Warum ein Film auf der diesjährigen Berlinale für die Ökumenische Jury der große Gewinner war. Von Miriam Hollstein, Präsidentin der Jury


Wie kann man Außenseiter der Gesellschaft wieder in deren Mitte zurückholen? Der französische Regisseur Nicolas Philibert tut es auf ganz einfache Weise: Er hat die Patienten und Patientinnen einer psychiatrischen Pariser Tagesklinik, die sich auf einem Lastkahn auf der Seine befindet, zu seinen Protagonisten gemacht. In seinem Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“ stehen sie 109 Minuten lang mitten im Licht der Leinwand statt im Schatten am Rand. Philibert, der mit einem Film über eine Dorfschule („Être et avoir“, 2002; dt.: "Sein und Haben") international bekannt wurde, hat dabei noch einen weiteren filmischen Kniff verwandt. Zu Beginn des Films lässt er offen, wer Patient ist und wer Betreuer oder Betreuerin bei diesem einzigartigen Projekt. Der ältere Herr, der so tiefsinnig über den deutschen Regisseur Wim Wenders parlieren kann – ein Patient? Der Sänger, der in der Anfangssequenz mit gekonnter Inbrunst das Chanson „La bombe humaine“ singt – ein Patient? Und was ist mit dem Musiker, der ihn dabei begleitet? Erst nach und nach taucht Philibert tiefer in die Lebensgeschichten ein, lässt die Betroffenen davon erzählen, was sie in ihre Situation gebracht hat, die sich nicht mehr kompatibel mit einer Leistungsgesellschaft und oft auch nicht mehr mit einem normalen Alltag macht. Dabei lässt der Filmemacher sie stets auf Augenhöhe bleiben.

Für dieses eindringliche Werk gab es am Ende der diesjährigen Berlinale den Goldenen Bären für den besten Film. Die erste Auszeichnung hat Philibert bereits Stunden zuvor entgegengenommen. Die Ökumenische Jury ehrte ihn mit einer „Besonderen Erwähnung“ für sein Werk, das zutiefst der christlichen Botschaft entspricht: Ich sehe dich mit all deinen Stärken und Schwächen.


Den Hauptpreis vergaben die sechs Jurorinnen und Juroren aus Kanada, Kuba, Frankreich und Deutschland an das mexikanische Familiendrama „Tótem“ von Lila Avilés. Aus der Sicht einer 7-Jährigen schildert die Regisseurin darin, wie sich die Familie auf den Geburtstag des todkranken Vaters des Mädchens vorbereitet. Das besondere Format des Films (4:3) zieht das Publikum direkt in die chaotischen Vorbereitungen hinein, in der Gefühle wie Schmerz, Trauer, Freude und Ironie einander teils im Minutentakt ablösen. Getragen von einem großartigen Ensemble zeigt der Film die mexikanische Kultur des im Vergleich zum Westen viel unverkrampfteren Umgangs mit Abschied und Schmerz. Zugleich feiert er das Leben. Dafür wählte ihn die Ökumenische Jury einstimmig zum Gewinner.

Dabei waren die Diskussionen innerhalb der Jury durchaus oft kontrovers verlaufen. Aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten und Lebenssituationen kommend, fiel bei den Jury-Mitgliedern auch der Blick auf die Filme immer wieder sehr unterschiedlich aus. Wurde im deutschen Wettbewerbsbeitrag „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ eine große Liebe erzählt oder ein toxisches Abhängigkeitsverhältnis verbrämt? Reproduziert der ebenfalls im Wettbewerb gezeigte Film „Disco Boy“ kolonialistische Klischees oder inszeniert er vielmehr geschickt afrikanische Spiritualität?

Doch im Gegensatz zu vielen öffentlichen Diskursen wurden die Meinungsverschiedenheiten in einer Atmosphäre des Respekts und der Zugewandtheit ausgetragen. Das Motto war dabei stets, den Blick des Anderen oder der Anderen nicht nur auszuhalten, sondern ihn zu verstehen und sich so selbst die Chance zu geben, dazuzulernen. Es zeigt, welches Potenzial in diesen Jurys steckt, sowohl was das menschliche als auch das kulturelle und religiöse Miteinander betrifft. Und welche Strahlkraft könnte das Format noch entwickeln, wenn man immer wieder ein Mitglied einer jüdischen oder einer islamischen Gemeinschaft dabeihätte?  

Eine der am häufigsten gestellten Fragen an die Ökumenische Jury lautete: Nach welchen Kriterien wählt ihr eure Preise? Man suche nicht den „besseren Jesusfilm“ stellte Jury-Mitglied Kerstin Heinemann in einem Interview mit dem „Deutschlandfunk“ klar. Tatsächlich gibt es eine Liste mit Punkten, die es zu beachten gilt. Besondere künstlerische Qualität gehört genauso dazu wie Respekt vor menschlicher Würde, christliche Verantwortung und universelle Wirkung. Was auf dem Papier formalistisch und kompliziert klingt, ergibt sich in der Praxis meist ganz natürlich.  Schnell wird klar, welchem Film es gelingt, über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg zu berühren. Denn das ist es, wonach sich das Publikum eines Festivals sehnt: nach Bildern, die aufrütteln, die bleiben, wenn man das Kino schon lange wieder verlassen hat.


Bei der Berlinale ist das dem Ökumenischen Preisträger zweifelsohne gelungen. Die Reaktion der Regisseurin bei der Preisübergabe zeigte, wie wichtig auch die Auszeichnungen der „kleineren“ Jurys auf solchen Festivals sind: Sie führte spontan auf der Bühne ein Freudentänzchen auf. Auch ein deutscher Verleih ist bereits gefunden. Im März oder April wird das deutsche Kinopublikum die Gelegenheit haben, sich selbst ein Bild zu machen, warum gerade dieser Film die Herzen der Ökumenischen Jury eroberte.

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Die Ökumenische Jury bei der Berlinale 2023 hat ihren Preis im Internationalen Wettbewerb an "Tótem" von Lila Avilès aus Mexiko verliehen. Den Goldenen Bären gewann der französische Dokumentarfilm "Sur l'Adamant" von Nicolas Philibert.