bekommt, der seine Erinnerung auslöscht an alles, was er ist und was er gewesen ist. Ein völlig neues Leben, ohne Namen und ohne Vergangenheit, muss er beginnen. Er begegnet Menschen am Rande der Gesellschaft, denen er Freund werden kann. Er begegnet einer Offizierin der Heilsarmee, die sich um diese Menschen kümmert. Kerzengerade ist sie in ihren moralischen und religiösen Anschauungen, da kennt sie nichts. Aber langsam, über zögernde Annäherungen, entsteht eine tiefe Liebe zwischen den beiden, die beide verwandelt. Und die auch durchhält, als - durch eine Verkettung von Umständen, die ich hier nicht erzählen muss - der Name und die Vergangenheit des Mannes herauskommt. Am Ende gehen die beiden, der bisher namenlose Mann und die Offizierin der Heilsarmee, Hand in Hand aus dem Bild zu ihrer ersten gemeinsamen Nacht, und ein vorbeifahrender Zug verdeckt dem möglichen Voyeur den Blick auf das, wovon man weiß, dass es geschehen wird, aber das - in der Scheu und der Zurückhaltung der beiden - ein Anderer nicht sehen muss.
 
Es ist uns, bei der Diskussion über den Film und bei der Preisvergabe, sofort aufgefallen, wieviel Anregungen für eine theologische Betrachtung ein solcher Film liefert, wieviel Anregungen zum vertiefenden Nachdenken er bereithält; ja, wie leicht man darüber predigen kann. „Ihr müsst von neuem geboren werden“, sagt Jesus in jenem nächtlichen Gespräch des Johannesevangeliums zu Nikodemus. Nicht als Kind oder als Pubertierender, nein, als Erwachsener noch einmal ganz neu anfangen können oder anfangen müssen. Nicht so natürlich und hoffentlich nicht, wie es dem Mann ohne Namen geschieht, mit einem furchtbaren Schlag auf den Kopf. Aber doch plötzlich, von einem Augenblick auf den anderen, sich in einer neuen Welt zurechtfinden müssen, für die alle Maßstäbe fehlen. In der das Problem des Namens auftaucht, der einem erst die Identität und die Verlässlichkeit - auch für Banken - gibt. Der aber doch schnell auch missbraucht werden kann, zu einem Begriff pervertieren kann, so dass ich die einzigartige Beziehung des Namens zur Person verteidigen muss. „She has a name“, sagt der Mann über seine neue Freundin, als die Anderen sie über den Namen vereinnahmen wollen, „she has a name but not for you“. In eine Welt gerät der Mann ohne Vergangenheit hinein, wie gesagt, am Rande der Gesellschaft, in der es aber erstaunlicherweise kaum negative Figuren gibt. Ist es vielleicht, fragt man sich nach einiger Zeit, gar eine Sache der eigenen müden und desolaten  Perspektive, dass man so vieles eher als einen Misthaufen denn als einen möglicherweise fruchtbringenden, gar blühenden Garten sieht? Anzeichen einer Welt der Auferstehung bietet dieser Film. Eine Welt, von der ich manchmal träume und in der ich manchmal bin. Das Wunder des anderen Lebens, das schon am Anfang steht, als der für tot Erklärte seine Binden abwickelt und sich erst einmal richtig ausschlafen muss. So gehen die Gedanken zwischen den Geschichten des Films und den Geschichten, von denen der christliche Glaube lebt, hin und her.
 
Es scheint mir, um nun zu den allgemeinen Gedanken überzugehen, seit 1945 in der Geschichte der Begegnung von Kirche und Film - von Seiten der Theologie und der Kirche gesehen - drei Phasen zu geben, bzw. gegeben zu haben. Die erste Phase der kirchlichen Filmarbeit, von 1945 bis in die späten 60er Jahre hinein, kreist um die Frage, ob sich der Film für die Kirche als Medium in Dienst nehmen lässt. Gibt es einen „religiösen Film“, kann der Film Verkündigung sein? Der anfängliche Optimismus, der in der Massenwirksamkeit des Films ein hervorragendes missionarisches Werkzeug sieht, verschwindet nach und nach. Skandale, die auf den eigenen Weg des Films aufmerksam machen, wie die Auseinandersetzung um die SÜNDERIN, setzen Warnzeichen an den Weg. Man einigt sich in den Kirchen auf den Begriff der „indirekten Verkündigung“, als Möglichkeit, versteht sich, nicht als gängige Realität. „Der Film kann die Wirklichkeit des Heiligen Geistes nur im Spiegel eines menschlichen Schicksals spürbar machen“ (Schwalbacher Erklärung). Harald Brauns NACHTWACHE von 1949 gilt als das Paradigma einer indirekten Verkündigung: Die nur schwer durchgehaltene Glaubensgewissheit des Pfarrers nach dem Tod seiner wunderbaren Tochter gibt den Anstoß zum Weiterfragen und Wieierdenken. Die Situation spitzt sich noch einmal zu, als in den frühen 60er Jahren ein Boom an Jesus-Filmen einsetzt (KING OF KINGS bis zu Pasolinis DAS 1. EVANGELIUM MATTHÄUS). Auch hier bestätigt sich die Perspektive der indirekten Verkündigung fast von selbst. „Wir können den Menschensohn zeigen, aber wir können den Gottessohn nicht zeigen“, hat der damalige Filmbeauftragte der EKD, hat Werner Hess gesagt.
 
Ich sehe dann eine zweite Phase der Beziehungen zwischen Kirche und Film, die Ende der 60er Jahre einsetzt. Die Meinung, dass die Säkularisierung der westlichen Welt ein unaufhaltsamer und unumkehrbarer Prozess ist, hat sich anscheinend völlig durchgesetzt. Es gibt keinen religiösen Sonderstatus, es gibt keine religiösen Räume mehr. Der Weg über die Weltlichkeit der Welt hinaus ist endgültig verbaut, die Entgötterung der Welt ist unumkehrbar, und der Film ist das wirksamste Medium des säkularen Geistes. Theologisch geht es in dieser Zeit primär um das Bild in und hinter den Bildern. Der Verweischarakter des Bildes, das Transzendieren des Sichtbaren wird zum Element der Bilderfahrung selbst. Theologische Auseinandersetzung mit den Filmen wird, mit den Worten des jetzigen Filmbeauftragten der EKD, Werner Schneider (zusammen mit Doron Kiesel),  zur „Suche nach Gleichnisbildern, die nichtreligiös und profan auf die Aussagen des christlichen Glaubens hinzuweisen vermögen“. Die Freiheit und die Autonomie der Filmkunst vor möglicher kirchlicher Bevormundung ist dabei vorausgesetzt.
 
Es scheint mir indessen, dass wir längst in eine dritte, in eine neue Phase der Beziehungen zwischen Kirche und Film eingetreten sind. Und das eingangs geschilderte Filmbeispiel mit Kaurismäkis THE MAN WITHOUT A PAST sollte einen kleinen Eindruck davon geben. Die Säkularisierungsthese hat ihre Begrenztheit gezeigt, religiöse Räume haben sich als widerstandsfähig erwiesen oder haben sich neu aufgebaut. Der russische und osteuropäische Film, den wir hier in Cottbus unter die Lupe nehmen, hat sich diesem Abbau der religiösen Welten ja schon immer in weitem Umfang entzogen. Es ist keine neue Sakralisierung von Wirklichkeit  eingetreten, aber die Möglichkeit von Gotteserfahrung ist im Bewusstsein vieler wieder vorhanden. Schon vor Jahren hat Sylvain De Bleeckere diagnostiziert: „So, wie die mittelalterliche Baukunst der Kathedralen der bleibende Zeuge eines kulturschaffenden Christentums ist, so ist im zerrissenen Nachkriegseuropa die europäische Filmkunst ein zeitgenössisches Zeichen der fundamentalen, kulturschaffenden Kraft des christlichen Glaubens“. Nach der jahrhundertelangen Herrschaft des Rationalen in Philosophie und Theologie beginnen die Kraftfelder des Konkreten ihre unwiderstehliche Macht zu entfalten: In der Erfahrung von Raum und Zeit, in der Poesie der Schönheit, in der Voraussetzung des Sinns oder im Kampf gegen das, was das Leben zerstört. Eigene theologische Entwürfe sind viele Filme geworden, die gerade, weil sie in der Konkretion von Wirklichkeitserfahrung zu Hause sind, uns in der Tiefe anregen und herausfordern. Die Entdeckungen gehen zwischen Film und Kirche, zwischen Theologie und Kinowelt hin und her. Da kann auf einmal, wie im Augenblick, ein Lutherfilm als Abenteuerfilm einherkommen, und man kann trefflich darüber diskutieren.
 
Dabei wird es so sein und bleiben: Wenn der Film wirklich ein Kunstwerk ist und die Kirche bei ihrer Sache bleibt, dann werden Film und Kirche nie identisch sein und werden können. Der Film als Kunstwerk nimmt teil an der Eigenart ästhetischer Erfahrung, die von struktureller Unabgeschlossenheit und Vieldeutigkeit bestimmt ist. Ästhetische Erfahrung ist im Kern ihres Selbstverständnisses mehr an der Anregung von Fragen interessiert als an ihrer Beantwortung, mehr an der Irritation als an der Beruhigung, mehr an der Sinnsuche als an der Sinnvermittlung. Damit aber tritt die ästhetische Erfahrung, auch im Film, in Spannung zu der Positionalität von Kirche, die ich ebenfalls für unaufgebbar halte. Kirche und Theologie sind und bleiben auf eine Offenbarung in der Geschichte bezogen, müssen auf Widerspruchslosigkeit, auf die Einheit von Welt- und Gotteserfahrung, auf den Antwortcharakter zumindest hin tendieren. So bleibt eine Grenze zwischen den Erfahrungshorizonten hier und dort. Aber wie das Anerkennen von Grenzen, so gehört das Überschreiten von Grenzen zur Lebendigkeit des Menschen. Und so wird der lebhafte Grenzverkehr zwischen Film und Theologie wenigstens ein Stück weit den Film vor der Banalität des Kino- und Festivalbetriebs, und die Kirchen vor dem Tiefschlaf des Gewohnten und Schon-Immer-Gewussten bewahren können. Das macht die Begegnung von Film und Kirche, wie hier in Cottbus am Beispiel Rußlands, so reizvoll, so anregend und so wichtig.