Venezia 78 - Festivalbericht von Peter Paul Huth


„Tornano i divi“ - „Die Stars kehren zurück“ titelte der Corriere della Sera. Die Ankunft von Stars wie Penelope Cruz, Isabelle Huppert, Kristen Stewart, Olivia Colman, Kirsten Dunst, Benedict Cumberbatch, Antonio Banderas, Oscar Isaac wurde begeistert gefeiert.

Nach den Einschränkungen des vergangenen Jahres, als Venedig eines der wenigen Festivals war, die überhaupt stattfanden, ist die 78. „Mostra internazionale d’arte cinematografica“ fast wieder back to normal. Allerdings ist das neu eingeführte Ticket-System so kompliziert und verwirrend, dass es alle zur Verzweiflung treibt. Wer nicht blitzschnell Tage im Voraus online gebucht hat, steht mit leeren Händen da.

Spektakulär wie in alten Zeiten fiel die Eröffnung aus. Italiens Starkomiker Roberto Benigni wurde mit einem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk geehrt, den er seiner Frau und langjährigen Filmpartnerin Nicoletta Braschi widmete. Eigentlich habe er statt eines Leone nur ein Gattino, ein Kätzchen verdient, kommentierte Benigni gewohnt selbstironisch. Selbst der populäre Staatspräsident Sergio Mattarella war zur Eröffnung gekommen, wo er mit Ovationen begrüßt und trotz seiner 80 Jahre zu einer weiteren Amtszeit aufgefordert wurde.

„Glamour e Politica“, so charakterisierte die italienische Presse die Filmauswahl dieses Jahres. Pedro Almodóvars Eröffnungsfilm „Madres paralelas“ entsprach perfekt diesem Profil. Almodóvars internationale Karriere hatte in Venedig vor mehr als 30 Jahren mit „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ begonnen. In „Madres paralleles“ spielt Penelope Cruz die Fotografin Janis, Mitte 40, deren Großvater wie Tausende andere im Spanischen Bürgerkrieg von den Franco-Truppen und Falangisten ermordet wurde. 80 Jahre später sind viele der Massengräber immer noch nicht identifiziert, geschweige denn die Überreste der Toten geborgen. Im Film empört sich Janis über die demonstrative Blockade der früheren konservativen Regierung, als Ministerpräsident Mariano Rajoy stolz verkündete, dass man für historische Grabungen keinen Cent in den Haushalt stellen werde.

Almodóvar wäre nicht Almodóvar, wenn nach dem politischen Auftakt keine melodramatischen Verwicklungen folgten. Janis wird nach einer kurzen Affäre mit einem politischen Archäologen schwanger. Im Krankenhaus begegnet sie Ana, einer panischen Teenager-Mutter. Es dauert einige Zeit, bis sich per DNA-Analyse herausstellt, dass die Babies vertauscht wurden. Die lesbische Affäre, die sich zwischen den beiden anbahnt, ist wieder eine klassische Almodóvar- Geschichte. Schließlich werden doch noch regionale Gelder für die Grabungen bewilligt und die Verwicklungen nehmen ein gutes Ende. Der Archäologe trennt sich von seiner Frau, Janis wird wieder schwanger. Man schaut Penelope Cruz und Milena Smit als ‚Parallelen Müttern‘ gerne zu, aber es bleibt das irritierende Gefühl, dass hier in abenteuerlichen Drehbuchwendungen zusammenfügt wird, was nicht zusammenpasst. Trotzdem dürfte der Film nicht zuletzt dank seines politisch relevanten Themas im Kino gut funktionieren.


Was Almodóvar nicht schafft, die persönliche und die politische Ebene zu verbinden, gelingt „Les Promesses/Die Versprechen“, dem französischen Eröffnungsfilm der Nebenreihe „Orrizonti“ sehr überzeugend. Isabelle Huppert agiert einmal mehr als durchsetzungsfähige, selbstbewusste Frau, die als Bürgermeisterin in der Pariser Banlieu die Sanierung einer Cité von Sozialwohnungen realisieren will. Sie scheut keine Auseinandersetzung mit dem politisch gut vernetzten Präsidenten von Grand Paris, der über die Freigabe der entsprechenden Gelder zu entscheiden hat und versucht, sie mit dem Versprechen eines Ministerpostens ruhig zu stellen. Reda Kateb beweist als ihr Assistent und Chef de Cabinet seine enorme Wandlungsfähigkeit. Er ist als Kind arabischer Migranten selbst in der Cité aufgewachsen und weiß, wie er mit den informellen Machtstrukturen vor Ort umgehen muss. „Les Promesses“, die zweite Regie von Thomas Kruithof, beeindruckt durch ein durchkomponiertes Drehbuch und einen diversen Cast hervorragender Akteure. Wie unter einem Brennglas wirft der der Film einen kritischen Blick auf die sozialen und politischen Verhältnisse in Frankreich und beleuchtet dabei die komplexen Strukturen der Lokalpolitik und deren enge Verknüpfung mit den intransparenten Machtkämpfen der nationalen Politik. Wer etwas über die politischen Verhältnisse am Vorabend der Präsidentschaftswahlen 2022 erfahren will, sollte sich „Les Promesses“ anschauen.


Paul Schrader, Drehbuchautor von „Taxi Driver“ und Regisseur von „American Gigolo“, beeindruckte auf dem Lido vor vier Jahren mit dem evangelikalen Drama „First Reformed“. Einige seiner früheren Filme fielen eher enttäuschend aus. Umso größer war die Überraschung bei seinem aktuellen Wettbewerbsbeitrag „The Card Counter“, der zum Favoriten vieler Kritiker avancierte. Cool, mit gegelten Haaren spielt Oscar Isaac einen professionellen Blackjack- und Poker-Spieler, der von Casino zu Casino zieht. Abends sitzt er alleine in seinem Motelzimmer, wo er die Lampen, Nachttische und selbst sein Bett mit weißem Stoff umwickelt. Bis ihn etwas aus seiner Lethargie reisst. Der Mann, der sich William Tell (!) nennt, hieß früher William Tillich und gehörte als Soldat zu den Folterern im berüchtigten Gefängnis von Abu Ghraib.

In Flashbacks holt ihn die Vergangenheit ein. Schmutzige Bilder in fahlem Gelb, aufgenommen in extremer Fisheye-Perspektive. Wie Lynndie England tauchte er auf peinlichen Fotos auf und wurde zu acht Jahren im Militärgefängnis verurteilt. Bei einer Waffenmesse trifft auf er seinen Ausbilder (William Dafoe), der wie alle höheren Chargen ungeschoren davongekommen ist. Wenn man Paul Schrader kennt, weiß man, dass der Showdown zwischen den beiden Männern nicht unblutig ausgehen wird. Zwischendurch versucht der Protagonist wie Wilhelm Tell einen Jungen zu retten, der sein Sohn sein könnte. Wie immer in den Filmen von Paul Schrader geht es um Schuld und Sühne, um die Dämonen der Vergangenheit, die dem Protagonisten keine Ruhe lassen. Mit 71 Jahren präsentiert Schrader einen der besten Filme seiner Karriere, der in Erinnerung ruft, zu welchen Verbrechen das amerikanische Imperium im Namen von freedom und democracy fähig war und ist, wie man wieder in Afghanistan sieht.

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Fast 30 Jahre nach David Lynchs „Wüstenplanet“ präsentiert der Kanadier Denis Villeneuve eine neue Version des Science-Fiction Romans von Frank Herbert im Blockbuster-Style. Alles ist größer, spektakulärer und gefährlicher als in der alten Fassung. Die Musik von Hans Zimmer dröhnender, die Wüste wüster und der junge Held heldenhafter. Die Geschichte könnte als perfekte Umsetzung der in vielen Drehbuch-Workshops verkündeten ‚Heldenreise’ durchgehen.


Worum geht es? Der hinterlistige Emperor der Galaxis schickt das noble Fürsten-Haus der Atreiden als Verwalter auf den Wüstenplaneten Arrakis, wo die brutalen Harkonnen jahrzehntelang gewütet haben. Wissend, dass besagte Harkonnen, die außerdem hässlich sind wie die Nacht, diese Übernahme nicht tatenlos hinnehmen werden. In der Sandwüste von Arrakis werden mit riesigen Baggern „Spice“, „Gewürze“ geerntet, auch „Melange“ genannt, die das Leben verlängern und die Navigation durch das Universum ermöglichen. Die Maschinen sehen aus wie altertümliche Schaufelradbagger beim Tagebau in der Braunkohle. Ständig droht Gefahr durch riesige, 400m lange Sandwürmer, die wie ein Tsunami durch die Wüste rauschen und alles verschlingen, was ihnen in den Weg kommt. In der Wüste ist es unerträglich heiß, menschliche Behausungen werden durch ein gigantisches Sun-Shield geschützt.

Die Einzigen, die in der Lage sind, in dieser unwirtlichen Landschaft zu überleben, sind die Ureinwohner, die Fremen, was nicht zufällig wie Free Men klingt. Sie sind ein Haufen wilder und furchtloser Krieger, die in ihrer Wüstenkleidung aussehen wie eine Mischung aus Taliban und Tuareg. Angeführt werden sie von Javier Bardem, der mit spanischem Akzent Englisch spricht, während seine Krieger sich akzentfrei artikulieren können. Auf der anderen Seite stehen Oscar Isaac als Leto, Duke of Atreides, und Timothée Chalamet als sein Sohn Paul. Nachdem der Vater durch heimtückischen Verrat ermordet wurde, steht Paul in der Pflicht, den Planeten vom Tyrannen zu befreien. Es mehren sich die Anzeichen, dass er „The Chosen One“ ist, der Mahdi, der Erlöser, auf den das Volk der Fremen seit Jahrhunderten gewartet hat. Allerdings muss der schöngeistige Paul vorher noch im Kampf ein wahrer Mann werden. Wobei die Schwertkämpfe mit einem digitalen Wisch-Effekt unterlegt werden, damit sie nicht so old fashioned aussehen.  Perfekt zum Zeitgeist passt eine feministische Geheimsekte, der seine Mutter angehört und für die Charlotte Rampling als „Ehrwürdige Mutter Mohiam“ hinter den Kulissen die Fäden zieht.

Das Ganze als eine esoterische Mischung aus antiken Mythen und religiösen Versatzstücken, ökologischen und technologischen Referenzen zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung. „Dune“ wirkt wie ein überdimensionales Computerspiel auf großer Leinwand. Eine verkleinerte Version für den heimischen PC ist schon in Arbeit. Regisseur Denis Villeneuve bezeichnet den Film als „‚Star Wars‘ für Erwachsene“, und man darf annehmen, dass auch die Fans von „Game of Thrones“ auf ihre Kosten kommen. Wer kein Faible für religiös und mythologisch verquaste Science Fiction hat, muss für „Dune“ nicht ins Kino gehen. Timothée Chalamets letzter Satz kurz vor dem Abspann klingt wie eine Drohung: „This is only the beginning!“


Man kann sich kaum ein radikaleres Kontrastprogramm als den italienischen Beitrag „Il buco/Das Loch“ vorstellen. Auch hier geht es um einzigartige, extreme Landschaften. Regisseur Michelangelo Frammartino rekonstruiert die Expedition einer Gruppe junger Höhlenforscher, Speläologen im Fachjargon, die von Mailand ins Hinterland von Kalabrien aufbrechen, um in den Bergen von Bifurto die tiefste Höhle Europas zu erkunden. 687 Meter messen sie auf ihrem Weg in immer tiefere Abgründe, begleitet von der Kamera, die mit ihnen in die Tiefe gleitet. Wie man in dokumentarischen Bildern zu Beginn des Films erkennt, sind wir Anfang der 60er Jahre. Mailand erlebt einen Bauboom, Arbeitsemigranten strömen aus dem agrarischen Süden in die Industriemetropole im Norden. Wie auch die Eltern von Michelangelo Frammartino, der sich hier auf eine Spurensuche in die Vergangenheit seiner Familie macht. Während in Mailand Wohnblocks in die Höhe schießen, steigen die Speläologen in unerforschte Tiefen. Auf dem Grund finden sie nichts Metaphysisches, sondern nur einen Tümpel voller Wasser und ein paar Fetzen aus Zeitschriften. Der Weg ist das Ziel, scheint der Film zu sagen, und nimmt uns mit auf eine spirituelle Reise. Aus der Entfernung beobachtet ein alter Schäfer das Geschehen. In den Furchen seines Gesichts sind die Jahre eingeschrieben, er wirkt wie letzte Zeuge einer bäuerlichen Lebensform, die im Verschwinden begriffen ist.

Es gibt keine Dialoge und es gibt keinen Plot. “Il Buco“ ist ein meditativer Film mit leicht esoterischem Einschlag, der zum Nachdenken über Zeit und Raum einlädt. Ein typischer Festivalfilm für ein Publikum, das genug Geduld und Aufmerksamkeit mitbringt. Ein willkommener Moment der Ruhe, nachdem man gerade von „Dune“ zugedröhnt wurde.

Französische Verhältnisse

Einer der eindrucksvollsten Filme des Wettbewerbs war Xavier Giannolis Verfilmung  von Honoré de Balzacs Klassiker „Illusions perdues" (Verlorene Illusionen). Zusammen mit seinem Co-Autor Jacques Fieschi hat Giannoli die 800 Seiten des Roman erfolgreich auf zweieinhalb Stunden Kino komprimiert. Der junge Poet Lucien de Rubempré kommt aus der Provinz nach Paris, um dort als Dichter sein Glück zu machen. In den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts herrscht nach dem Ende Napoleons die monarchistische Restauration. Paris wird zu einer Boomtown des Theaters und der Presse. Allenthalben entstehen neue Zeitungen, die ihre Leser mit Halbwahrheiten und den neuesten Gerüchten versorgen. Lucien wird schnell in diese Welt hineingezogen, in der alles käuflich ist, die Frauen der Demimonde wie auch die Rezensionen eines Romans oder eines Theaterstücks. Zum Spaß lässt man in der Redaktion ein kleines Äffchen, dem man mehrere Bücher hinhält, entscheiden, welches davon besprochen werden soll.

Auf der einen Seite stehen die Royalisten, die ihre wiedergewonnene Adelsprivilegien ausnutzen, auf der anderen Seite die bürgerlichen Liberalen, die sich rebellisch geben, aber keine Form der Korruption scheuen. Es ist "die Geburtsstunde des kommerziellen Kulturbetriebs" sagt Xavier Giannoli in der Pressekonferenz. "Balzac schreibt über die 1820er Jahre, aber er war ein Visionär, der uns heute den Spiegel vorhält." Verblüffende Parallelen zu Instagram und Social Media tun sich auf. Man entdeckt Mechanismen von Macht und Geld, die die Welt der Medien und der Kultur bis heute bestimmen.


Der Film ist glänzend besetzt mit Benjamin Voisin als naiv jugendlichem Lucien, Cécile de France als seiner adeligen Gönnerin und Gérard Depardieu, massiger denn je, als ehemaliger Gemüsehändler, der zu einem einflussreichen Verleger aufgestiegen ist. Jeanne Balibar als intrigante Gräfin und Xavier Dolan als royalistischer Literat und Rivale Luciens runden das exzellente Ensemble ab. "Illusions perdues" beeindruckt durch Rhythmus und Eleganz. Aus dem Off kommentiert ein auktorialer Erzähler das Geschehen. Zwar ging der Film bei der Preisverleihung leer aus, ist aber unbedingt sehenswert und bietet die Gelegenheit, Xavier Giannoli, einen der interessantesten Filmemacher Frankreichs, auch im Ausland zu entdecken.

Einen harten Kontrast zu Giannolis klassischer Eleganz liefert Audrey Diwan mit „L’événement“ (Das Ereignis) nach der gleichnamigen literarischen Vorlage von Annie Ernaux.  Die Geschichte spielt in Frankreich Anfang der 1960er Jahre, zu  einer Zeit, als Abtreibung noch unter Strafe stand. Beide Filme verbindet ein empathischer Blick auf die Verzweiflung junger Menschen. Anne kommt aus einfachen Verhältnissen, die Eltern betreiben eine Bar, sie bereitet sich auf die Zulassung zur Universität vor, wo sie Literatur studieren möchte. Nach einer kurzen Affäre wird sie schwanger, was das Ende ihrer akademischen Ambitionen bedeuten könnte. Die Kamera bleibt immer nahe bei der Protagonistin, die von Anamaria Vartolomei mit bewundernswerter Entschlossenheit gespielt wird, was sie auf jeden Fall zu einer würdigen Kandidatin für den Schauspielerpreis macht.


Gerade weil die Geschichte so beiläufig erzählt wird, geht sie umso tiefer unter die Haut. Die verzweifelte Suche der jungen Studentin nach einem Ausweg aus ihrem existenziellen Dilemma hält uns bis zum Schluss in Atem. Eindrucksvoll auch, wie wenig der Film braucht, um die Atmosphäre der 60er Jahre in Szene zu setzen. Die fast dokumentarische Handkamera und das klassische 4:3-Format geben der Geschichte eine klaustrophobische Intensität. Dass „L’Événement“ am Ende den Goldenen Löwen gewinnen würde, war eine Riesenüberraschung, mit der kaum jemand gerechnet hatte. Es ist auf jeden Fall eine mutige, absolut plausible Entscheidung der Jury, eine relativ junge Regisseurin für ihren zweiten Film auszuzeichnen. Die Karriere von Audrey Diwan, Französin mit libanesischen Wurzeln, die sich bisher vor allem als Drehbuchautorin einen Namen gemacht hatte, dürfte damit einen entscheidenden Schub bekommen.

Einen Goldenen Löwen oder einen anderen Preis hätte auch der neue Film von Stéphane Brizé, „Un autre monde" (Eine andere Welt), verdient, der damit seine Trilogie über die Arbeit im modernen, globalisierten Kapitalismus abschließt. Nach „La loi du marché“ (Der Wert des Menschen) und „En guerre“ (Streik) wendet er sich diesmal dem Milieu der Chefetagen zu. Vincent Lindon, der für „La loi du marché“ 2015 in Cannes ausgezeichnet wurde, spielt Philippe, einen Manager, der einen französischen Standort eines multinationalen Unternehmens leitet. Aus den USA bekommt er die Vorgabe, eine bestimmte Anzahl an Mitarbeitern zu entlassen, um die Profitabilität zu erhöhen. Im Interesse der Aktionäre geht es darum, „to cut off some fat“ wie es der amerikanische CEO formuliert.


Philippe weiß, dass die Vorgabe keinen Sinn macht, dass Produktion und Arbeitssicherheit darunter leiden werden. Er kämpft dagegen an und präsentiert einen alternativen Plan. Vergeblich. Die Dialoge auf der Direktionsebene mit seinen Kollegen und der französischen Zentrale in Paris sind von bestechender Präzision, beinahe dokumentarisch gefilmt. Einmal mehr spielt Vincent Lindon mit großer physischer Präsenz einen Mann, der unter enormem Druck steht und dabei ist, alles zu verlieren. Seine Frau will sich von ihm trennen, sein Sohn hat psychische Probleme, seine Familie löst sich auf. „Un autre monde“ ist das Psychogramm eines Mannes, der erfolgreich gearbeitet und alles richtig gemacht hat, bis er das Opfer der Logik des globalisierten Marktes wird.  „Es geht mir nicht um Klassenkampf im herkömmlichen Sinn“, sagte Stéphane Brizé in der Pressekonferenz, „sondern um die Logik eines ökonomischen Systems, dem nicht nur die schlecht bezahlten, sondern auch die Menschen in Führungspositionen zum Opfer fallen.“ Oder, wie es der amerikanische CEO in einer Videoschalte mit seinem französischen Mangement auf den Punkt bringt: "I also have a boss to whom I am responsable. And this is Wall Street".

Komödien auf dem Lido

Normalerweise haben es Komödien schwer auf Festivals. Sie gelten als leichte Kost, man glaubt, dass sie keine existenziellen Fragen behandeln und den nötigen Ernst vermissen lassen. Doch in diesem Jahr gab es in Venedig einiges zu lachen. Das lag vor allem an dem spanischen Beitrag „Competencia official"(Offizieller Wettbewerb), inszeniert von dem argentinischen Regie-Duo Gastón Duprat und Mariano Cohn, die vor 5 Jahren mit „El ciudadano ilustre" (Der Nobelpreisträger) in Venedig Furore machten. Oscar Martínez, der damals die Coppa Volpi als bester Darsteller gewann, ist auch im neuen Film dabei. Neben ihm Penelope Cruz als exzentrische Avantgarde Regisseurin Lola, die den Auftrag bekommt, einen Bestseller zu verfilmen. Als Produzent fungiert ein reicher Pharmaunternehmen, der sich filmisch verewigen möchte.


Lola heuert die beiden populärsten Filmstars an, die noch nie zusammengearbeitet haben. Antonio Banderas spielt eine Karikatur seiner selbst, einen eitlen Macho, der jeden kommerziellen Quatsch macht und in Hollywood als "Latino vom Dienst" unterwegs ist, wo er schon paar Golden Globes gewonnen hat. Daneben Oscar Martinez als seriöser, intellektuell ambitionierter Theaterschauspieler. Penelope Cruz, kaum wiederzuerkennen mit wilder roter Mähne, zwingt ihre beiden Protagonisten zu einer Reihe von absurden Proben, bei denen sie einen gewissen inszenatorischen Sadismus an den Tag legt. Je entnervter die beiden reagieren, desto amüsanter wird die Szenerie für die Zuschauer. Der Goldene Löwe für die beste Komödie, den es leider nicht gibt, hätte an „Competencia Official“ gehen müssen.

Bei dem italienischen Beitrag „Qui rido io" (The King of Laughter) ist die Komik schon im Titel angelegt. Der neapoletanische Regisseur Mario Martone, der schon mit zahlreichen seiner Filme in Venedig vertreten war, widmet sich der Biographie des Schauspielers und Theater-Impressarios Eduardo Scapetta. Toni Servillo spielt den Komiker, der das populäre Theater der Jahrhundertwende dominierte. Seinen Erfolg verdankte er Stücken in neapoletanischem Dialekt, die er als Autor und Darsteller auf die Bühne brachte.


Zum Konflikt kommt es, als er ein Historiendrama des italienischen Nationaldichters Gabriele d’Annunzio parodiert und dieser ihn wegen Plagiats verklagt. Nach einem langen Prozess kann sich die neapoletanische Komik gegen den antiken Schwulst durchsetzen. Aber Scarpetta war nicht nur auf dem Theater, sondern auch im Privatleben umtriebig, neben seiner offiziellen hatte er eine inoffizielle Familie, deren drei Kindern er nie anerkannte und von denen er als „Onkel“ tituliert wurde. Eines dieser außerehelichen Kinder, Eduardo di Filippo, wurde als Schauspieler und Autor zu einer Theaterlegende in Italien. Kein Wunder, dass die italienischen Kritiker begeistert waren und den Film zu ihrem Favoriten kürten.

Auch in Paolo Sorrentinos „È stata la mano di Dio" (Die Hand Gottes) spielt Toni Servillo den Filmvater. ‚Die Hand Gottes‘ bezieht sich natürlich auf das berühmte Zitat von Diego Maradona bei der WM 1986 nach seinem Tor gegen England. Schauplatz ist wieder Neapel, diesmal in den 80er Jahren. Es geht das Gerücht, dass Maradona von Barcelona nach Neapel wechseln möchte. Die Stadt befindet sich in einer Art hysterischem Ausnahmezustand. In einer Mischung aus Autobiographie und Fiktion erzählt Paolo Sorrentino, wie er als Jugendlicher nach dem Tod seiner Eltern beschließt, Regisseur zu werden. Das ist in der ersten Hälfte demonstrativ lustig und wird tragisch, als die unbeschwerte Jugend jäh endet.


Für Paolo Sorrentino ist es sein bislang persönlichster Film. „Einfach ausgedrückt ist dies ein Film über Sensibilität. Und über allem, so nah und doch so fern, schwebt Maradona, dieses gespenstische Idol, 1,50 m, das das Leben aller in Neapel zu nähren schien, zumindest meines.“ Auch hier wird ausgiebig neapoletanisch gesprochenen, gibt es familiäre Verwicklungen und außereheliche Beziehungen. Man amüsiert sich über Toni Servillos verzweifelte Bemühungen, die eifersüchtige Raserei seiner Ehefrau zu besänftigen. „È stata la mano di Dio“ beeindruckt durch seine tragische Intensität, leidet aber unter dem Zerfall in zwei ungleiche Hälften.

Der Film war ein weiterer Favorit der italienischen Kritiker und gewann etwas überraschend den Großen Preis der Jury. Filippo Scotti, der das Alter Ego des Regisseurs, den jugendlichen Fabietto spielt, wurde mit dem Marcello-Mastroianni Preis als bester Nachwuchsdarsteller ausgezeichnet.

Preisverleihung und Resumé

Venedig 2021 war in gewisser Weise ein Festival im Ausnahmezustand. Man achtete streng auf die Einhaltung der Corona-Regeln, unter Hunderten von Getesteten fanden sich nur zwei positive Fälle. Dass gegenüber dem Vorjahr 60 % mehr Zuschauer kamen, war eigentlich eine gute Nachricht, die aber zu chaotischen Zuständen führte. Wegen der Abstandsregeln war nur die Hälfte der Sitze freigeben, und ein undurchschaubares Online-Buchungssystem trug dazu bei, auch Gutwilligen den letzten Nerv zu rauben. Die Stimmung war zeitweise so schlecht, dass Alberto Barbera, der künstlerische Leiter der Mostra, sich öffentlich entschuldigen musste und für das kommende Jahr Besserung versprach.


 

Dass der Goldene Löwe wie erwähnt an den französischen Beitrag „L’Événement“ von Audrey Diwan gehen würde, damit hatte kaum jemand gerechnet. Die große Favoritin war Jane Campion, die mit „The Power of the Dog“ den Silbernen Löwen für die beste Regie gewann. Ihre Verfilmung des gleichnamigen Romans von Thomas Savage ist angesiedelt im amerikanischen Westen der 1920er Jahre. Benedict Cumberbatch spielt den Cowboy Phil, einen harten Hund, der den ganzen Tag im Sattel sitzt und kein Problem damit hat, junge Bullen auch ohne Handschuhe zu kastrieren. Ganz gegen die Tendenz intellektueller Figuren, die er sonst verkörpert. Als ehrliche ‚Ranch Hand’ läuft er gerne dreckig und speckig herum. Selbst zum Dinner mit dem Governor zieht er sich nicht um, was dieser anerkennend als „honest dirt“ kommentiert. Anders als sein konventioneller Bruder George (Jesse Plemons), der sich in Anzug und Krawatte um die Geschäfte der Familienranch kümmert. Der spießige Bruder heiratet die Witwe Rose (Kirsten Dunst), die zur Alkoholikern wird oder es vorher schon war. So genau weiß man es nicht. Über ihren feminin wirkenden Sohn Peter (Kodi Smit-McPhee), macht sich der Macho Phil bei jeder Gelegenheit lustig. Bis sich die beiden eines Tages näher kommen.

„The Power of the Dog“ wurde in Venedig von der Kritik als neuer „Brokeback Mountain“ gefeiert. Spätestens als Benedict Cumberbatch nackt im Fluss badet, wird klar, dass sich hinter der Fassade harter Männlichkeit eine andere, vielleicht schwule Seite verbirgt. Während sich die Mehrheit der Kritiker für das Sujet der schwulen Cowboys und die subtile Inszenierung begeisterten, empfanden andere, zu denen der Autor dieser Zeilen gehört, die Entwicklung der Geschichte eher als plakativ und vorhersehbar. Die fünf Kapitel, in die sich der Film in römischen Zahlen (!) gliedert, und die Dauer von zwei Stunden fühlten sich an, als seien sie doppelt so lang. Da es sich um eine Netflix-Produktion handelt, wäre es nicht verwunderlich, wenn daraus noch eine Mini-Serie würde.


Maggie Gyllenhall bekam für Ihr Regiedebüt „The Lost Daughter“, die Verfilmung des Romans „Frau im Dunkeln“ von Elena Ferrante, den Preis für das beste Drehbuch. Während eines Urlaubs am Meer wird Leda (Olivia Colman) von Erinnerungen an ihre beiden Töchter eingeholt, die sie für ihren Liebhaber und ihre Karriere vor Jahren verlassen hatte. Das ist bemüht elegisch, doch weder Regie noch Drehbuch hinterließen einen tieferen Eindruck. Allenfalls hätte man sich einen Preis für Olivia Colman als beste Darstellerin vorstellen können, deren Präsenz den Film auch nicht retten kann. Doch die Copa Volpi ging an Penelope Cruz für ihre Rolle als späte Mutter in Pedro Almodóvars „Madres paralelas“. Eine nachvollziehbare, celebrity-freundliche Entscheidung, die nicht nur die spanische Presse in Verzückung versetzte.

Außerdem vergab die Jury einen Spezialpreis an das meditative Höhlendrama „Il buco“, eine deutsche Koproduktion mit ZDF/Arte.

Es erstaunt, dass „The Card Counter“ bei der Preisverleihung leer ausging. Regie oder Drehbuch für Paul Schrader bzw. die Copa Volpi für Oscar Isaac als kriegstraumatisierten Pokerspieler wären durchaus angemessen gewesen.

 

Information

Festivals

Die INTERFILM-Jury hat den 10. INTERFILM-Preis zur Förderung des Interreligiösen Dialogs an "Amira" von Mohamed Diab verliehen. Der Goldene Löwe ging an "L'Événement" von Audrey Diwan.