Unterwegs mit der Ökumenischen Jury in Locarno
Eine «starke» ökumenische Jury diskutierte vom 6. bis 16. August am Festival Locarno intensiv über die 17 Filmbeiträge im internationalen Wettbewerb. Die sechs Jurymitglieder aus Europa, Nord- und Südamerika mit unterschiedlichen konfessionellen und kulturellen Hintergründen verband die gemeinsame Leidenschaft für den Film sowie die Offenheit darüber in einen gemeinsamen Dialog zu treten.
Im Rahmen der Feier der unabhängigen Jurys zeichnete die ökumenische Jury «Durak» («Der Idiot») mit dem mit 20‘000 Franken dotierten Preis aus. Der russische Film erzählt von einem idealistischen Klempner, den alle für einen Idioten halten, weil er sich für seine Mitmenschen einsetzt. Doch Dima ist alles andere als ein Durak; er ist ein Mensch, der Verantwortung übernimmt, sich von der Gesellschaft nicht korrumpieren lässt und gegen alle Widerstände an seinen Überzeugungen festhält.
Wer waren die sechs Mitglieder der ökumenischen Jury? Welche Erfahrungen haben sie in Locarno gemacht? Und welche Filme zählten sonst noch zu den Favoriten?
Wie bei jeder ökumenischen Jury stellten Interfilm und Signis, die beiden internationalen Organisationen von protestantischer respektive katholischer Seite, je drei Mitglieder. Andreas Engelschalk, der evangelische Theologe und Schulpfarrer aus Wetzlar, präsidierte die Jury. Aus dem kanadischen Halifax war Alyda Faber, Professorin für Theologie und Ethik an der Antlantic School of Theology, angereist. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Religion, Ethik und Film ebenso wie feministische Theorie und Theologie oder Religion und Gewalt. Das dritte Interfilm-Mitglied war Milja Radovic, die sich in ihrer Dissertation mit Ausdrucksformen der nationalistisch-religiösen Ideologie im serbischen Film während der 1990er-Jahre beschäftigte. Die promovierte Theologin an der Universität Edinburgh lebt in Schottland, ist Mitglied der Edinburgher Friedensinitiative und forscht gegenwärtig zum Thema zivilgesellschaftliches Engagement, Film und Friedensarbeit.
… Buenos Aires, Lyon und Bukarest
Für Signis vertrat Blanca María Monzón aus Argentinien Südamerika in der ökumenischen Jury. Die studierte Philosophin ist Film- und Kunstkritikerin sowie unabhängige Kunstkuratorin. Seit 2001 ist sie Leiterin des Film- und Kunstdepartements am Kulturzentrum Borges. Die Französin Ingrid Ruillat studierte zeitweise in Kanada internationalen Handel und Kommunikation. Sie arbeitet für die katholische Kirche und ist Assistentin von Kardinal Barbarin, dem Erzbischof von Lyon. In ihrer Freizeit engagiert sie sich ehrenamtlich für Filmfans in ihrer Region. Der Jesuit Florin-Ioan Silaghi studierte Philosophie in Padua und Theologie in Paris. Nach der Priesterweihe beendete er an der Loyola Marymount University in Los Angeles das Masterstudium in Kunst für Film- und Fernsehproduktion. Er lebt heute in Bukarest, ist in zahlreiche audiovisuelle Produktionen einheimischer und ausländischer NGO’s involviert und ist Kommunikationsverantwortlicher des Jesuitenordens in Rumänien.
Ausführliche und leidenschaftliche Diskussionen
Alle sechs Mitglieder der ökumenischen Jury schätzten den offenen Dialog über die Filme. Milja war dankbar und fühlte sich geehrt, in einer so starken Jury mitarbeiten zu dürfen. Alle hätten hohe künstlerische Ansprüche vertreten und ein Verständnis und Wissen über Filmtheorie und -geschichte mitgebracht, das sie ausserordentlich fand. Florin freute sich über den facettenreichen und freundlichen Austausch unter den Jurymitgliedern. Da hätten sich gemeinsame Sichtweisen ebenso gefunden wie auch ganz unterschiedliche Interpretationsansätze. Auch Alyda betonte die entspannte Atmosphäre in der Gruppe. Alle seien sehr engagiert gewesen und die einzelnen Filme seien ausführlich und leidenschaftlich diskutiert worden – auch solche, die den Jurykriterien für den ökumenischen Preis nicht entsprochen hätten. Auch Milja unterstrich, dass die Jury wirklich Zeit gehabt hätte, sich mit den Filmen auseinanderzusetzen, sie zu diskutieren und auch wieder auf Filme zurückzukommen. Sie hätten die Filme in all ihren Aspekten beleuchten können. Diese Zeit habe man nicht immer, doch sei das für eine intensive Auseinandersetzung grundlegend.
Locarno – eine beeindruckende Festivalstadt
Voll des Lobes waren die internationalen Gäste auch für den Festivalort, das Programm und die gute Organisation. Alyda fühlte sich am Festival sehr willkommen, schätzte die Gastfreundschaft vor Ort und die Arbeit von Hans Hodel im Hintergrund. Er hatte für die Jury einen Terminplan mit den Visionierungen zusammengestellt, sie immer wieder mit wichtigen Informationen à jour gehalten und ein Treffen mit dem künstlerischen Leiter Carlo Chatrian organisiert. Milja schätzte die angenehmen Spielzeiten. Die ökumenische Jury schaute sich die Wettbewerbsfilme in der Regel täglich um 9.00 und 14.00 Uhr in den Pressevorführungen im Kursaal an. Wobei Florin die Qualität der Projektionen im zum Kino umfunktionierten Theatersaal lobte. Von der Atmosphäre auf der Piazza Grande, dem grössten Open-Air-Kino Europas mit seinen rund 8‘000 Plätzen, waren alle sechs Jurymitglieder begeistert. Alyda fand die Filmabende auf der Piazza Grande fantastisch; der öffentliche Raum von Locarno sei förderlich gewesen, eine feierliche Kinoatmosphäre zu schaffen. Auch liebte sie die Berge und den See im Wandel von Licht und Wetter zu beobachten. Ingrid zeigte sich ebenfalls beeindruckt von Locarno als Festivalstadt, in der das Leopardensujet omnipräsent sei – von der schwarz-gelben Bestuhlung auf der Piazza Grande, über die Busse und Fahrräder im Leopardendesign bis hin zu den Auslagen der Geschäfte.
17 Wettbewerbsfilme, diverse Favoriten…
Der über 4,5 Stunden dauernde philippinische Wettbewerbsbeitrag «Mula sa kung ano an noon» («From What is Before») hat mehrere ökumenische Jurymitglieder nachhaltig beeindruckt. Ingrid meinte, sie hätte bisher noch nie einen so langen Film gesehen. Die Zeit habe das Eintauchen in die wunderschöne Natur erleichtert. Gefilmt in Schwarz-Weiss hätte man hautnah das Leben der Dorfbewohner entdecken können und auch wie dieses Gleichgewicht schrittweise durch militärische Eingriffe beeinträchtigt wurde. Regisseur Lav Diaz greift die Situation in den Philippinen 1972 auf, als Ferdinand E. Marcos das Kriegsrecht über das Land verhängt und Militärinterventionen zur Tagesordnung werden. Diaz war der am meisten ausgezeichnete Regisseur in Locarno. Bei der Preisverleihung der unabhängigen Jurys am Samstagnachmittag dufte er eine Auszeichnung nach der anderen entgegen nehmen. Am Abend auf der Piazza Grande wurde er dann auch mit dem Pardo d'oro ausgezeichnet, dem Hauptpreis der internationalen Jury.
Auch der Film von Pedro Costa wurde von Alyda, Florin, Blanca und Milja als Favorit genannt. «Cavalo Dinheiro» spielt auf den Kapverden zur Zeit der portugiesischen Nelkenrevolution. Während junge Anführer die Revolution 1975 in die Strassen tragen, suchen die Einwohner von Fontainhas nach Ventura, der sich in den Wäldern verirrt hat. Alyda zeigte sich beeindruckt vom Spiel mit den Perspektiven, den Bildern in den Bildern, den Kontrasten von Licht und Dunkelheit. Das habe an die behandelten Themen von Erinnerung, Trauma und Verlust herangeführt. Pedro Costa überzeugte auch die internationale Jury und erhielt für sein Drama den Pardo für die beste Regie. Milja bezeichnete «L’abri», den Schweizer Dokumentarfilm von Fernand Melgar, als einen der wichtigsten Filme für das heutige Europa. Er greife Bürgerrechte, (Staats-)Zugehörigkeit und das Anderssein auf – alles herausfordernde Themen unserer Zeit.
…und «Durak» als starker ökumenischer Preisträger
Rund sechs Filme hatte die ökumenische Jury in der Schlussrunde noch einmal ausführlich diskutiert. Sie mussten sich auf einen Preisträger einigen und hätten noch zwei lobende Erwähnungen vergeben können. Sie entschieden sich für «Durak» («Der Idiot») von Yury Bykov als alleinigen ökumenischen Preisträger. Der bereits erwähnte Film über den einfachen Klempner, der sich gegen die korrupten Machenschaften in seiner Kleinstadt auflehnt und sich für die Schwächsten einsetzt, ist starkes Kino. Für seine Darstellung als Klempner Dima wurde Artem Bystrov mit dem Pardo für den besten Schauspieler ausgezeichnet. Milja überzeugte nicht bloss die Handlung und das tolle Spiel, sondern auch die Aussage des Regisseurs. Er meinte, solange es solche Idioten wie den Klempner in seinem Film gebe, so lange gebe es Hoffnung für unsere Welt. «Durak» sei, so Milja weiter, ein ehrlicher Film, der Meinungen entlarve, Stereotypen vermeide, die Komplexität des Lebens und die Wichtigkeit verantwortungsvollen Handelns gegenüber anderen aufzeige.
Eine sehr engagierte ökumenische Jury fand in «Durak» einen starken Preisträger. Dank dem Preisgeld von 20‘000 Franken, das die reformierten Kirchen und die katholische Kirche zu gleichen Teilen zur Verfügung stellen, dürfen wir mit dem Filmstart von Durak im kommenden Jahr rechnen.
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INTERFILM dankt Monica Lienin und dem Medientipp für die Überlassung des Textes. Der Medientipp ist ökumenisch getragen (Herausgeber: Katholischer Mediendienst / Reformierte Medien). Über einen kostenlosen Newsletter kann der Medientipp regelmäßig bezogen werden: http://www.medientipp.ch/newsletter