Eindrücke der interreligiösen Jury vom 52. Filmfestival Visions du Réel in Nyon


Ein kleiner Screen statt der grossen Leinwand, ein Kopfhörer statt Dolby Surround: Die Corona-Pandemie hat uns gelehrt, Zustände zu akzeptieren, die wir vor anderthalb Jahren als skandalös eingestuft hätten. Können wir als Zuschauende der Arbeit von Filmschaffenden denn gerecht werden, wenn wir ihr Werk nicht unter den Bedingungen betrachten, für die sie es eigentlich geschaffen haben? Nun, 13 Filme (soviele waren im internationalen Wettbewerb) und etliche Tage später ist klar: Wir können. Denn grosses Kino hat nichts mit der Leinwandgrösse zu tun, gut gesetzte Themen gewinnen auch in kleinstem Betrachtungsformat an Tiefe, und ein Kopfhörer steigert eventuell sogar noch die Emotionalität des Gehörten, weil das Ganze damit zu dem wird, was viele anstreben – zum Kino im Kopf.

Die Wettbewerbsbeiträge der «longs métrages» waren eindrücklich und vielfältig: Aufstand gegen das totalitäre Regime in Polen («1970», Thomasz Wolski, Polen 2020), generationenübergreifender Widerstand gegen den Autokraten Lukaschenko («Courage», Aliaksei Paluyan, Deutschland/ Belarus 2020), geistesabwesendes Zelebrieren des eigenen Wohlstands («The Bubble», Valerie Blankenbyl, Schweiz/Österreich 2020), Überleben am Rand des Abgrunds («Little Palestine. Diary of a Siege», (Abdallah Al-Khatib, Libanon/Frankreich/Katar), dazu ein Manual über militärische Beherrschung («The First 54 Years. An Abbreviated Manual for Military Occupation», Avi Mograbi Frankreich/Deutschland/Israel/Finnland 2021) und eine Betrachtung über das Wesen des Kriegs mit drei Ansätzen, ihn in Schach zu halten («Bellum – The Daemon of War», David Herdies, Georg Götmark, Schweden/Dänemark 2021) – als sei’s ein Menetekel, flimmern die verstörenden Bilder von Umsturz, Aufstand und Kampf um die Verteilung von Ressourcen über den Bildschirm.


In den Visionen der Wirklichkeit 2021 herrscht Endzeitstimmung. Schöne Bilder unberührter Landschaften («Holgut», Liesbeth De Ceulaer, Belgien 2020) oder ein durchkomponiertes Epos über den Anbau psychotroper Blätter («Faya Dayi», Jessica Beshir, USA/Äthiopien/Katar 2020) wirken als ein Gegengewicht, aber die geneigte Zuschauerin landet in einer Realität, in der sie befürchtet, als zwangsläufig fehlbare Mutter aus Fleisch und Blut vor der Perfektion des maschinellen In-den-Schlaf-Rüttelns nicht bestehen zu können («Users», Natalia Almada, USA/Mexiko 2020).

 

Sollen wir als Zeichen der Hoffnung verstehen, dass bei laufendem Festival die Kinos der Pandemie zum Trotz aufmachen durften? Die diesjährige interreligiöse Jury, bestehend aus Marie-Therese Mäder (Präsidentin, katholisch), Noëmi Gradwohl (jüdisch), Majid Movasseghi (muslimisch) und Jean-Paul Käser (reformiert) hat sich nach etlichen Online-Besprechungen für die Auswahl des Preisträgers offline getroffen, die düstere Palette noch einmal durchdiskutiert und nach getaner Arbeit bei Speis und Trank ausgiebig gefeiert. Für den zuletzt Erwähnten bleibt aus den gemeinsam verbrachten Stunden die gelassene Überzeugung zurück, dass sich hoch geschraubte Erwartungen an künstliche Intelligenz im Hinblick auf die Lösung sich in den Vordergrund drängender Probleme als ebenso trügerisch erweisen dürften wie naives Vertrauen darauf, der liebe Gott werde es schon richten.

Also tun wir, was in unserer Macht steht, um die Welt, in der wir uns bewegen, immer wieder ein klein wenig menschlicher zu gestalten und als Handicap anzunehmen, dass wir die Wege der andern oft nur ansatzweise verstehen. Ambitionslos? Wenn uns die im Wettbewerb gezeigten Filme dazu zu bewegen vermögen, haben die Filmemacherinnen und Filmemacher ihren Anteil zu einer gelingenden Welt jedenfalls beigetragen.


Nebst dem von der Interreligiösen Jury ausgezeichneten und tief bewegenden Film «Little Palestine. Diary of a Siege» sind aus dem internationalen Wettbewerb der Langfilme der Schweizer Beitrag «Ostrov - Lost Island» (Svetlana Rodina, Laurent Stoop, Schweiz 2021), «Bellum – The Daemon of War» und «Courage» besonders aufgefallen. Die vier Filme, allesamt preiswürdig, zeigen die Vielfalt der Themen auf, mit denen sie sich und wir uns beschäftigen. Die Werke kreieren in ganz unterschiedlicher Weise Bilder, die im Gedächtnis bleiben und sich damit gegen das Vergessen-werden wehren.

«Little Palestine. Diary of a Siege» zeigt in einer mutigen Regiearbeit, was Hunger, Krieg und Unterdrückung bei den von der Welt Vergessenen anrichten. Wie Menschen von ihrer Würde beraubt werden, das Menschliche entmenschlicht und im Elend vergessen wird, hält der Regisseur Abdallah Al-Khatib in respektvollen und schmerzlichen Bildern fest. Unvergessliche und schonungslose Aufnahmen von Hunger, Gewalt und Unterdrückung prägen sich in die Wahrnehmung von uns Zuschauenden ein. Eine humanitäre Katastrophe wie sie nach anderen Beispielen in der Weltgeschichte nicht mehr hätten passieren dürfen, hat trotzdem stattgefunden. Der Film hält die Ereignisse fest, die erinnert werden sollen, weshalb ihn die Interreligiöse Jury unter anderem auch auszeichnete.

 

Von drei Generationen auf einer kleinen Insel im Kaspischen Meer erzählt «Ostrov». Die Insel verfügt nicht einmal über so lebensnotwendige Dinge wie Gas, Strom oder ein Krankenhaus. Als der Grossvater einmal schwer erkrankt, weiss niemand, was zu tun ist. Es ist ein vergessener, ja verlorener Ort. Im Mittelpunkt steht Ivan, der Vater einer Familie, der gezwungen ist, wegen des wertvollen Kaviars illegal Störe zu fangen, um auf dieser Insel irgendwie zu überleben. Durch das Bild dieser Insel verweist der Film symbolhaft auf eine viel allgemeinere Problematik, und das ist die Frage des vergessenen, verlorenen Russlands. Ein typisches Schicksal in einem Land, das derart riesig ist, dass seine Führer noch nicht einmal wissen, welch viele schönen Orte sie achtlos übersehen haben. Orte wie diese Insel mit ihren verfallenden Häusern und streunenden Pferden, die einfach allein gelassen wurden. Und doch leben diese Menschen mit ihren erstaunlichen Gefühlen auf sich allein gestellt und ohne die Errungenschaften der Zivilisation. Und sie sind immer noch auf den Beinen, obwohl niemand jemals auf ihre seltenen Beschwerdebriefe reagiert. So wird «Ostrov» zu einem unvergesslichen Film über Menschen, die vergessen wurden, aber dennoch nicht ihre Hoffnung verloren haben. Man merkt dem Film den Mut und den langen Atem seiner Macher deutlich an. Das Publikum spürt, dass sie eine lange Zeit auf der Insel gelebt haben.


Die Erzählung von «Bellum – The Daemon of War» verflicht drei gegenwärtige Perspektiven auf den Krieg. Ein ehemaliger US-amerikanischer Soldat aus dem Afghanistankrieg erzählt uns Geschichten vom gewaltsamen Tod. Er langweilt sich in den Vereinigten Staaten so sehr, dass er wieder zurück an die Front möchte. Ein AI-Forscher vermittelt seine Begeisterung, Drohnen zu produzieren, mit denen nur die gewünschten Ziele beschossen werden. Und schliesslich schauen wir noch einer US-amerikanischen Fotografin dabei zu, wie sie in Afghanistan Menschen inszeniert und abgelichtete Kriegsopfer auf ihrem Bildschirm für einen Sammelband auswählt. Aus unterschiedlichen Richtungen werden Blicke auf das Kriegsgeschehen geworfen: Die Fotografin rückt mittels der Kamera kriegsversehrte Menschen ins richtige Licht. Der AI-Forscher beobachtet fasziniert seine Roboter, wie diese die Welt erfassen, und der Soldat blickt durch den Sucher seines Gewehrs auf sein Zielobjekt. Die Erzählung ist klug montiert und erschliesst sich uns Zuschauenden vor allem durch die Geschichte, die sich zwischen den Erzählsträngen entwickelt.

«Courage» zeigt auf eindrückliche Weise, wie im Kampf gegen ein autoritäres Regime das Theater eine wichtige Stimme innehat. Doch nicht nur die Mitglieder der Theatergruppe «Belarus Free Theatre» sind in ihrem politischen Aktivismus mutig, sondern auch der Filmemacher Aliaksei Paluyan. Die Kamera befindet sich in «Courage» immer wieder mitten in den Demonstrationen und zeigt das Machtgefälle zwischen der oftmals brutalen Staatsgewalt und den Bürgerinnen und Bürgern auf. Sie leisten gegen die Regierung von Aljaksandr Lukaschenka, der in Belarus seit 26 Jahren an der Macht ist, unüberhörbaren Widerstand. Die Kamera folgt den Mitgliedern der Truppe, die auf die Strasse gehen, sich exponieren und das Regime in ihren Produktionen auch auf der Bühne kritisieren.


Mit solchen bewegenden Bildern im Kopf trafen wir uns jeweils online nach 2 bis 3 gesichteten Filmen im Kachelformat. Erstaunlich war, wie wir in der Jury selbst sofort einen Draht zueinander fanden, auch wenn die Gespräche vorerst online stattfanden. Jeden Abend schlossen wir uns per Zoom zusammen und diskutierten die Ausbeute des Tages, fragten nach, wunderten uns, argumentierten und lachten – der deutlichen Schwere der Themen zum Trotz. Als wir uns schliesslich doch noch off screen trafen, zur Entscheidungsfindung in Biel, auf einer Terrasse mit befreitem Blick über die Stadt – alle selbst getestet und zum Glück negativ – ist die Freude groß, ebenso wie die Überraschung: Die Diskussionen gehen nahtlos von der virtuellen Welt in die reale Welt über, als wären wir alte Bekannte.

Unser Fazit ist dennoch klar: Kino ist schöner im Großformat, diskutieren ist anregender in richtiger Gesellschaft. Denn das ist die Krux: dem Live-Moment ist digital nicht beizukommen.

Festivals

Am 15.4. begann das 52. Filmfestival Visions du Réel in Nyon in einem hybriden Format: mit einem begrenzten Publikum "on site" und einer auch nur für Schweizer Zuschauer sowie Akkreditierte zugänglichen Online-Version. Nach einer in der Schweiz überraschend angekündigten Lockerung der Pandemie-Regeln wurde das Festival ab 22. April bis zum Abschluss am 25. April für das Publikum geöffnet.