Ehrung für scheidenden Festivaldirektor Michael Kötz
In dem wunderbaren norwegisch-kanadischen Zeichentrickfilm „The Danish Poet“, also „Der dänische Dichter“, 2007 mit einem Oscar ausgezeichnet, versucht uns die Stimme der Erzählerin – es ist die Stimme von Liv Ullmann – davon zu überzeugen, dass die ganze Geschichte, die wir hören und vor uns ablaufen sehen, nur eine Verkettung von unwahrscheinlichen Zufällen sei. So sehen wir zum Beispiel, wie eine Kuh immer wieder eine schräg nach oben führende Rampe zu erklimmen versucht, immer wieder abrutscht, irgendwann den Halt verliert, fällt – und dabei den Bauern, ihren Besitzer, erschlägt. Es ist ein Triumph zeichnerischen Slapsticks, vor allem, weil der Unfall ganz und gar beiläufig passiert. Und es ist, für die zutiefst unglücklich verheiratete Ehefrau des Bauern, ein ganz und gar unverhoffter Glücksfall. Zufälle dieser und anderer Art führen dazu, dass am Ende des Films die Erzählerin geboren wird, die wir von allem Anfang an gehört haben. Das heißt: Alle Zufälle, die wir gesehen haben, waren notwendig, um sie, die Stimme, ins Leben zu rufen. Torill Kove heißt übrigens die Autorin, Regisseurin und Zeichnerin dieses Films.
War also alles wirklich nur Zufall? Oder steckte in jedem Zufall eine verborgene Notwendigkeit? Es ist immer beides, sagt der Film, ein logisches Paradoxon, das er elegant, wie mit einem Zaubertrick, auflöst. Es ist der Zaubertrick des Erzählens, dessen wir nicht müde werden, und damit auch einer des Kinos, solange es beim Erzählen bleibt.
Offenbar müssen wir uns immer wieder vergewissern, dass es nicht ganz und gar beliebig ist, dass wir hier sind.
Ein Germanist hat vor Jahrzehnten den Trick verraten. Er beruht, so hat er erklärt, auf der „Motivation von hinten“. Von hinten, vom Ende her, wird alles, was als Zufall erschien, plötzlich notwendig, sinnvoll, bedeutsam. Es führte alles genau auf dieses Ende hin. Deshalb kann man, hat Walter Benjamin einmal bemerkt, ein Leben nur erzählen, wenn es abgeschlossen ist.
So weit sind wir hier, zum Glück, alle noch nicht. Und ich werde mich auch hüten, mich weiter in Spekulationen über das Leben und das Erzählen zu vertiefen. Man hat den Germanisten und seine schnöde Erklärung, wie ich finde, auch ganz zu Recht vergessen, außerhalb der Germanistik jedenfalls. Die Erklärung ändert ja auch nichts an dem Wunsch, der immer wieder das Erzählen in Gang bringt.
Sie haben natürlich längt gemerkt, worauf ich hinauswill. In diesen Tagen geht etwas zu Ende, und wir haben Grund zurückzublicken. Etwas wird Geschichte und will erzählt werden. In diesem Jahr leitet Michael Kötz zum letzten Mal als Direktor das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg. 1992 hat er es von Fee Vaillant übernommen, steht also seit 27 Jahren an seiner Spitze. 27 Jahre von 67 Jahren Festivalgeschichte, das ist eine lange, höchst eindrucksvolle Zeit. Er hat sie, die Festivalgeschichte, selbst erzählt, in einem Band, der rechtzeitig zu dieser Festivalausgabe erschienen ist.
Ich werde mich hüten, lieber Michael, einem guten Erzähler Konkurrenz zu machen. Es fehlt dazu vieles, auch die Zeit. Ich beschränke mich deshalb, wenn Du erlaubst, auf ein paar Kommentare.
Begonnen hat Deine Beteiligung an dem Festival bereits ein Jahr vor der Übernahme der Festivalleitung, 1991. Man könnte sagen, Du hast Deine Visitenkarte abgegeben. Das wäre freilich ein völlig unzulängliches Bild. Du hast vielmehr mit einem Paukenschlag auf Dich aufmerksam gemacht, mit dem „SchauPlatz: Hunger nach Sinn“ und mit Gästen wie Peter Sloterdijk, Krzysztof Kieslowski, Karsten Witte, Daniel Cohn-Bendit. Ich gehöre zu denen, die von diesem Coup begeistert waren, weil er Film und Kino in die intellektuellen und politischen Debatten der Zeit stellte. Wo sie früher, damals und heute auch hingehören. Ich stand, als ich Peter Sloterdijk zum Thema „Kino und Atem“ zuhörte, in einer eindrucksvoll großen Menge, ein deutliches Zeichen für ein breites Interesse. Leider, sage ich, gab es diesen SchauPlatz nur zwei weitere Male.
Man kann in der Festivalchronik das Jahr 1993 nicht ohne Bemerkung übergehen. Aus heiterem Himmel wollte die Stadt ihr Festival abschaffen. In Deiner Festivalgeschichte kann man die Einzelheiten des Dramas nachlesen. Es war zuletzt ein Kampf mit glücklichem Ausgang, gewonnen durch einen strategischen Einfall: die Nachbarstadt Heidelberg einzubeziehen und das Festival zum Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg zu machen. Das gibt es jetzt seit 25 Jahren. Auch und vor allem, weil Du nicht aufgegeben hast.
Ich will noch ein letztes Detail erwähnen, ein kurzes Kapitel der Festivalgeschichte: den Filmkulturpreis Mannheim-Heidelberg, den es von 2008 bis 2011 gab. 2009 wurde er dem Kritiker Wolfram Schütte verliehen, Redakteur der Frankfurter Rundschau, verantwortlich für Film und Literatur. Ein großer Autor, dem wir beide unsere beruflichen Anfänge verdanken, als freie Mitarbeiter und Filmkritiker in einem damals, in den achtziger Jahren, in der ganzen Republik beachteten Feuilleton. Film ist nicht nur Film: dieses gemeinsame Credo stammt aus dieser Zeit.
Das Profil des Festivals, konsequent durchgehalten, ist durch den Slogan beschrieben: Das Festival der Newcomer. Ich würde gerne hinzufügen: Es ist ein Festival des Weltkinos. Es hat uns durch die Filme junger Regisseure in Berührung gebracht mit der Vielgestaltigkeit der menschlichen Kultur, die es nur im Plural, in der Differenz gibt, für die das Festival einen gemeinsamen Kommunikationsraum geschaffen hat. Das ist eine Leistung, die gar nicht genug gewürdigt und bewundert werden kann.
Wir, die kirchlichen Filmorganisationen, SIGNIS und INTERFILM, haben sie immer geschätzt, und wir danken Dir und dem Festival für die großherzige Gastfreundschaft, die uns ermöglicht hat, immer wieder an dieser Erfahrung teilzunehmen. Wir haben Dir dafür vor einigen Jahren einen ökumenischen Sonderpreis verliehen. Das lässt sich leider nicht wiederholen, und wir müssen deshalb heute getrennte Wege gehen. Unseren Dank, so ist es mit SIGNIS verabredet, spreche ich Dir im Namen beider Organisationen aus. INTERFILM selbst möchte Dir eine Ehrung erweisen, die eine lange Verbundenheit zum Ausdruck bringt. Ich weiß nicht, ob Du Dich noch erinnerst, aber Du warst einmal Mitglied einer INTERFILM-Jury – auf der Berlinale 1986. Das soll kein unwahrscheinlicher Zufall bleiben. Im Namen des INTERFILM-Präsidiums darf ich Dir heute die Ehrenmitgliedschaft verleihen, in Dank und Anerkennung.