Bericht von den Nordischen Filmtagen Lübeck 2016. Von Jurymitglied Christoph Rehmann-Sutter


Die 17 Beiträge im Spielfilmprogramm der Nordischen Filmtage Lübeck nahmen das Publikum mit auf eine vielseitige Expedition ins Innere der Gesellschaften nordischer Länder vom Baltikum über Skandinavien bis Island. Sie führten in abgelegene Fjordlandschaften, in ein isländisches Dorf und eine Litauische Stadt, in die Birkenwälder Finnlands, in die Welt der Chirurgie, in die Subkultur von Drogenabhängigen, in die Untiefen des Sozialwesens, sowie an unbekannte Stellen in der jüngeren und älteren europäischen Vergangenheit.

Wie kein anderes Medium kann der Film Nähe schaffen. Die Herausforderung, für jeden Beitrag gleichermaßen offen zu sein und immer wieder frische Aufmerksamkeit aufzubringen, war dank regelmäßigen Gesprächen mit den anderen Mitgliedern der verschiedenen Jurys, einer hervorragenden Organisation des Lübecker Festivals und einer zuvorkommenden Jurybetreuung erstaunlich leicht zu bewältigen.

Die Wahl der INTERFILM-Jury fiel eindeutig und mit Enthusiasmus auf Framing Mom (Rosemari) der norwegischen Regisseurin Sara Johnsen, die auch das Drehbuch des Films geschrieben hat. Dem Film gelingt es, die Geschichte einer auseinandergerissenen und neu zusammengesetzten Mutterschaft witzig und tiefgründig zu erzählen. Er setzt an der Hochzeitsfeier der jungen Journalistin Unn Tove ein. Schnell wird klar, dass sie im Begriff ist, den falschen Mann zu heiraten. Die Feier wird durch das Auffinden eines Neugeborenen auf der Hoteltoilette völlig aufgewühlt. Unn Tove übergibt das kleine Mädchen den Behörden und lebt ihr Leben über die nächsten Jahr weiter. Doch 16 Jahre später steht Rosemari vor ihrer Türe. Sie ist auf der Schwelle, erwachsen zu werden. Linkisch und reif, neugierig und skeptisch blicken ihre Augen auf die verworrene Welt der Dramen, die sich um sie herum abgespielt haben. Abgebrochene Lebensentwürfe umgeben sie. Unverständliches stürzt auf Rosmari ein, die Welt der Erwachsenen wirkt nicht einladend.


Die Suche nach dem Vater hat schon viele Filmemacher beschäftigt – ist doch die Mutter eher diejenige, die „sicher“ ist, die durch ihre Schwangerschaft und Geburt identifizierbar ist. Doch in Framing Mom ist das anders: der Vater lässt sich leicht finden, während die Mutter aus dem Dunkeln geborgen werden muss. Die Mutter bleibt im toten Winkel der Kamera, bis sich Rosemaris Augen auf Nähe einstellen können.

Der Film zeigt die Bedeutung des Geborenseins, der Geburt und der Mutterschaft für die menschliche Existenz. Er handelt von Vergebung und Versöhnung in der Auseinandersetzung mit einer schwierigen Vergangenheit. Mutter und Tochter bestätigen einander in einer komplexen und vielschichtigen Beziehung. Die Geschichte ist befreiend, indem sie für die Personen eine Zukunft öffnet. Rosemari kann neu anfangen, indem auch ihre Mutter und Unn Tove neu anfangen. Der Film geht mit allen Figuren, den weiblichen und den männlichen, äußerst sorgfältig um. Diese ganz besondere Geschichte einer Heilung nimmt neue unerwartete Wendungen. Sie hält eine eigentümliche Spannung aufrecht, ein neugieriges Vibrieren, das einen in Bann zieht und das Betrachten zum bleibenden Erlebnis werden lässt.

Die Auswahl war nicht leicht. Da gab es z.B. das fast frenetisch gefilmte existenzialistische Porträt einer partysüchtigen Studentenszene in Kopenhagen In the Blood (I Blodet) von Rasmus Heisterberg. Oder die eindrucksvolle Liebesgeschichte eines kriegsversehrten dänischen Soldaten, dem eine Landmine in Afghanistan die Beine weggerissen hat, mit einer Ballettänzerin, die viel mehr als er von Körpern und Bewegung versteht: Walk with Me (De Standhaftige) der schwedischen Regisseurin Lisa Ohlin. Oder es gab die Aufarbeitung der schrecklichen – leider wahren – Geschichte des dänischen Jugendheims „Godhaven“ The Day Will Come (Der kommer en Dag) von Jesper E. Nielsen. Begebenheiten um die Verfolgung der etwa 7000 dänischen Juden durch die Nazis 1943 und die entschlossene Hilfe durch den dänischen Widerstand arbeitete der Film Across the Waters (Fuglene over sundet) von Nicolo Donato in einem leider manchmal etwas süsslichen Drama auf.

Eine neue Erzählung von der Hexenverfolgung in der Mitte des 17. Jahrhunderts brachte erstaunliche Einsichten in die Seele der betroffenen Frauen, die sich das System auch mal selbst zunutze machen konnten. Die Finnin Saara Cantell hat diese eindrucksvolle Geschichte auf einer wirklich großen Leinwand gedreht: Devil’s Bride (Tulen Morsian). Kadri Kõusaar aus Estland präsentierte Mother (Ema), eine clever verstrickte Krimi-Kömödie um einen wachkomatösen Sohn Lauri, in dem sich erst am Schluss herausstellt, wer ihn so zugerichtet hatte. Ebenfalls ein psychologisch überaus spannender und toll gearbeiteter Thriller ist der isländische Film The Oath (Eidurinn) von Baltasar Kormákur, der selbst einen Chirurgen spielt, der beim Beschützen seiner drogengefährdeten Tochter den hippokratischen Eid beiseitelegt und stattdessen ein Skript von Gewalt und Rache ausagiert.


Um Rache geht es auch in einem spannenden Thriller der Norwegerin Kjersti Steinsbø, Revenge (Hevn), dessen großartige Landschaftsaufnahmen der eigentlich überaus verzweifelten Geschichte dennoch eine unheimliche Großartigkeit verleihen. Erik Skjoldbjærgs Versuch der Aufarbeitung der wahren Geschichte eines Serienbrandstifters in Norwegen, Pyromaniac (Pyromanen), musste hingegen an mangelnder psychologischen Tiefe scheitern: Nur eine Chronik mit gewaltigen Bildern, aber ohne Erklärung. Wenig überzeugend, wenn auch durchaus spannend, schien mir der Versuch eines Sozialdramas in Thrillerform über polnische Einwanderer in Schweden, die der schwedischen Sozialbürokratie anheimfallen: Dariusz Gajewskis Strange Heaven (Obce Niebo). Johan Löfstedts Film Small Town Curtains (Småstad), der eine eigentlich tolle Idee hatte, eine wirklich existierende Familie in einem Film ihre Familiengeschichte erzählen zu lassen, fehlte irgendwie noch der nötige Witz. Aber anderen hat dieser Film ausgesprochen gefallen! Und dann war noch die Komödie A Holy Mess (En underbar jävla Jul) von Helena Bergström über Rassismus in einer missratenen schwedische Weihachtsfeier. Sie enthielt zwar durchaus einige lustige Momente, wirkte aber gequält und blieb an der Oberfläche kleben.

 

Einer der Filme, die dadurch herausragen, dass sie dem Publikum eine unbekannte Welt eröffnen, ist zweifellos Drifters (Tjuvheder) gewesen. Es handelt sich um das Spielfilmdebüt des jungen schwedischen Regisseurs Peter Grönlund. Der Film porträtiert eine Subkultur von Arbeitslosen und Drogenabhängigen, die am Rande der Gesellschaft um ihr Überleben kämpfen. Der größte Teil der vielschichtigen Handlung spielt sich in einer Art Hütten- und Wohnwagensiedlung ab, die ständig davon bedroht ist, von den Stadtbehörden geräumt zu werden. Die 30-jährige Minna – überragend gespielt von der großen Schauspielerin Malin Levanon – hat ADHS und ist drogensüchtig. Gezwungen, mit immer größeren Einsätzen zu dealen, wird sie in die Fänge eines rauhgesichtigen Drogenbarons getrieben, der vor nichts zurückschreckt, mehr wie ein verschlagener Unterwelthäuptling agiert, aber gar nichts von einem geschniegelten Mafioso an sich hat.

Überhaupt besteht Minnas Leben und das ihrer Bekannten eigentlich immer nur darin, den nächsten, mehr oder weniger verzweifelten Deal zu drehen, um wieder ein Stück weiterleben zu können. Das verleiht dem Film eine Bedeutung über das Milieu hinaus. Er stellt eine Frage an uns alle. Minna behält unter diesen extrem schwierigen Lebensbedingungen ihre Menschlichkeit und ein Gefühl der Verantwortung für andere, die ihr schließlich zu einem Deal mit der Polizei und zu einer Umkehr verhelfen. Die Geschichte kommt ohne jegliche Süße aus und ist schonungslos realistisch, aber liebevoll dargestellt. Seine Figuren, nicht nur Minna, haben mich eigenartig berührt.


Der Litauer Andrius Blazevidius hat mit dem Film The Saint (Sventasis) sein Langfilmdebüt vorgestellt. Es ist die hinreißende Geschichte des arbeitslosen jungen Mechanikers Vytas und die Parallelgeschichte eines Geistersehers, dem kein Geringerer als Jesus Christus vor einer leeren Hausmauer erschienen ist. Das Ganze spielt inmitten der wirtschaftlichen Depression im Jahr 2008, während der alles aus dem Ruder zu laufen droht. Die beiden Geschichten bewegen sich aufeinander zu, um sich am Schluss erst zu treffen, was zu einer Wandlung im stetigen Abstieg führt und Vytas wieder zu seiner Frau Jurate und ihren beiden (absolut bezaubernd dargestellten) kleinen Töchtern zurück führt. Die Geschichte lässt mich mit der Frage zurück, wer der Heilige denn ist. Ist wirklich der Geisterseher gemeint? Er könnte auch nur ein Spinner sein. Oder ist es doch Vytas, der durch seinen Glauben gestärkt wird und sich erst nach einem emotionalen Zusammenbruch seiner kleinen Familie wieder zuwenden kann? Der Film kulminiert in einer ikonischen Szene, in dem Vytas nichts weiter tut, als in der Küche Gemüse zu schnippeln. Es ist ein wohltuend undogmatisches Bekenntnis zum Thema der Auferstehung.

Ein Monument von einem Film ist Heartstone (Hjartasteinn), der erste abendfüllende Spielfilm des isländischen Regisseurs Gudmundur Arnar Gudmundsson. Es ist ein Drama über das Erwachsenwerden in einem kleinen isländischen Fischerdorf, in dem wenig Peinliches vor den Anderen verborgen bleiben kann. Die Erwachsenen sind für die Kinder weit entfernt. Die beiden Freunde Thor und Kristián, altersmäßig nur wenig auseinander, leben in einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen im Dorf. Sie entdecken ihre Gefühle, ihre Sexualität, ihre Fähigkeit zur Gewalt, und machen Schlüsselerfahrungen mit den anderen Kindern, aber auch mit den Erwachsenen, auf die oft wenig Verlass ist. Der Film ist konsequent aus der Perspektive der beiden Jungen gedreht. Er zeigt in großartigen, ja archetypischen Szenen die Verletzlichkeit der jungen Protagonisten. Etwa die bei Thor zu Hause am Familientisch, als eine seiner beiden größeren Schwestern mit unsicherer Stimme ein eigenes Gedicht vorliest, das von ihren dunklen Gedanken handelt, und die andere Schwester nur fragen kann, weshalb sie denn nicht gleich von der Klippe springe. Dieser Film hat völlig zu Recht den NDR-Filmpreis gewonnen, den Hauptpreis der Nordischen Filmtage.



The Happiest Day in the Life of Olli Mäki (Hymyilevä mies) vom jungen finnischen Regisseur Juho Kuosmanen ist ein Juwel. Der Film erzählt die wahre Geschichte des 25-jährigen Boxers Olli Mäki, der am 17. August 1962 in Helsinki gegen den damaligen Weltmeister in der Leichtgewichtsklasse, den Amerikaner Davey Moore antrat. Diesen Boxkampf hat er zwar verloren, ziemlich klar sogar. Aber er hat den Tag gewonnen und sich selbst und in einer neuen Liebe sein Leben gefunden. Der Film ist in mit grobkörnigem Schwarzweissmaterial gedreht und eindrucksvoll fotografiert. Die selbstbewusste Lehrerin Raija, in die sich Olli am Rand einer unverhofften Hochzeitsfeier verliebt, ist die zweite Protagonistin im Film, die den Plot oft weiterbringt. Eero Milonoff spielt den Coach Elis, der einen unglaublichen Hype um den Kampf veranstaltet, Fundraising betreibt, für den Titelkampf ein Fussballstadion füllt, die Grenzen seiner legitimen Autorität Olli gegenüber ständig deutlich überschreitet und ihm dennoch ein guter Freund bleibt. Es war toll, den beiden überaus sympathischen Hautptdarstellern Jarkko Lahti (Olli) und Oona Airola (Raija) in Lübeck zu begegnen. Diesen Film zu sehen machte glücklich. Gewiss die Mitglieder unserer INTERFILM-Jury.

Information

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Die INTERFILM-Jury der Nordischen Filmtage 2016 hat den norwegischen Film "Rosemari" von Sara Johnsen mit ihrem Preis ausgezeichnet. Den NDR-Filmpreis gewann "Hjartasteinn" (Herzstein) von Guðmundur Arnar Guðmundsson aus Island.