Ein reiches, erfülltes Leben hat sich in eine riesige Sammlung verwandelt, von Büchern, die fast ein ganzes Haus füllen, von Fotos, Filmspulen, Audiokassetten, Gemälden, Kunstobjekten. Und von Texten und Notizen, die der sizilianische Journalist und Autor Giuseppe Quatriglio geschrieben hat. Seine Tochter Costanza Quatriglio hat ihn in ihrem Film „Il cassetto secreto“ porträtiert, mit Flashbacks in über fünfzig Jahre Zeitgeschichte, mit Gesprächen, die sie anfangs noch mit ihm führen kann, in einem nur noch imaginären Dialog nach seinem Tod. Der hinterlassene Schatz an Wissen und Erinnerung wird in ein Archiv überführt, nummeriert, beschriftet, katalogisiert, verpackt und abtransportiert. Film und Erinnerung stemmen sich gegen diese Verwandlung und können sie doch nur festhalten. Aber nicht aufhalten. Die Mumifizierung der Zeit, in der André Bazin das Wesen des Films erkannte, spiegelt sich bei Quatriglio in dem, was vor der Kamera geschieht.
Mit einer anderen, nicht weniger schmerzlichen Ambivalenz operiert „Der unsichtbare Zoo“ von Romuald Karmakar, eine Dokumentation über den Zoo Zürich, der dem Konzept folgt, Tiere nicht in Käfigen, sondern in so naturnah wie möglich gestalteten Lebensräumen zu zeigen – und damit den Zoo für die Besucher, so gut es geht, unsichtbar, für die Tiere artgerechter zu machen.
Einem Tier gibt Karmakar eine eigene Geschichte, etwa in der Mitte des Films. Eben noch sehen wir ein Zebra in seiner ganzen Schönheit, dann wird es im Off durch einen Schuss getötet. Lange Minuten widmet der Film der Verarbeitung des Kadavers, seines Verblutens, seiner Ausweidung und schließlich seiner Verfütterung an die Löwen. „Kreislauf des Lebens“ nennt ein Informationsblatt den Vorgang. Und aus den Gesprächen des Personals erfahren wir, dass das Zebra, ein Hengst, schon monatelang allein, ohne einem ihm gemäßen Harem, leben musste, weil die Suche nach weiblichen Artgenossen erfolglos war. Das ganze Dilemma des Zoobetriebs lässt sich an dieser Episode erkennen.
Kommentarlos überlässt Karmakar alle Schlussfolgerungen der Reflexion des Zuschauers. Nicht nur über die Widersprüche zwischen Tierschutz und institutioneller Zoo-Logik. Sondern vor allem über die Parallelen zwischen Zoo- und Kinobesuch. Über das Sehenwollen. Beide, Kino und Zoo, entspringen diesem Antrieb. Als ob er ein Kinoaxiom formulieren wollte, hat Karmakar seinem Film ein Zitat des griechischen Philosophen Empedokles vorangestellt. Wir sehen, heißt es dort, das Wasser nur durch das Wasser. Die Erde nur durch die Erde, das Feuer nur durch das Feuer. Und der Film ergänzt: Sehen, und damit Erkennen, ist ohne Schuld, ohne die Herrschaft des Blicks, nicht zu haben.
Das Forum unter der neuen Leiterin Barbara Wurm zeigte auch eine Reihe herausragender Spielfilme. „The Human Hibernation“ (Preis der internationalen Filmkritik) von Anna Cornudella Castro spielt in einer Welt, in der Menschen gelernt haben, die kalte Jahreszeit im Winterschlaf zu verbringen. Statt technologisch aufzurüsten, haben sie von Tieren gelernt. Auch die Kamera rückt Menschen und Tiere einander näher, gönnt beiden lange close-ups. Eine leicht somnambule Stimmung färbt den Film, der vom Willen zum Weniger geprägt ist. „Marijas klusums“ (Marias Schweigen; Preis der Ökumenischen Jury) von Dāvis Sīmanis, gedreht in Schwarz-Weiß, erinnert an die in Riga geborenen Schauspielerin Maria Leiko, die im deutschen Stummfilm Karriere machte, nach 1933 zuerst zurück nach Lettland, dann in die Sowjetunion reiste, in Moskau wieder Theater spielte und in den stalinistischen Säuberungen 1937/38 ermordet wurde. Man versteht den Film wohl am besten als eine Parabel über politische Naivität, die blind ist für die längst herrschende gewaltsame Repression ringsum.
Besonders eindringlich in Erinnerung bleibt der rumänische Film „Săptămâna Mare“ (Die heilige Woche) von Andrei Cohn. Er erzählt von einer jüdischen Familie in einem Dorf zu Anfang des 20. Jahrhunderts, die Tag für Tag einer giftigen und vergiftenden Mischung von Rassismus, religiöser Anfeindung, sexuellen Projektionen, Missgunst und Korruption ausgesetzt ist. Schon der Anfang schockiert mit dem Faustschlag eines außer Rand und Band geratenen Mannes in den Bauch einer Schwangeren, der Jüdin Sura, die zusammen mit ihrem Mann Leiba das Wirtshaus des Dorfes betreibt. Ein anfangs persönlicher Konflikt weitet sich im Laufe der österlichen „heiligen Woche“ zu einer bedrohlichen Frontstellung zwischen der isolierten jüdischen Familie und der christlichen Gesellschaft des Dorfes. Andrei Cohn erweitert damit das schmale Spektrum der Filme, die sich mit dem Antisemitismus vor dem Holocaust auseinandersetzen.
Ein reines, großartiges Vergnügen hingegen, über drei Stunden hinweg, ist Alexander Horwaths „Henry Fonda for President“, der die Biografie und Familiengeschichte Fondas in den weiten Rahmen der Geschichte der Vereinigten Staaten stellt, vom Beginn des siebzehnten Jahrhunderts, als seine Vorfahren aus den Niederlanden nach New England einwanderten, bis zur Nominierung des ihm verhassten Ronald Reagan als republikanischer Präsidentschaftskandidat im Jahr 1980. Horwath zeigt uns ein liberales Amerika, unvergesslich verkörpert durch den von Fonda verkörperten aufrechten Geschworenen in Sidney Lumets Gerichtsfilm "12 Angry Men" (Die zwölf Geschworenen) von 1957 - ein Land, das heute untergegangen zu sein scheint. Und ihm gelingt, was Filmgeschichte im besten Fall erreichen kann: die Erzählungen und Charaktere von Fondas Filmen transparent für die Welt zu machen, die sie hervorgebracht hat.
Dies ist die erweiterte Fassung eines Artikels, der zuerst in epd Film 4/2024 erschien. © epd Film/Karsten Visarius