Ein Rückblick und Ausblick von Hans Hodel

 

Jubiläen sind immer wieder Anlass für geschichtliche, auch kritische, Rückblicke, vor allem aber für programmatische Ausblicke. Zur diesjährigen 75. Ausgabe des Locarno Film Festivals ist das nicht anders. Zwei Publikationen liegen vor: Eine Publikation des Tessiner Journalisten Lorenzo Buccella rezipiert auf 272 Seiten die offizielle Geschichte, ergänzt mit 75 inoffiziellen Geschichten zwischen Wahrheit und Legende (Lorenzo Buccella, Locarno on/Locarno of: History and Stories of the Film Festival, Edizione Casagrande, Version Italienisch/Englisch und Version Französisch/Deutsch). Eine zweite Publikation enthält kritische Essays über die Bedeutung des Film Festivals von über vierzig schweizerischen und internationalen Autoren in ihrer jeweiligen Muttersprache (Armand Dadò Editore: Sguardi oltre il cinema; Critical essays on the Locarno Film Festival, 188 Seiten). Die Publikationen sind erhältlich als E-book bei editionicasagrande.com und können käuflich erworben werden im online shop boutique.locarnofestival.ch/collections/books.

Nur wenige können sich noch erinnern: Das erste Locarno Festival wurde am 23. August 1946 im Park des legendären Grand Hotel (Grande  Albergo) mit dem 1945 entstandenen Film «O sole mio» von Giacomo Gentilomo eröffnet und dauerte bis zum 2. September.

 Demnach müsste Locarno jetzt eigentlich seine 77. Ausgabe feiern. Aber das ist eine andere Geschichte, und sie betrifft auch andere Festivals. Das Filmfestival Cannes beispielsweise, dessen erste Ausgabe im September 1939 als Folge des Kriegsausbruchs abgebrochen werden musste und dann erst vom 31. August bis 15. September 1946 wieder aufgenommen wurde, zelebrierte dieses Jahr auch erst seine 75. Ausgabe. Noch etwas komplizierter ist es bei den bereits 1932 gegründeten Internationalen Filmfestspielen Venedig, der Mostra internazionale d’arte cinematografica di Venezia. Als Teil der 90jährigen Biennale für zeitgenössische Kunst und findet sie jedes Jahr von Ende August bis Anfang September auf dem Lido in Venedig statt, aber 1933 und 1943 bis 1945 gab es keine Filmfestspiele, weshalb Venedig als ältestes Filmfestival vom 31. August bis 10. September dieses Jahr erst seine 79. Ausgabe feiern wird. Als ob die Konzentration dieser drei internationalen Filmfestivals auf die Sommermonate nicht schon genug Konkurrenz bedeutet hätte, versuchten sich auch die 1951 gegründeten Filmfestspiele Berlin zunächst mit einer Durchführung im Monat Juni zu positionieren. Cannes wich der Konkurrenz-situation Venedig bereits 1957 aus und wechselte auf eine Durchführung im Mai, während die Berlinale erst 1978 auf den Monat Februar verlegt wurde und dieses Jahr die 72. Ausgabe feierte.

Freiheit und Menschenwürde verteidigen

Während der letzten beiden Jahre hat der Ausbruch der Covid-Pandemie mit seinen gravierenden Folgen besonders auch die Filmfestivals schwer beeinträchtigt und ihren Kalender in mancher Hinsicht durcheinandergebracht. Insgesamt gingen sie aber alle gestärkt aus der Krise hervor. Sie zeigten sich erfinderisch, machten sich die digitalen Möglichkeiten nutzbar, gewannen das Publikum mit vielfältigen hybriden Angeboten und konnten sich die Sympathie und Unterstützung der Sponsoren sichern. Im Vergleich zu 2019 sind die Sponsorenbeiträge für Locarno sogar um 40 Prozent gestiegen, wie der operative Leiter des Festivals, Raphaël Brunschwig, mitteilte. Darüber kann sich insbesondere auch der seit letztem Jahr amtierende neue künstlerische Direktor Giona A. Nazzaro freuen, der sich zu Beginn mit der schwierigen Tatsache konfrontiert sah, das Festival nur zwei Wochen nach dem in den Juli verschobenen Festival von Cannes und nur eine Woche vor Karlovy Vary, resp. zwei Wochen vor Venedig programmieren zu müssen. Den Erfolg versteht die Festivalleitung als Verpflichtung für die Zukunft. Dabei unterstreicht der langjährige Festivalpräsident Marco Solari, dass die Aufgabe eines Festivals nicht mehr nur darin bestehen kann zu unterhalten. Es geht auch um die Vermittlung und Erhaltung von Werten, wie sie das Festival seit eh vertreten hat. In einem Interview, das in der eingangs erwähnten Publikation von Lorenzo Buccella zu lesen ist, wünscht sich Solari ein Festival, «das trotz all seiner Entwicklungen immer ein Instrument der Wahrheit und des Nachdenkens bleibt ohne im Kampf für die Verteidigung der Freiheit und der Menschenwürde auch nur einen Zentimeter zurückzuweichen.» Die Annahme ist wohl nicht falsch, dass Solari dabei auch an die zahlreichen aktuellen Krisen- und Kriegssituationen wie jene in der Ukraine gedacht hat. 

Piazza Grande als Herzstück des Festivals

Insgesamt zwölf unterschiedliche Sektionen enthält das Programm. Dabei ist die Piazza Grande als Zentrum von Locarno, ausgestattet mit ausgefeiltester Vorführtechnik, nach wie vor die Attraktion und das Herzstück des Festivals, die jeden Abend bis zu 8'000 Zuschauende vor einer der weltweit grössten Leinwände versammelt. Ihre Programmierung findet jedes Jahr ein spezielles und auch kritisches Interesse, nicht zuletzt auch deshalb, weil das Publikum mit seiner Stimme den mit Fr. 30'000 dotierten »Prix du Public UBS» vergeben kann. Doch bevor der programmierte Film abgekündigt wird, findet jeweils die Verleihung eines Ehrenpreises an auserwählte Künstler statt. Dieses Jahr zum Beispiel der «Lifetime Achievement Award» an den US-Schauspieler Matt Dillon (am 4. August) oder der «Pardo alla carriera Ascona-Locarno» an den griechisch-franzöischen Regisseur Costa-Gavras (am 11. August). Die Verleihung des Pardo d’onore Manor an die unabhängige Filmemacherin Kelly Reichardt, eine der originellsten und unabhängigsten Stimmen des zeitgenössischen amerikanischen Kinos, am 12. August, gilt als ein «Zeichen für ein zeitgenössisches Kino in vollem Aufschwung und lässt uns nach vorne schauen und Vielfalt und Wandel begrüssen», kommentiert der Festivaldirektor die Ehrung.

Offizielle Jurys, die insgesamt zwanzig Preise vergeben werden, hat das Festival berufen für die Wertung der Filme im Internationalen Wettbewerb, im Wettbewerb «Cineasti del presente», für die Pardi di Domani und die «First Feature»-Filme. In Zusammenarbeit mit dem WWF wird erstmals eine Jury den «Green Pardo WWF» an einen Film aus den Wettbewerbssektionen vergeben, der das Umweltthema am besten reflektiert.

Der Internationale Wettbewerb

Im Mittelpunkt des Interesses der nichtoffiziellen unabhängigen ökumenischen Jury von SIGNIS und INTERFILM, die seit 1973 und dieses Jahr zum 49. Mal mit vier Mitgliedern präsent ist, steht der aus 17 Filmen zusammengesetzte internationale Wettbewerb, wobei es sich bei allen Filmen um Weltpremieren und nur bei zwei Filmen um Erstlingsproduktionen handelt. Auf die Wiederbegegnung mit drei Regisseuren und deren Filme bin ich besonders neugierig: Der aserbaidschanische Regisseur Hilal Baydarov hat 2019 am Festival Visions du Réel Nyon für seinen Film When the Persimmons Grew den Preis der interreligiösen Jury erhalten und zeigt jetzt den Film Baliqlara Xütbə» («Sermon to the Fish»). Der österreichische Dokumentarfilmer Nikolaus Geyrhalter, der mit besonders eindrücklichen. Einstellungen arbeitet, ist mit «Matter out of Place», einer Bestandsaufnahme über die Verbreitung von Abfall, vertreten. 2006 hat er am Festival Visions du Réel Nyon für den Film «Unser täglich Brot» von der interreligiösen Jury den Spezialpreis der Templeton-Stiftung erhalten und 2019 am Forum in Berlin den Preis der ökumenischen Jury für den Film «Erde». Als ein besonderes Ereignis aber empfinde ich die Präsenz des vielfach ausgezeichneten russischen Regimekritikers Alexander Sokurov (Mother and Son, Russian Ark), dem das Festival von Locarno schon 2006 einen Ehrenleoparden verliehen und dessen Film «Faust» die SIGNIS-Jury 2011 in Venedig ausgezeichnet hat. Man darf auf seinen Film «Skazka» (Fairytale), vor dessen geschichtlicher Aktualität sich das Festival Cannes offenbar fürchtete, gespannt sein, und auch darauf, ob er persönlich in Locarno anzutreffen sein wird.

Brutkasten der Innovation im audiovisuellen Bereich

Für Überraschungen ist an der bevorstehenden Jubiläumsausgabe auf jeden Fall gesorgt. Für besonders Neugierige sei summarisch jedenfalls darauf hingewiesen, wie sich das Festival den auch den neuen Sprachformen zu widmen gedenkt. Dazu gehört ein 24-stündiges Gespräch mit Zuschauerbeteiligung über die neuen Medien live auf Twitch, mit den Arbeiten und Reflexionen von Künstlern wie Hito Steyerl (eine zentrale Figur in der kritischen Reflexion über digitale Medien,) und dem Kollektiv Total Refusal, mit einem Virtual-Reality-Angebot in Zusammenarbeit mit dem Geneva International Film Festival (GIFF) und mit der Präsentation der ersten Ergebnisse der Arbeit der Università della Svizzera Italiana (USI) Locarno Film Festival Professor for the Future of Cinema and Audiovisual Arts Kevin B. Lee in Form eines Videoessays.

Information

Festivals

Beim 75. Locarno Film Festival wurden die Preise verliehen. Die Ökumenische Jury vergab ihren Preis an "The Tale of the Purple House" von Abbas Fahdel und eine Lobende Erwähnung an "Tengo sueños eléctricos" von Valentina Maurel.