Zum Gedenken an Aleksandr Jakovlevič Askol'dov
Auf der Berlinale 1988 erlebte ein Film seine Weltpremiere, der mehr als zwanzig Jahre vorher entstanden war: „Komissar“ (Die Kommissarin) von Aleksandr Askol′dov. Er gewann einen Silbernen Bären, die Preise beider kirchlicher Filmorganisationen und den Preis der Filmkritik. Noch wenige Monate zuvor, beim Moskauer Filmfestival 1987, musste Askol′dov selbst die Initiative ergreifen, um eine Vorführung seines Films zu erwirken, obwohl im Rahmen von Glasnost′ und Perestrojka der über ihn verhängte Bann bereits aufgehoben war. So erschien ein Werk auf der Weltkarte der Kinematografie, das bald als Klassiker des sowjetischen Films erkannt wurde – nachdem es 1967 nur knapp der Vernichtung entgangen war. Es sollte das Debüt seines Regisseurs sein. Stattdessen erhielt er lebenslanges Berufsverbot, wurde in die Provinz verbannt und musste sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Sein Film sollte verbrannt werden, blieb jedoch erhalten.
„Die Kommissarin“ basiert auf einer Erzählung von Vasilij Grossman, Askol′dov selbst schrieb das Drehbuch; die Musik komponierte Alfred Schnittke. Er spielt zu Beginn der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in einem Städtchen zwischen den Fronten des Bürgerkrieges und handelt von einer durch Revolution und Krieg verhärteten Kommissarin der Roten Armee, die schwanger geworden ist – ein weibliches Schicksal, das sie zwingt, Politik und Kampf anderen zu überlassen. Stattdessen erfährt sie in einer jüdischen Familie, die sie aufnimmt, eine ebenso konkrete wie utopische, zugleich immer von Gewalt bedrohte Menschlichkeit. Legendär wurde eine die Zeiten verschränkende Montage, in der die Kommissarin die Juden Europas in die Gaskammern wandern sieht – eine Schreckensvision der Zukunft für sie, das emblematische Bild einer historischen Barbarei für den Zuschauer.
Askol′dov wurde 1932 geboren (es gibt zu Ort und Datum verschiedene Angaben). Sein Vater, ein Kommissar der Roten Armee, wurde 1937 von der Geheimpolizei verhaftet und ermordet; wenig später wurde auch seine Mutter eingesperrt. Der verängstigte Fünfjährige fand Zuflucht bei jüdischen Freunden der Familie. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte er Literatur in Moskau, beschäftigte sich mit den Werken Michail Bulgakows und Maksim Gor′kijs und arbeitete als Theater- und Literaturkritiker. Danach wurde er, noch in der Zeit des nachstalinistischen „Tauwetters“, Funktionär bei der staatlichen Filmproduktions- und Zensurbehörde Goskino. 1964 begann er ein Studium als Filmregisseur, dessen Abschluss „Die Kommissarin“ bilden sollte. Es wurde sein Lebensfilm, und sein Verbot zu einer lebensgeschichtlichen Katastrophe.
Die Euphorie über die Wiederbegegnung mit dem erstaunlicherweise unversehrt gebliebenen Film und die Bewunderung, die ihm als einem Ausnahmewerk entgegenschlug, nährte auch die Hoffnung auf einen künstlerischen Neuanfang. Sie schwand über die Jahre dahin. 1998 erschien als Roman „Heimkehr nach Jerusalem“, in Wahrheit ein Filmscript, das an der Figur eines jüdischen Schauspielers und Theaterleiters den latenten und am Ende der Stalinzeit manifesten sowjetischen Antisemitismus aufgreift, aber auch Verblendung und Opportunismus eines Künstlers, Frauenhelden und Publikumslieblings beschreibt. Solomon Michoels, der lange Jahre prominente Leiter des staatlichen jüdischen Theaters in Moskau, lieferte das Vorbild für diese Figur. Eine Verfilmung kam nicht zustande.
Wer Aleksandr Askol′dov begegnete, zum Beispiel auf dem jährlichen Ökumenischen Empfang der Berlinale, den er mit seiner Frau Svetlana in unbeirrbarer Verbundenheit regelmäßig besuchte, fand nicht etwa einen verbitterten, sondern freundlich-zugewandten, liebenswürdigen und unfassbar bescheidenen Menschen. Besonders verbunden fühlte er sich mit dem 2016 verstorbenen Ehrenpräsidenten von INTERFILM, Hans Werner Dannowski, der ihm am Abend vor der Preisverleihung der Berlinale 1988 die Nachricht von der Auszeichnung der "Kommissarin" mit dem Otto-Dibelius-Preis der INTERFILM-Jury überbracht hatte. In einem Aufsatz des Bandes "Kino und Kirche im Dialog" (hg. v. Martin Ammon und Eckart Gottwald, Göttingen 1996) berichtet er von der Erschütterung und Bewegung, mit der der Geehrte die Auszeichnung aufnahm. INTERFILM ernannte ihn 2000 zum Ehrenmitglied. Nach längerer schwerer Krankheit starb Aleksandr Askol'dov in der Nacht zum Pfingstmontag in Göteborg.