Als Wim Wenders erfahren hatte, daß ihm ein Ehrenleopard des Locarno Filmfestivals verliehen wurde, zeigte er komische Bedenken in einem Interview. „Warum der Satz, für mein Gesamtwerk? Ich muß mir schwer überlegen, ob ich wirklich aufhöre!“ Gerade acht Tage vor seinem sechzigsten Geburtstag stand er stolz auf der Bühne der Piazza Grande, wo ihm 7000 Zuschauer mit Standing Ovations zujubelten, als er sein Leoparden T-Shirt zeigte. Sechzig Jahre für einen Filmregisseur sei kein Alter, meinte er. Und wenn man sich erinnert, daß mit sechzig Jahren Ingmar Bergman „Fanny und Alexander“ gedreht hat, und mit siebzig Jahren Luis Bunuel den Oskar für „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ bekam, dann hat er Recht. Sehr wahrscheinlich hat Wim Wenders, der bedeutende Regisseur unserer Zeit, noch viel mehr Filme „in petto“.
„Don't Come Knocking“ (ungefähr: „Laß mich in Ruhe“), der 37. Film von Wim Wenders, wurde in Locarno auf der Piazza Grande gezeigt in Anwesenheit des Bundeskanzlers Gerhard Schröder. In Cannes uraufgeführt, wo der Film in Le Monde als Goldene-Palme-verdächtig gehandelt wurde, ging Wenders leer aus. Jetzt startet „Don't Come Knocking“ in Deutschland, verliehen durch den amerikanischen Verleih UIP. Gedreht in Amerika (Kamera Frank Lustig), in Moab, Utah („John Ford Country“) und in Butte, Montana (Schauplatz für Dashiell Hammetts Bestseller „Rote Ernte“, 1929 veröffentlicht), wird die Geschichte eines alt werdenden Westernheldes erzählt. Howard Spence, von Dramatiker Sam Shepard gespielt, der bei „Paris, Texas“ (Goldene Palme, Cannes 1984, Kamera Robby Müller) am Drehbuch mitgearbeitet hat, läuft weg vom Drehort, mitten in einer Liebeszene. Der besoffene, drogensüchtige, frauenhinterherlaufene Schauspieler ist ausgebrannt. Der Film aber muß zu Ende gedreht werden, daher läuft ein Versicherungsvertreter (Tim Roth), ein sogenannter „Completion Bounty Hunter“, hinter Howard Spence her. Die Spur führt ihn nach Las Vegas, wo Howards Mutter (Eva Marie Saint in einer schönen Nebenrolle) wohnt. Von seiner Mutter erfährt er, daß in Butte wohl ein Sohn von ihm lebt. In Butte wartete die Mutter dieses Sohnes, aber auch eine Tochter aus einer weiteren Liaison.
Es ist offensichtlich, daß Wim Wenders – wie Dashiell Hammett und Jack Kerouac vor ihm – in die Stadt Butte verliebt ist. Vor hundert Jahren hatte die Entdeckung von Kupfer in nahe gelegenen Minen zu einem „Krieg der Kupfer-Könige“ geführt. Die Weltfirma Anaconda wurde in Montana gegründet. Für eine lange Zeit war Butte die unzüchtigste Stadt im ganzen Land – „Montaner trinken zuviel, kämpfen zuviel, lieben zuviel“, sagte „On the Road“ Schriftsteller Jack Kerouac. In den zwanziger Jahren, während der Prohibitionszeit, hat das Trinken, das Spielen und die Prostitution in Butte den San Francisco-Detektiv und -Schriftsteller Dashiell Hammett in dieses „Paradies“ geführt. Dort schrieb er sein Meisterwerk „Rote Ernte“ – es geht um das „Rote Gold“, das Kupfer der Minen.
1980, als ich Wim Wenders in San Francisco getroffen habe, war er tief in der Vorbereitung für „Hammett“ (1982), produziert von Francis Ford Coppolas Zoetrope Studio in Kalifonien. Während einer Pause in der Verhandlung über Finanzen, nahm Wenders sich die Zeit, um nach Butte zu fahren. Er wollte einen Teil des „Hammett“ Filmes in Butte drehen, sagte damals Tom Luddy, sein Freund bei Zoetrope und Mitbegründer des legendären Telluride Filmfestivals, wo Wim Wenders jedes Jahr ein willkommener Gast wurde. Wenn man dieses bedenkt, ist „Don't Come Knocking“ eine Art Fortsetzung von „Hammett“ – nicht unbedingt von „Paris, Texas“, wie viele Kritiker meinen. Besser gesagt: „Don't Come Knocking“ ist die letzte Teil einer sehr persönlichen „Western Trilogie“ des Künstlers Wim Wenders.