Locarno 2020: Ein Pardo für das künftige Kino

Eine Vorschau von Hans Hodel


Traditionsgemäss wurden in der zweiten Januarhälfte während der Solothurner Filmtage erste Informationen zur 73. Ausgabe des Locarno Film Festivals bekannt gegeben. Lili Hinstin, die 2019 als künstlerische Direktorin die Nachfolge von Carlo Chatrian übernommen hatte, freute sich, die Retrospektive der japanischen Regisseurin und Schauspielerin Kinuyo Tanaka (1909-1977)  anzukündigen  und „eines der bestgehüteten Geheimnisse“ in der Geschichte des japanischen Kinos zu lüften. Zum ersten Mal in 73 Jahren würde das Festival seine Retrospektive der Arbeit einer Regisseurin widmen.

Im Lauf der folgenden Wochen mehrten sich freilich Zweifel und Fragen, ob und wie das Festival angesichts der sich ausbreitenden Covid-19-Pandemie wirklich stattfinden würde. Als die zuständigen Bundesbehörden Großveranstaltungen mit über 1000 Teilnehmenden bis Ende August verboten, war klar, dass das Locarno Film Festival 2020 in seiner üblichen Form vor Ort nicht durchführbar ist. Ende April gab das Festival die Absage der 73. Festivalausgabe bekannt:  Auf die Filmauswahl für die traditionellen Wettbewerbe und prinzipiell auf die physischen Festivalorte, angefangen mit der je nach Film bis 8000 Zuschauer umfassenden stimmungsvollen Piazza Grande und dem Auftritt der Stars und der Überreichung der Ehrenleoparden bis hin zu den großen Vorführhallen des FEVI und der Morettina wurde verzichtet. Für INTERFILM und SIGNIS bedeutete dies leider auch die Absage der bereits nominierten ökumenischen Jury und die Sistierung der Planung des ökumenischen Empfanges und des traditionellen Gottesdienstes. 

Das Festival beschloss, eine „Alternative zur klassischen Präsentation eines Filmfestivals zu entwickeln, um sowohl die internationale als auch die Schweizer Filmindustrie zu unterstützen, die sich aktuell einer schweren Krise stellen müssen“. Diese Initiative wurde dank des Verständnisses und verlässlichen Engagements der bisherigen zahlreichen Festivalpartner ermöglicht. Im Laufe der folgenden Wochen wurde unter dem Motto Locarno 2020 – For the Future of Films eine Reihe Projekte zur Förderung des unabhängigen Autorenfilms und der Kinos entwickelt, um damit dem Publikum sowie den professionellen Akteuren der Branche auf diversen Plattformen besondere Inhalte zur Verfügung zu stellen. In Betracht gezogen wurden, je nach Verlauf der weiteren Entwicklungen, auch Vor-Ort-Aufführungen mit den größtmöglichen Sicherheitsvorkehrungen. Festivalpräsident Marco Solari formulierte es so: „Lanciert wird ein Projekt, das die Werte, die das Locarno Film Festival seit Jahrzehnten prägen, in eine neue Form übersetzt, auf anderen Bühnen und Plattformen.” Und Lili Hinstin ergänzt: „…es soll im Einklang mit der Geschichte des Festivals stehen, im Zeichen der Solidarität, und unserem Publikum und den Regisseurinnen und Regisseuren in ihrer schwierigen Lage helfen.” Der operative Leiter Raphael Brunschwig schliesslich sagte: „Unser Blick bleibt auf die Kontinuität des Festivals und seine zukünftigen Herausforderungen gerichtet, die sich nach diesem schwierigen Jahr noch komplexer gestalten werden.”


The Films After Tomorrow: Preis für die Zukunft


Das Startprojekt von Locarno 2020 mit The Films After Tomorrow wird als Wettbewerb durchgeführt Es steht ganz im Zeichen der Unterstützung des unabhängigen Kinos und stellt einen Teil der finanziellen Mittel, die für die Wettbewerbspreise reserviert waren, in den Dienst von Produktionen, deren Umsetzung aufgrund der gesundheitlichen Notlage auf Eis gelegt werden musste und die Gefahr laufen, möglicherweise nicht abgeschlossen werden zu können.


Unterbrochene Dreharbeiten, Projekte, die es nicht bis in den Schnitt geschafft haben, Filmschaffende, Autorinnen und Autoren, die befürchten müssen, die Früchte einer langen Arbeit nicht ernten zu dürfen: An diesen sensiblen Punkten setzt das Locarno Film Festival an, um den Vertreterinnen und Vertretern der Filmindustrie seine Solidarität zu versichern und dem eigenen Publikum auch in Zukunft hochwertiges Kino zu garantieren: Aus je zehn internationalen und nationalen Produktionen, die von der künstlerischen Leiterin Lili Hinstin und ihrem Team für einen Pardo 2020 selektioniert werden, küren zwei Jurys die Gewinnerprojekte, die am Samstag, 15. August bekannt gegeben werden. Die mit je 70‘000 Franken dotierten Preise sind eine konkrete Anerkennung, welche die prämierten Filme darin unterstützen soll, ihr natürliches Ziel zu erreichen: die Kinosäle.

Die für diesen Wettbewerb ausgewählten Regisseurinnen und Regisseure der zwanzig selektionierten Filmprojekte werden dem Publikum vom 5. bis zum 15. August online präsentiert. Dabei werden sie einen für sie wichtigen und prägenden Film aus der Geschichte des Locarno Film Festivals vorstellen,  so dass am Ende eine subjektive Reise in die Filmgeschichte entsteht. Vorgeschlagen von Mari Alessandrini (Schweiz/Argentinien) befindet sich unter diesen Filmen auch Stranger Than Paradise von Jim Jarmusch, der 1984 u.a. von der Ökumenischen Jury mit einer lobenden Erwähnung ausgezeichnet wurde (Online und im Kino programmiert). Die Filme werden dank der Online-Streaming Plattform MUBI, dem globalen Bezugspinkt für die neue Cinephilie und dem exklusiven VOD-Partner der Auswahl in der ganzen Schweiz kostenlos auf der Website des Festivals und in verschiedenen internationalen Gebieten verfügbar sein. Zehn der zwanzig ausgewählten Filme werden auch in Locarno in physischen Vorführungen in den Kinos gezeigt.


Wettbewerb Pardi di domani online


Ein Programm für das künftige Kino ist ohne den Kurzfilm nicht denkbar. Deshalb setzt „Locarno 2020 – For the Future of Films“ Kurzfilme in den Mittelpunkt und geht mit dem traditionellen Wettbewerb Pardi di domani, dem Wettbewerb für Schweizer und internationale Kurzfilme, komplett online. Alle 43 Kurzfilme des Wettbewerbs (12 Filme im Schweizer und 31 Filme im internationalen Wettbewerb) werden auf einer weltweit zugänglichen Plattform und ohne geografische Einschränkungen zu sehen sein, freilich auch physisch mit Premierenvorführungen in Abendslots und Wiederholungen in den folgenden Tagen im Kino. Jedem Kurzfilm wird eine maximale Anzahl von 1’590 Online-Zuschauern garantiert, was genau der Besucherzahl entspricht, die in Locarno jedes Jahr an den physischen Vorführungen der Kurzfilme teilnehmen kann. Wie immer werden als Hauptpreise zwei Pardini d’oro für den besten Schweizer und den besten internationalen Kurzfilm sowie zwei Pardini d’argento vergeben. Über die Vergabe der Pardini entscheidet eine internationale Jury bestehend aus Kiri Dalena, Mamadou Dia und Claudette Godfreiy. Preise werden zudem von der „Giuria Cinema&Gioventù“ vergeben.

Zusammen mit den Kurzfilmen wird die Sonderausgabe von Pardi di domani 2020 der Öffentlichkeit eine Reihe von besonderen Inhalten, Interviews und Gesprächen mit den Kurzfilm-Autorinnen und -Autoren bereithalten. Zudem prüft das Festival für die Monate nach Locarno 2020 mit seinen Partnern die Möglichkeit die Kurzfilme in die Schweizer Kinos zu bringen.


Open Doors Hub und Lab


Seit 18 Jahren dreht sich bei der Sektion Open Doors alles um die Entdeckung und Unterstützung des Filmschaffens aus den Ländern des globalen Süden und Ostens. Es ist deshalb nur natürlich, dass Open Doors in der Initiative «Locarno 2020 – For the Future of Films», die sich der Zukunft der Filmindustrie widmet, einen festen Platz erhält. Die Open Doors-Programme werden für Fachpersonen der Filmindustrie im Netz durchgeführt. Der Fokus richtet sich im August erneut auf Südostasien, mit acht Projekten und neun Produzentinnen und Produzenten aus Laos, Kambodscha, Thailand, Vietnam, Myanmar, Indonesien, Malaysia, den Philippinen und der Mongolei. Die Auswahl umfasst mehrere Vorpremieren von bedeutenden Filmschaffenden. Die Sektion beweist jedes Jahr aufs Neue, dass die ersten Schritte in der Geschichte eines Projekts und einer nachhaltigen künstlerischen Laufbahn oft im direkten Austausch mit den Vertreterinnen und Vertretern der Filmindustrie liegen.

Zwar soll eine Auswahl des Programms dem Festivalpublikum vor Ort im Kino zugänglich sein. Wie andere Initiativen von Locarno 2020 wird aber auch Open Doors eine spezielle Ausgabe im Netz erleben. Die Protagonistinnen und Protagonisten des Hub (internationale Koproduktions-Plattform) und des Lab (Produktionsworkshop) werden sich online in spezifischen Foren treffen und ihre Projekte den Fachpersonen der internationalen Filmindustrie vorstellen können. Diese individuellen Meetings finden während der ersten Woche von Locarno 2020 statt, vom 6. bis 11. August.

Ein spezielles Programm „Through the Open Doors“ gehört zu den neuartigen Angeboten von "Locarno 2020 – For the Future of Films“: eine Retrospektive zur 18-jährigen Geschichte der Sektion Open Doors. Darin werden einige Leckerbissen gezeigt, die seit der Einführung der Sektion entdeckt wurden. „Through the Open Doors“ zeigt zehn Langfilme, die einst dem Publikum von Locarno präsentiert oder als Projekte im Rahmen der Koproduktions-Plattform von Open Doors vorgestellt und später fertiggestellt wurden. Die Retrospektive nimmt das Publikum auf eine spannende Reise durch mehrere Kontinente mit, durch verschiedene Regionen Afrikas und Asiens über Lateinamerika bis in den Kaukasus, um dem Talent der Filmschaffenden und dem Engagement der Produzierenden, die sie begleitet und unterstützt haben, die Ehre zu erweisen. Die zehn ausgewählten Film werden ausschliesslich in den Kinos von Locarno und Muralto gezeigt.


Wenn Open Doors auch dieses Jahr durchgeführt werden kann, ist dies der treuen Unterstützung der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) des Eidgenössischen Department für auswärtige Angelegenheiten (EDA) zu verdanken. Hinzu kommen weitere Partner, die ihr Engagement für das Filmschaffen dieser Regionen auch in der derzeitigen globalen Krise weiterführen wollen. Darunter sind auch dieses Jahr Visions sud est und die Stadt Bellinzona, die den Open Doors Grant als Hauptpreis der Sektion mit einem substantiellen Anteil von 68'000 Franken unterstützen, einem für diese Ausgabe außergewöhnlich hohen Betrag, der auf mehrere Projekte aufgeteilt werden wird, das Centre national du cinéma et de l’image animée (CNC), das einen Entwicklungsbeitrag von  8'000 Euro vergibt, und ARTE France, das den mit 6'000 Euro dotierten Prix Arte Kino International verleiht. Weitere Auszeichnungen werden in Form von Dienstleistungen vergeben, u.a. durch den norwegischen Sørfond-Fonds und weiteren Partnern, die zu einem späteren Zeitpunkt genannt werden.


Überraschungen in den Locarno Kinos


121 Filme sind insgesamt zu sehen, davon 103 Vorstellungen in den Locarno Kinos PalaCinema, GranRex und PalaVideo in Muralto, 83 Film online. Eröffnet wird das Festival mit dem Western-Märchen „First Cow“ der US-Regisseurin Kelly Reichardt, die den Vorsitz der Jury für die Beurteilung der „Corona-Projekte“ wahrnimmt.

Danach wird Lily Hinstin jeden frühen Abend zum „geheimen“ Screening eines Films einladen (mit einer Wiederholung am folgenden Tag), und einen Film ihrer Wahl aus der Wundertüte zaubern. Bis zu dem Moment, in dem die Lichter ausgehen und der Bildschirm leuchtet, wird nichts über die gezeigten Filme bekannt sein – außer vielleicht nur ein oder zwei Hinweise. Nur die Startzeit und das Theater werden im Voraus bekannt gegeben. Für einen cineastischen Suspense ist auf jeden Fall gesorgt! Deshalb: Buona visione!