Der Kinderfilm führt in Deutschland noch ein Schattendasein. Dabei hat er, wie das internationale Filmfestival in Zlin belegt, mit hochkarätigen Filmen aufzuwarten, welche zentrale Themen und Werte verhandeln und dabei ein waches Auge auf Kinder als Protagonisten werfen. Den Filmen ist es gemeinsam, dass sie das Vertrauen in die Fähigkeiten und besondere Perspektive von Kindern stärken und kritisch auf problematische gesellschaftlich-politische Rahmenbedingungen verweisen, die durch eine engagierte Haltung und gemeinsames Handeln überwindbar werden. Kinder in Sri Lanka, eine kleine, durch die neue Lehrerin inspirierte Dorfgemeinschaft, kommunizieren über eine tägliche Rede ihre Sicht auf die Welt und überwinden dann gemeinsam alles, um zum ersten Mal das Meer zu sehen („The Singing Pond“, Sri Lanka 2014). Der Junge eines depressiven Vaters beginnt nach dem Verlust der Mutter achtsam Papierflugzeuge zu bauen und gewinnt damit nicht nur selbst an Kraft , sondern befreit damit auch ein Stück weit den Vater („Paper Planes“, Australien 2014). Ein Mädchen geschiedener Eltern hat eine Freundin mit Behinderung, die überaschenderweise zur Mutter eines Küken wird und in dieser neuen Rolle über sich hinauswächst („Birds of Passage“, Belgien 2015). Der Blick auf Kinder und ihr Blick selbst erhalten im zeitgenössischen Kinderfilm einen Platz, der nicht nur Geschichten über Kinder erzählt, sondern ihrer Sichtweise, ihrer Ohnmacht und ihrem Glauben Raum gibt.
Kinder wie Chala im kubanischen Film „Bahviour“ oder Mina im afghanisch-kanadischen Film „Mina Walking“ haben keine Kindheit. Sie leben in zerrütteten Familien, mit alkohol- oder drogenabhängigen Eltern, sie überleben in Systemen und Staaten, in denen die Realität so harsch ist, dass der Alltag zum Kampf wird. So finanziert der 11-jährige Chala den Lebensunterhalt der Familie mit Hundekämpfen, während seine Mutter das Geld nicht für die Stromrechnung, sondern für Drogen ausgibt. Und das afghanische Mädchen Mina streunt in Müllbergen umher, in denen sie geduldig Stoffreste herauspickt, um daraus Schals zu nähen, die sie verkauft. Auch ihr Vater ist opiumabhängig und behält sie nur so lange bei sich, wie sie das Geld anschafft und den Alzheimer-kranken Großvater versorgt.
Filme wie „Behaviour“ (Kuba 2014) oder „Mina Walking“ (Afghanistan-Kanada 2015) geben Einblick in eine Welt ohne Hoffnung und Perspektive, in der Kinder - mehr als alle anderen - eine kaum vorstellbare Kraft aufbringen für das Leben. Und in denen sie für eine Zukunft stehen, eine Perspektive oder gar eine moralische Haltung. Gemeinsam ist diesen Filmen aber auch, dass in diesen korrupten Systemen oft einzelne Menschen einen entscheidenden Unterschied machen - Menschen, die einer Haltung aufrufen, welche das System von unten und von innen zu revolutionieren vermag. „Ich möchte, dass meine Worte Töne haben“, sagt Carmela, die Lehrerin von Chala. Und sie ist dafür bereit, die Regeln zu brechen, um die Kinder unter den widrigsten Bedingungen innerlich zu stärken. Im Sinne einer „Anwaltschaft für die Schwachen“ spricht sie mit Eltern und mit der Polizei; sie steuert gegen die Mühlen des Individualitätsverlusts und lässt schließlich das Marienbild an der Tafel hängen, welches ein Mädchen nach dem Tod eines Klassenkameraden aufgehängt hatte - obwohl dies im sozialistischen Kuba zu ihrer Kündigung führen kann. Anders als die neue Generation von Lehrern entscheidet sie aus der vorgefundenen Realität heraus, was das moralisch Richtige ist; und sie steht für ihre Überzeugungen ein, wenn andere gleichgültig bleiben. Hundekämpfe seien immerhin besser als ein Hundeleben, sagt sie einmal. Auch Mina begeht ein Vergehen, um ihren Vater zu beschützen. Aber sie hat eine Lehrerin, die sie fordert und sieht, und sie dennoch nicht erreicht. Nichts macht die Diskrepanz von Behauptung und Lebensrealität deutlicher, als wenn sie kurz nach der ersten Beteiligung von Frauen an Wahlen, um einer Verheiratung mit einem alten Mann durch ihren Vater zu entgehen, die Bücher in der Schule zurückgibt und ihr einziges Hab und Gut und die Chance auf einen Beruf, ihre Nähmaschine, verkauft, um eine Burka zu erwerben. Am Ende wird das Mädchen, welche aus einer religiösen Haltung heraus ihren Großvater würdig beerdigen lässt, während ihr Vater im Drogenrausch ist, mit ihren strahlenden Augen umgeben von Gesichtslosen sitzen, die opiumbetäubte Babys in den Armen halten, um in den reicheren Vierteln Kabuls betteln zu gehen. Um ihre eigene Menschenwürde und Unabhängigkeit zu bewahren, wird sie zu einer der vielen Gesichtslosen der Stadt.
Filme wie diese machen den Zuschauer zu Zeugen alltäglicher Menschen- und Kinderrechtsverletzungen und zeigen eine Haltung der Haltlosen, die durch Menschen mit Überzeugungen oder aus einem eigenen Glauben heraus bestehen. Sie werfen die Frage auf, was mit ihnen geschähe, wenn sie keine Lehrerfiguren hätten oder keinen inneren Glauben, der sie trüge.