Oberhausen online. Geht nicht? Geht.

Die 66. Internationalen Kurzfilmtage aus der Perspektive der Ökumenischen Jury


„Ich war mal ein guter Hirte. Ich frage mich, was passiert ist. Plötzlich gefielen mir Ramphais Kühe. Ich sah sie auf der Weide und holte sie mir.“ – Selten hat ein Film mit einer so freimütigen Beichte angefangen wie SHEPHERDS. In einem Gefängnis in Lesotho berichtet einer der Insassen im roten Häftlingsoverall vor der Kamera, wie eine unüberlegte Tat sein Leben veränderte. Mehrere Jahre hat er bekommen für den Diebstahl von drei Kühen. Auch seine Mithäftlinge sitzen ein, weil sie Kühe oder Ziegen gestohlen haben. „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh“ – im ländlichen Kontext von Lesotho klingt das zehnte Gebot ganz lebensnah. Wenn die Gefangenen erzählen, wird spürbar, wie viel ihnen ihre eigenen Tiere bedeuteten und aus welchen Gründen sie bei den anderen in Versuchung geraten sind. „Früher habe ich mich um fünf Kühe gekümmert“, sagt einer mit versonnenem Lächeln. „Am meisten mochte ich eine rötliche, sie hieß Leloko.“ Und man beginnt ihn auch zu mögen.

Die Häftlinge setzen sich in ruhigen, überlegten Statements mit der Verantwortung für ihr Leben und ihre Taten auseinander. Zugleich wird deutlich, wie die Bedingungen sind, unter denen sie leben und handelten. Regisseur Teboho Edkins, selber in Lesotho aufgewachsen, inszeniert diesen konzentrierten und anrührenden Dokumentarfilm sehr bedacht und mit Gespür für Farben und Räume. Die Gefangenen sind Sympathieträger, der Film wird von einer zutiefst humanen Perspektive auf ihr Schicksal getragen. Was macht einen guten Hirten aus? Ist es der Blick der Liebe, mit dem er die ihm Anvertrauten sieht? Der Film schafft es, diesen Blick zu vermitteln.

Filme geben Einblicke in andere Lebenswelten. Ein Filmfestival wird oft zu einem Parforceritt durch Kulturen und Milieus, Länder und Sprachen, Lebensbedingungen und Weltbilder. Das funktioniert durchaus auch bei einem Online-Event. Natürlich fehlt das gemeinsame Erleben, der informelle Austausch zwischendurch, die Atmosphäre im Kino und drumherum. Die außergewöhnlichen Seh- und Hörerfahrungen, die gerade mit den oft experimentellen Kurzfilmen verbunden sind, kommen im Kinosaal sicherlich eindrucksvoller zur Geltung. Doch in Zeiten von Videokonferenzen und ruckelfreiem Streaming muss es eben auch so gehen. Und es geht. Meistens. Denn immer wieder kommt auch (oder gerade?) in Deutschland das Interneterlebnis an seine Grenzen. Gleich am ersten Abend gab es einen zweieinhalbstündigen Totalausfall. Es bleibt dennoch beachtlich, was das Team um Lars Henrik Gass innerhalb von nur zwei Monaten Vorlaufzeit organisatorisch und technisch auf die Beine gestellt hat. Und die so geschaffene Möglichkeit, Menschen aus aller Welt ein Filmfestival kostengünstig von zu Hause aus zugänglich zu machen, setzt für künftige Festivals neue Maßstäbe.

Die Arbeit in einer ökumenischen Jury klappt ebenfalls online. Tägliche mehrstündige Videokonferenzen zwischen Togo und der Ukraine, Schottland und Deutschland sind auch ein Erlebnis. Erst recht, wenn in den Diskussionen deutlich wird, wie unterschiedliche Menschen auf gleiche Weise angerührt sind. Oder der gleiche Film ganz Unterschiedliches auslösen kann. Neben dem von der Jury ausgezeichneten SHEPHERDS gab es lobende Erwähnungen für MILENA’S SONG und LAS MUERTES DE ARÍSTIDES.

 

Doch auch von etlichen anderen Filmen war die Jury beeindruckt. WHAT WE STILL CAN DO zeigt, wie eine schwerkranke Frau im Hospiz von ihrer Tochter besucht und begleitet wird. Ihre schlichten Wortwechsel, die Gesten und Blicke vermitteln eine Ahnung davon, was Menschen am Ende des Lebens füreinander sein können. Auch in BITTERSWEET (Hauptpreis der Internationalen Jury) geht es um einen Abschied. Regisseur Sohrab Hura verknüpft über einen Zeitraum von zehn Jahren zahlreiche Fotos seiner Mutter, die an paranoider Schizophrenie erkrankte und sich zusehends aus der Welt zurückzog. Ein Film als Mittel, sich einer schwierigen Familiengeschichte zu stellen. Lynne Sachs verarbeitet in A MONTH OF SINGLE FRAMES das Material, das ihre gute Freundin Barbara Hammer, Pionierin des lesbischen Films, 20 Jahre zuvor bei einem Aufenthalt in einer abgelegenen Hütte zwischen den Dünen aufgenommen hatte: Libellen und Sonnenaufgänge, Dünengras und Farbwirkungen. Für beide ist dies Teil des Umgangs mit dem Sterben, auf das sich Barbara Hammer seit 2018 bewusst einstellte. Im Film ist sie aus dem Off zu hören, wie sie einen Text über ihre Zeit in den Dünen liest, unterbrochen von Wortwechseln mit Sachs. So ist das Ergebnis eine mehrfach zeitlich gebrochene und selbstreflexive Auseinandersetzung mit autobiographischem Filmen. Er wurde mit dem Großen Preis der Stadt Oberhausen ausgezeichnet.


Natürlich gab es auch die politischen Filme, die den Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen fokussieren. In I AM THE PEOPLE_I , der den FIPRESCI-Preis gewann, lässt Li Xiaofei nacheinander Menschen in unterschiedlichen Settings zu Wort kommen, die über die chinesische Gesellschaft, ihre Mechanismen und den Stellenwert des Menschen darin nachdenken. Der tschechische Film APPARATUS AS A GOAL OF HISTORY präsentiert Menschen in verschiedenen entfremdeten Arbeitsumgebungen und kommentiert das zunehmend sarkastisch. Im Programm blieben solche explizit politischen Filme indes deutlich in der Minderheit.

Die Kurzfilmtage unterscheiden sich von anderen Filmfestivals naturgemäß dadurch, dass noch mehr Filme in kurzer Zeit gesehen werden. Allein innerhalb des internationalen Wettbewerbs waren es neun Programme mit insgesamt 56 Filmen, dazu kommen zahlreiche andere Sektionen. Zusätzlich zum internationalen Wettbewerb sichtete die ökumenische Jury den Kinder- und Jugendwettbewerb ab 12+. Wie schon in den Vorjahren sind die Filme in diesen Programmen überhaupt nicht weniger anspruchsvoll und gelungen, im Gegenteil. Im spanischen Film GRIETAS müssen sich zwei Geschwister entscheiden, bei welchem Elternteil sie nach der Trennung leben wollen. In SANS PLOMB will eine 17jährige heimlich von zu Hause abhauen und ärgert sich, dass ihre kleine Schwester ihr nachläuft. Bis diese in einer Notsituation eine überraschend eindrucksvolle Notlüge improvisiert. JAMILA aus dem gleichnamigen Film muss einschätzen, ob die Polizei, die in der Schule auftaucht, wegen ihrer Abschiebung gekommen ist. Ihre Schwester versteht nicht, warum Jamila die Erwachsenen als Bedrohung ansieht. Alle diese Filme sind wunderbare Beispiele dafür, wie Kurzfilme ihre Geschichte auf brillante Weise schnörkellos entfalten können.


Und natürlich sind Kurzfilme oft mutig, was die Gestaltung betrifft, auch im Kinderfilmbereich. Der spanische Animationsfilm EXTRAÑAS CRIATURAS, der aufgrund seiner beeindruckenden und liebevollen Gestaltung im internationalen und im Kinderwettbewerb lief, vermittelt Kindern nicht nur eine klare ökologische Botschaft, sondern lässt sie auch an einem ungewöhnlichen ästhetischen Erleben teilhaben. Das gilt genauso für den wunderbaren WARUM SCHNECKEN KEINE BEINE HABEN, der zeigt, wie die langsamen Schnecken in der von betriebsamen Bienen dominierten Arbeitswelt zum Störfaktor wurden.

Mein persönlicher Favorit fand sich ebenfalls im Jugendwettbewerb. Mit THE ECHO zeigt der Australier Michael Gupta, warum auch in nur zweieinhalb Minuten ein betörend guter Film erzählt werden kann. Ein schönes Beispiel dafür, wie Kunst wechselseitig inspiriert: Der Regisseur war auf das Gedicht THE RIDER der palästinensisch-amerikanischen Dichterin Naomi Shihab Nye gestoßen. „A boy told me / if he roller-skated fast enough / his loneliness couldn’t catch up to him, / the best reason I ever heard / for trying to be a champion. / What I wonder tonight / pedaling hard down King William Street / is if it translates to bicycles. / A victory! To leave your loneliness / panting behind you on some street corner / while you float free into a cloud of sudden azaleas, / pink petals that have never felt loneliness, / no matter how slowly they fell.“ Um zu verstehen, warum er davon so angerührt war, machte er diesen Film. Die Bilder und Motive ergaben sich für ihn von selber und sind dabei doch alles andere als bloße Illustrationen. Verknüpft mit der kongenialen Musik von Luke Atencio und einem stimmigen Sounddesign entstand so wiederum ein Kunstwerk. Es ist zu hoffen, dass dieser und viele andere Filme, wenn nicht im Kino, dann in der kirchlichen Filmarbeit in Schulen und Gemeinden für weitere Inspirationen sorgen.