Auf den Bühnen - und dahinter

Festival-Bericht aus Cannes 2022 (6)
Tori et Lokita (Jean-Pierre et Luc Dardenne)

Tori et Lokita (Jean-Pierre et Luc Dardenne)

Französische Filme

Französische Filme haben in Cannes eine Art Heimspiel, aber das muss nicht immer von Vorteil sein. Im Wettbewerb konnten die französischen Beiträge bislang nicht überzeugen.

In „Frère et Sœur“ (Bruder und Schwester) erzählt Arnaud Desplechin eine komplizierte, etwas verworrene Familiengeschichte. Die Geschwister Alice (Marion Cotillard) und Louis (Melvil Poupaud) haben sich seit 20 Jahren nicht mehr gesehen und sind gegenseitig in tiefer Abneigung verbunden. Als die Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommen, begegnen die beiden sich zum ersten Mal wieder.


Alice ist Schauspielerin, Louis schreibt Bücher, mit Vorliebe über die eigene Familie, in denen seine Schwester nicht gut wegkommt. Der Film leidet darunter, dass wir nie erfahren, wie und warum es zu diesem Zerwürfnis gekommen ist. Dunkle Geheimnisse der Vergangenheit? Womöglich ein Fall von Missbrauch? Man weiß es nicht. Die fehlende Motivation wird durch eine Tendenz zum Overacting kompensiert, es wird viel geredet und geschrien, manchmal auch in Ohnmacht gefallen. Wenig wird klar, vieles bleibt im Ungewissen. Das ist trotz der Starbesetzung zu wenig, um zu überzeugen.


Auch in „Les Amandiers“ (Forever Young – so der internationale Titel) geht es um große Gefühle. Valeria Bruni-Tedeschi geht in ihrer fünften Regiearbeit zurück zu ihren Anfängen als Schauspielschülerin am Theater ‚Les Amandiers‘ in Nanterre bei Paris. Louis Garrel spielt den Intendanten Patrice Chéreau, der mit den jungen Schauspielern „Platonow“ von Anton Tschechow inszeniert. Chéreau ist hier ein autoritäres Genie, ein Theater-Guru, der ungeniert seine schwulen Leidenschaften auslebt. Die Protagonistin Stella (Nadia Tereszkiewicz), ein Mädchen aus reicher Familie, verliebt sich in Étienne (Sofiane Bennacer), einen Mitstudenten mit Drogenproblemen. Man liebt sich und streitet sich, man schläft miteinander und hat Angst vor AIDS. Alle Gefühle sind überlebensgroß und werden privat wie auf der Bühne bis an die Grenze der Hysterie ausgespielt. Für Valeria Bruni-Tedeschi mag ihre Zeit am Théâtre des Amandiers dramatisch und spannend gewesen sein, als Zuschauer gehen einem die Schauspielschüler am Rande des Nervenzusammenbruchs auf die Dauer auf die Nerven.

Vintage Cronenberg – “Crimes of the Future” von David Cronenberg

Der inzwischen 79jährige Kanadier David Cronenberg knüpft mit seinem neuen Film „Crimes of the Future“ (Verbrechen der Zukunft) an alte Zeiten des Body-Horror an. Man fühlt sich erinnert an seine Klassiker wie “Crash“, „Naked Lunch“ oder „eXistenZ“. Die Zukunft, die der Titel suggeriert, sieht eher nach Vintage aus. Wie auch die abgenutzten Interieurs und die Graffiti-beschmierten Seitenstraßen von Athen, wo der Film gedreht wurde.


Viggo Mortensen ist ein weltberühmter Performance Künstler, eine Art Marina Abramovic in extremis, der seinen Körper als radikales Kunstwerk einsetzt. Nachts wachsen ihm neue Organe, die beim Auftritt von seiner Assistentin Léa Seydoux mit Hilfe von Laser-Tentakeln wieder entfernt werden. Vorher wird seine Bauchdecke kunstvoll aufgeschnitten, was ihm und seiner Assistentin einen sexuellen Kick bringt. Aber ganz gesund scheinen diese Körperveränderungen nicht zu sein, denn Mortensen schläft schlecht und hustet ständig.

„Crimes of the Future“ ist kein Film für zarte Gemüter, wenn z.B. nach wenigen Minuten ein 12jähriger Junge von seiner Mutter erstickt wird. Dass er zu einer genetisch veränderten Spezies gehörte, die Plastik essen und verdauen kann, war ihr offensichtlich nicht geheuer. Ein interessanter Fall für eine Autopsie.

Der Film präsentiert viele lose Fäden, ohne sie  dramaturgisch zu verknüpfen. Es ist müßig, nach einer erzählerischen Logik zu suchen. Der Film hat die assoziative Struktur eines mittelmäßigen Albtraums. Cronenbergs Body-Horror verbindet auf beliebige, etwas altmodische Weise Biotechnologie und operative Eingriffe in den Organismus mit wabernder Kritik am Optimierungswahn rund um den menschlichen Körper.

ELVIS von Baz Luhrmann

Der Australier Baz Luhrmann ist kein Unbekannter in Cannes, schon zweimal war er zur Eröffnung eingeladen, 2001 mit „Moulin Rouge“ und 2013 mit „The Great Gatsby“. Seine glamouröse „Elvis“-Biographie markiert einen spektakulären Höhepunkt gegen Ende des Festivals.

Der Film beginnt mit einem Feuerwerk an optischen Effekten, die wie eine Opernouvertüre Szenen und Themen in kompakter Form vorwegnehmen. Erzählt wird die bekannte Geschichte von Elvis Presley, der aus einfachen Verhältnissen in Memphis zum weltbekannten King des Rock ’n’ Roll aufsteigt, aus der Perspektive seines Managers, Colonel Tom Parker. Mit Hilfe von aufwendigem Make-Up, mit Doppelkinn, Bauch und Altersflecken, verwandelt sich Tom Hanks in diese zwielichtige Figur. Der Mann, der weder ein Colonel war noch Parker hieß, hat wenig Sinn für Musik, aber erkennt sofort das Potential des Lastwagenfahrers mit der ungewöhnlichen Stimme. Er nimmt Elvis unter Vertrag, spannt dessen Familie mit ein und sichert sich 50% der Einnahmen.


Der Film macht deutlich, wie stark Elvis’ persönlicher Stil von der schwarzen Musik inspiriert ist, mit der er aufwuchs, von Gospel, Rhythm and Blues und allem, was er in Memphis gehört hat. Die Art und Weise, wie Elvis sich auf der Bühne bewegte, galt als skandalös, sein aufreizender Hüftschwung versetzte das weibliche Publikum in Ekstase. Presse und Politiker in den konservativen Südstaaten starteten eine moralische Hetzkampagne, man wollte ihn ins Gefängnis bringen. Um die Wogen zu glätten und Elvis als sauberen „All American Boy“ zu präsentieren, schickte ihn Parker zur Armee. Wie man weiß, war er in Deutschland stationiert. 10 Jahre später kommt es zu einem Zerwürfnis zwischen Elvis und seinem Manager, als Martin Luther King in Memphis erschossen wird. Elvis möchte sich dazu äußern, aber Parker hindert ihn daran, um Imageschaden zu vermeiden.

Tom Parker ist einerseits eine Vaterfigur für Elvis, andererseits ein mephistophelischer Verführer, der ihm Reichtum und Ruhm verspricht und ihn dafür in einen goldenen Käfig sperrt. Seine Versuche, sich daraus zu befreien, scheitern. Was bleibt, ist ein Gefühl der Einsamkeit. Elvis nimmt Zuflucht zu Tabletten, hat Affären mit Groupies. Wir erleben, wie er sich immer mehr von seiner Frau und Tochter entfremdet und gesundheitlich zusammenbricht. Zum Ausklang rekapitulieren dokumentarische Bilder Elvis’ Aufstieg und seinen frühen Tod mit 42 Jahren.

Split Screen und rasante Schnitte geben dem Film ein hohes Tempo, das Elvis zu einer überlebensgroßen Figur werden lässt. Baz Luhrmann will den Mythos „Elvis“ nicht in Frage stellen, sondern zeigt ihn als tragischen Helden, dem die Erfüllung des American Dream, das viele Geld und der riesige Erfolg, zum Verhängnis wird.

„Tori et Lokita“ von Jean-Pierre und Luc Dardenne

Die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne haben in Cannes alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt, zweimal allein die Goldene Palme, 1999 für „Rosetta“ und 2005 für „L’enfant“. Man kennt die Einzigartigkeit und den Minimalismus ihrer Filme und doch ist man jedes Mal wieder überrascht.

So auch bei ihrem neuen Film „Tori et Lokita“ (Tori und Lokita), einem emotionalen Höhepunkt des Wettbewerbs. Er erzählt von der Freundschaft zwischen der Jugendlichen Lokita und dem Jungen Tori, die sich auf der Flucht aus Afrika begegnet sind. Die beiden sind so eng miteinander verbunden, dass sie sich wie Bruder und Schwester fühlen. Sie helfen und beruhigen sich gegenseitig, wenn Tori Angst hat, bittet er Lokita, ihn in den Schlaf zu singen. In einem Lokal treten sie gemeinsam auf und singen ein italienisches Lied, dass sie in Sizilien, ihrer ersten Station in Europa, gelernt haben.


In der Sprache der Ausländerbehörde sind die beiden sogenannte ‚unbegleitete Minderjährige‘, deren Aufenthaltsberechtigung mit detaillierten Fragen überprüft wird. Ohne Papiere und gesicherten Status sind Tori und Lokita erpressbar und allen möglichen Demütigungen ausgesetzt. Ein Pizzabäcker benutzt die beiden als Drogenkuriere, aber das ist noch nicht alles. Der Film hat die Spannung eines Thrillers, wir leiden mit den Protagonisten, die ausgebeutet und unter Druck gesetzt werden.

„Es ist unser größter Wunsch,“ schreiben die Brüder Dardenne, „dass am Ende des Films die Zuschauer, die eine tiefe Empathie für die beiden jungen Protagonisten im Exil und ihre unerschütterliche Freundschaft empfinden, sich zugleich empören über die Ungerechtigkeit, die in unserer Gesellschaft herrscht“.

Die nüchterne, nie sentimentale Inszenierung sorgt dafür, dass wir eine Realität von Flüchtlingen kennenlernen, die uns umgibt, ohne dass wir davon Notiz nehmen. „Tori und Lokita“ besticht durch seine emotionale Intensität und die beiden grandiosen Laiendarsteller, Pablo Schils als Tori sowie Joely Mbundu als Lokita. Bei der Preisverleihung dürfte der Film kaum leer ausgehen.