Berlinale 2023: Notizen, Kommentare und Beobachtungen (2)

Von Waltraud Verlaguet

Panorama

 

Das Lehrerzimmer

Regie: Ilker Çatak

Deutschland 2023

Panorama: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202314782.html


Eine idealistische junge Lehrerin, die es gut machen will, ist in einer Spirale gefangen, aus der es bald keinen Ausweg mehr gibt. Und je mehr sie Gutes tun will, desto tiefer verstrickt sie sich.

Der Film hinterfragt kritisch unsere aktuelle Debattenkultur. Sollen wir alles besprechen? Können wir alles besprechen? Mit allen ? Ist es möglich, seinen Idealismus in einem komplexen System aufrechtzuerhalten, in dem verschiedene Interessen aufeinanderprallen?

Zwischen Schülern, Kollegen, Verwaltung, Eltern von Schülern – wenn alle vehement ihren Senf dazugeben, ist es dann noch möglich, die Wahrheit zu finden und Gerechtigkeit zu verteidigen? Das interaktive „System“ dieser verschiedenen Gruppen verhält sich wie ein Spinnennetz, das eine einmal gefangene Beute erst wieder loslässt, wenn sie verdaut ist. Und das Opfer ist letztlich immer der Jugendliche.

Ein sehr starker psychologischer Film, der unsere Erziehungspraxis umfassend hinterfragt.

 

Ghaath (Ambush)

Regie: Chhatrapal Ninawe

Indien 2023

Panorama: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202310296.html


Das Hin und Her zwischen den verschiedenen Protagonisten und zwischen den unterschiedlichen Perspektiven ist nicht immer leicht nachzuvollziehen. Die Situation ist verzweifelt und wir sehen keine Chance, aus ihr herauszufinden. Mit wenigen Mitteln im allgegenwärtigen Wald gefilmt, ist der dennoch ein wichtiges Zeugnis für das Verständnis unserer heutigen Welt.

 

Hello Dankness

Regie: Soda Jerk

Australien 2022

Panorama: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202304676.html


Brillant und auf formaler Ebene wirklich innovativ, wird der Film aus einer Vielzahl von Filmausschnitten aller Art, Werbespots, Blues, Gore, Zeichentrickfilme, TV-Shows usw. aufgebaut, neu zusammengesetzt, zerlegt, verknüpft, verdreht... Das Ergebnis ist eine völlig durchgeknallte bissige Satire der Trump-Jahre, "the old orange man", ein Genuss!

Der Abspann gibt alle Quellen geordnet nach Jahren der Präsidentschaft, großartig!

 

Forum/Forum Expanded

 

AI: African Intelligence

Regie: Manthia Diawara

Portugal, Senegal, Belgien 2022

Forum Expanded: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202314587.html


Durch das Wortspiel zwischen AI=Artificial Intelligence und AI=African Intelligence versucht der Regisseur, Parallelen zwischen künstlicher Intelligenz und Besessenheitskulten in Afrika herzustellen. Der Prozess ist interessant und als Dokumentarfilm über diese Riten willkommen, aber die Schlussfolgerungen, die er daraus zieht, sind es weniger.

In Bezug auf die Riten von Ndeup wollen mehrere Berichte über spektakuläre Heilungen die Realität der Geister bezeugen. Wie in unserer eigenen Geschichte haben Heilrituale den entscheidenden Vorteil, dass sie es uns ermöglichen, den Ursprung des Bösen außerhalb von uns selbst zu lokalisieren. Wenn der Kranke besessen ist, bedeutet das, dass nicht er selbst krank ist, sondern ein böser Geist ihm Schaden zufügt und dieser mit geeigneten Methoden vertrieben werden kann. Und der Patient ist nicht allein: die ganze Gemeinschaft versammelt sich um ihn, um diese Austreibung herbeizuführen. Insofern ist der Vergleich mit der Psychoanalyse, der an einer Stelle des Films auftaucht, eine totale Fehlinterpretation: Letztere verortet nämlich den Ursprung des Übels im Innersten des Patienten, und wenn diese Analyse schlecht geführt wird, fügt dies zu dem Leiden des Patienten noch Schuldgefühle hinzu, nämlich auch noch für sein Leid selbst verantwortlich zu sein. Aber auch wenn wir hier einen echten Vorteil von traditionalen Ritualen haben – sofern letztere nicht pervertiert sind – müssen wir daraus schließen, dass die Weltanschauung, die ihnen zugrunde liegt, der Realität entspricht? Sollten wir glauben, dass Gott das Meer salzig gemacht hat, um den schlechten Geruch der Geister zu übertönen?

Der Aufruf des Autors, die Traditionen zu respektieren, und seine Feststellung, dass ihr Verschwinden einer Verarmung der Menschheit entspräche, sind durchaus zu hören. Aber daraus zu schließen, dass es parallele Wahrheiten gibt, die nebeneinander bestehen (eine Schlussfolgerung, die seit Trump sehr modisch geworden ist), bedeutet eine großen Sprung. Sollten damals die Hexenprozesse unter dem Vorwand aufrechterhalten werden, die Tradition müsse neben den Ideen der Aufklärung respektiert werden?

Darüber hinaus plädiert er gegen die Einführung „westlicher“ Ideen in Afrika, hat aber nicht die gleichen Vorurteile gegenüber dem Synkretismus mit dem Islam, der im Film deutlich dokumentiert ist; und die meisten der anwesenden Jugendlichen tragen Jeans und T-Shirts und filmen die Szene mit ihren Handys…

 

Notre corps

Regie: Claire Simon

Frankreich 2023

Forum: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202303666.html


Es ist ein gewagtes Unternehmen, den weiblichen Körper aus jedem Blickwinkel, buchstäblich und im übertragenen Sinne zu zeigen. Die verschiedenen Tätigkeiten einer gynäkologischen Klinik werden ausführlich dokumentiert. Das heikle Gespräch zwischen einem Gynäkologen und einer schwangeren Teenagerin nach einem allerersten Sexualverkehr, die Überwachung einer Schwangerschaft, die Durchführung einer In-vitro-fertilisation (spannend!), eine Geschlechtsumwandlung, die Behandlung von Endometriose oder Krebs, alles wird von der Kamera erforscht. Der Beginn des Lebens und das nahe Ende. Gegen Ende wird der Film sehr persönlich und zeichnet Beratungsgespräche mit der an Brustkrebs erkrankten Regisseurin selbst auf, was sehr mutig und gewagt ist, aber total mit ihrem Projekt übereinstimmt, Zeugnis abzulegen.

Eines zeigt der Film nicht: Ärzte oder ganz allgemein Pflegekräfte, die sich Patientinnen gegenüber unangebracht verhalten. Wahrscheinlich benimmt sich niemand schlecht, wenn er weiß, dass er gefilmt wird – aber das Thema ist dennoch durch eine Demonstration vor dem Krankenhaus präsent, bei der Opfer Missbrauch anprangern und die Einrichtung von Therapiegruppen fordern.

Ein sehr starker und sehr nützlicher Film. Das Publikum gewährte der Regisseurin bei der Première zu Recht eine Standing Ovation.

 

Jaii keh khoda nist (Where God Is Not)

Mehran Tamadon

Frankreich, Schweiz 2023

Forum: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202306894.html


Mehran Tamadon will verstehen, wie man dazu kommt, andere Menschen zu quälen. Er fragt sich, ob es möglich wäre, während eines Verhörs eine Beziehung zum „Vernehmer“ aufzubauen, um ihn in seiner Rolle zu destabilisieren. Der in Paris im Exil lebende iranische Regisseur kann diese Frage in seinem Land nicht stellen, also nahm er sich vor, andere Exilanten zu bitten, die Rolle des Gefängniswärters mit ihm in der Rolle des Angeklagten zu spielen. Zar Amir Ebrahimi nimmt die Herausforderung an (2022 spielte sie die Journalistin, die einen Serienmörder in Les Nuits de Mashhad/Holy Spider entlarvt, eine Rolle, für die sie den Preis als Beste Schauspielerin in Cannes erhielt). Sie ist selbst durch iranische Gefängnisse gegangen und die Rolle, die sie hier spielt, ist von ihrer eigenen Erfahrung getragen - und sie erweist sich als knallhart. Die Schlussfolgerung ist, dass fast jeder dazu gebracht werden kann, unter bestimmten Umständen die Rolle des Folterers zu spielen, und dass es für das Opfer absolut keinen Ausweg gibt. Sich etwas anderes vorzustellen, ist pure Naivität.

 

Berlinale Special/Berlinale Special Gala

 

Der vermessene Mensch

Regie: Lars Kraume

Deutschland 2022

Berlinale Special: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202305256.html


Was für ein Film! Lars Kraume hat ein besonderes Gespür dafür, entscheidende Momente der deutschen Geschichte anhand einzigartiger Schicksale nachzuzeichnen. Nach Der Staat gegen Fritz Bauer und Das schweigende Klassenzimmer, die sich mit dem Deutschland der 1950er Jahre beschäftigten, im Westen des Landes der eine, im Osten der andere, behandelt er hier das Massaker an den Hereros in Namibia zu Beginn des 20. Jahrhunderts, begangen von deutschen Kolonisatoren und lange und zu Unrecht vergessen. Die Geschichte ist ergreifend, die Bilder grandios in all ihrer Tragik. Wo beginnt Eigenverantwortung? Verändert sich der „nette“ Ethnologe um 180 Grad, wenn er vor dem Unerträglichen davonläuft? Geschieht es nicht schon viel früher, wenn er trotz ihrer Tränen den Schädel einer jungen Herero vermisst?

In der Diskussion nach der Weltpremiere erzählte die Hauptdarstellerin, dass ihre Ur-Ur-Ur-Großmutter Überlebende des im Film zu sehenden KZs war, zusammen mit anderen Details. Der Regisseur versicherte, dass außer der fiktiven Figur des Ethnologen alle Details des Films in den Archiven des Landes bezeugt sind.

Schon der Titel drückt die ganze Zweideutigkeit des damaligen ethnologischen Unternehmens aus, das dem Nationalsozialismus den Weg bereitete: Das deutsche Wort „vermessen“ bedeutet zugleich „messen“ – und die Ethnologen suchten die Überlegenheit der „weißen Rasse“ durch Vermessen der Schädel nachzuweisen – und „stolz“.

Während der Diskussion wurde festgestellt, dass sich noch alle diese Schädel in den verschiedenen Museen Deutschlands befinden. Sie müssen unbedingt zurückgegeben werden.

 

L’ultima notte di amore

Regie: Andrea di Stefano

Italien 2022

Berlinale Special Gala: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202314306.html


Ein integrer Polizist kann beruflich nicht aufsteigen, so scheint das erste Fazit dieses gelungenen Thrillers zu sein. Wenn Amore am Vorabend seines Ruhestands einen Posten als Sicherheitsagent annimmt, um seine Rente aufzubessern, geschieht dies gegen die Zusicherung, dass es nichts Illegales geben wird, keine Drogen, keine Waffen ... Das geht natürlich schief. Natürlich, aber zu unserem größten Vergnügen schafft er es, durchzukommen. Ehrlichkeit und Intelligenz müssen sich also nicht zwangsläufig ausschließen, das ist die zweite Schlussfolgerung.

 

She Came to Me

Regie: Rebecca Miller

USA 2023

Berlinale Special Gala (Eröffnungsfilm): https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202313812.html


Eine schöne Romanze mit farbenfrohen Charakteren, von denen jeder in gewisser Weise die Karikatur eines Archetyps ist. Zwei Romanzen eigentlich, jede so unwahrscheinlich wie die andere. Die eine zwischen Erwachsenen: eine liebeskranke Schlepperkapitänin und ein Opernkomponist, der Inspiration braucht – und der zufällig ein Zwerg ist –; die andere zwischen zwei jungen Menschen, beide die Frucht der Liebe von Heranwachsenden, die von den Ehemännern ihrer jeweiligen Mütter adoptiert wurden. Die Mutter des Mädchens, eine polnische Einwanderin, musste ihr Studium unterbrechen und als Putzfrau arbeiten – bei der Mutter des Jungen; letztere, eine sehr elegante Psychiaterin, ist die Frau des Komponisten.

Die Ästhetik begleitet die Charaktere. Die Psychiaterin ist schwarz-weiß inszeniert à la Coco Chanel, elegant und sehr, sehr „sauber“, sie liebt es zu putzen und möchte ihre Patienten von innen reinigen. Als ihr Mann seinen „Fehltritt“ mit der Kapitänin begeht – alles in Unordnung und bunt gemischt – fühlt sie sich zu einem religiösen Leben berufen, einer Art dritter Liebesgeschichte. Der einzige, der außerhalb des Happy Ends bleibt, ist der Adoptivvater des jungen Mädchens, ein Mann, „der sich allein gemacht hat“, wie ein guter Amerikaner, der historische Nachstellungen nachspielt, der aufrecht und diszipliniert sein will; als Gerichtsstenograf kennt er sich gut mit dem Gesetz aus und will den Liebhaber seiner Adoptivtochter unbedingt wegen Missbrauch Minderjähriger hinter Gitter sehen – doch er hat alle anderen gegen sich. Und da die Gesetze nicht in allen Staaten gleich sind und ein Kapitän auf einem Boot den Staat wechseln kann, ohne über die Straße gehen zu müssen...

Eine komplexe und humorvolle Geschichte. Der Komponist verwandelt die verschiedenen Handlungen in Opern, die für einige Momente für Lachen sorgen, aber der Film wird nie zur Farce.

Rebecca Miller sagte auf der Pressekonferenz über die Beziehung zwischen dem, was mit den Figuren passiert, und den Opern, die der Komponist schafft, dass in einem Film nie etwas völlig autobiografisch, aber auch niemals völlig frei von Einflüssen der eigenen Geschichte des Künstlers sei.

Ursprünglich hatte sie eine Kurzgeschichte geschrieben, die in Dublin spielt und in der ein Künstler, der Inspiration braucht, erlebt, wie sich sein Leben durch eine Begegnung verändert.

Komponist Bryce Dessner erklärt, dass er einen Großteil der Musik ungewöhnlicherweise vor dem Film geschaffen hat. Diese Musik dient gleichsam als roter Faden durch die Windungen der Geschichte.

Am Ende der Pressekonferenz unterstrich Rebecca Miller ihre Ergriffenheit angesichts der Tatsache, dass ihr Film bei der Eröffnung des Festivals gezeigt wurde, unmittelbar nach der Ansprache von Volodymyr Zelensky per Videokonferenz. Man wünschte, dass dieser Film, der den Sieg der Liebe über alles andere feiert, Gutes für die Zukunft seines gebeutelten Landes verheißen könnte!

 

Perspektive deutsches Kino

 

Jakob der Lügner

R: Frank Beyer

DDR 1974

Gast der Perspektive Deutsches Kino: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202314335.html


Was für ein Glück, dieses Restaurierungsprogramm für alte DEFA-Filme! Dieser stammt aus dem Jahr 1974 und ist der einzige Film aus der ehemaligen DDR, der auf der Berlinale gezeigt wurde, wo er den Goldenen Bären gewann und für den Oscar als bester ausländischer Film nominiert wurde. Nach dem gleichnamigen Roman von Jurek Becker, der mit Jakob Heym im Ghetto Lodz war, erzählt er die Geschichte des letzteren, der durch Zufall eine Durchsage im Radio der Polizeiwache hört (Radio ist im Ghetto verboten!), dass sich die Russen nähern. Unter dem Zeichen der Verschwiegenheit lässt er sich dazu bringen, einem Freund die gute Nachricht mitzuteilen, aber wir kennen das Geheimnis der Geheimnisse: sie verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Die Ghettobewohner glauben, dass Jakob ein Radio hat und drängen ihn nun jeden Tag, ihnen Neuigkeiten zu überbringen. Der arme Jakob gerät dann in ein schreckliches Dilemma: Die Wahrheit sagen oder weiter lügen? Er hat nämlich festgestellt hat, dass seine Nachrichten, auch wenn sie falsch sind, Hoffnung machen und dass die Selbstmordrate, die zuvor sehr hoch war, auf Null gesunken ist.

Ein wunderbar inszenierter und gespielter Film.

Ein Remake von Peter Kassovitz wurde 1999 gedreht: Jakob, le menteur.

Anmerkung: Jakob der Lügner wurde im Rahmen des Förderprogramms Filmerbe (FFE) restauriert und digitalisiert, dass von der BKM (Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien), den Bundesländern und der FFA (Filmförderungsanstalt) getragen wird und das gesamte deutsche Filmerbe umfasst. Die restaurierte Fassung des Films wurde auf der Berlinale im Rahmen der Verleihung des Heiner-Carow-Preises gezeigt. (Karsten Visarius)