Das Leben wahrnehmen
Eindrücke vom Filmfestival in Karlovy Vary vom 3. bis 12. Juli 2014
Gewittergeräusche, Regenprasseln und Badenixen, die zu Glen Millers „In the Mood“ über die durchnässte Bühne gleiten: Die Eröffnungsshow des Karlovy Vary Filmfestivals überrascht, belebt, erfrischt. Von der ersten Minute an spürt man den künstlerischen Geist des Festivals, der sich durch ein abwechslungsreiches und vielschichtiges Programm zieht.
Da läuft „Free Fall“ (Szabadesés) von György Pálfi (Ungarn/Frankreich/Südkorea, 2014): Eine alte Frau stürzt sich samt Einkaufswagen vom Dach ihres sechsstöckigen Hauses. Nach dem Aufprall sammelt sie ihr Hab und Gut zusammen und begibt sich scheinbar unversehrt in ihre Wohnung, in der ein gelangweilter Ehemann auf sie wartet. Fünf weitere schräge Episoden über das Leben in diesem Wohnhaus folgen. Da geht es um den verängstigten Knaben, der am Familientisch als einziger den Ochsen in der Wohnung wahrnimmt, um eine Frau, welche nackt an einer Hausparty teilnimmt und von niemandem sonderlich beachtet wird. Um ein junges Paar, dessen Verhalten von übertriebenen hygienischen Massnahmen bestimmt wird. Um eine Mutter, welche die Geburt ihres Kindes von einem Gynäkologen rückgängig machen lässt, um eine Meditationsgruppe, welche sich nicht beeindrucken lässt, selbst als ein Teilnehmer durch eine Mauer geht. Wie nimmt der Mensch sein Gegenüber, seine Umwelt wahr? Der Film stellt diese Frage eindringlich. Die Schlussszene zeigt den Sturz der alten Frau in der Manier einer Rahmengeschichte nochmals, wir betrachten die Szene nunmehr geläutert. Kurze Stille. Heftiger Applaus. Der Surrealist György Pálfi freute sich diebisch und erhielt den Spezialpreis der Jury und den Preis für die beste Regie.
©Film Servis Festival Karlovy Vary
Free Fall
„The Magic Voice of a Rebel“ von Olga Sommerová (Tschechien 2014), der ausserhalb des Wettbewerbs gezeigte und mit dem Publikumspreis ausgezeichnete Dokumentarfilm, zeigt nicht nur Stationen aus dem Leben der berühmten tschechischen Sängerin und Dissidentin Marta Kubišová, sondern führt einen durch die jüngere Geschichte Tschechiens. Marta, ein engagiertes Mitglied der Charta 77, lebenslänglich befreundet mit Olga und Václav Havel, geht durch den Schmerz des Auftrittsverbots, das ihr vom kommunistischen Regime aufgedrängt wird. Nach knapp 20 Jahren gelingt ihr dank der demokratischen Wende ein spektakuläres Comeback. Sie singt vor Tausenden auf dem Prager Wenzelsplatz das „Gebet für Marta“- eines ihrer grossen Lieder. Der Klang ihrer unverwechselbaren Altstimme verleiht den Filmbildern Intensität und berührt zutiefst. Wahrlich eine vielschichtige Entdeckung!
©Film Servis Festival Karlovy Vary
The Magic Voice of a Rebel
Mein Favorit war der wortkarge Wettbewerbsfilm „La tirisia“ (Unendliche Traurigkeit) von Jorge Pérez Solano (Mexiko 2014), der das Schicksal zweier mexikanischen Frauen erzählt, die vom selben Mann geschwängert werden. Er beleuchtet die sozialen, politischen und religiösen Missstände in einem mexikanischen Wüstengebiet. Ein uneheliches Kind stellt beide Frauen vor eine folgenschwere Entscheidung: die eine, verheiratet und bereits Mutter zweier Kinder, muss auf das Kind verzichten und legt es dem Kindsvater ins Auto. Die andere nimmt das Kind mit sich und verlässt auf Verlangen der Herkunftsfamilie die Heimat. Die Geschichte ist unterteilt in Kapitel, die je ein religiöses Fest beleuchten: Am Dia de los Muertos, dann, wenn die mexikanischen Familien ihrer toten Angehörigen gedenken und den Tag zum Fest machen, indem sie mit lachenden Totenfiguren die Häuser und Strassen schmücken und zuckerne Totenschädel essen, wird das Weiterleben der beiden Mütter angedeutet: die „verwaiste“ Mutter versinkt in eine Depression, die andere steigt mit ihrem Kind auf einen Berg und sieht neues Land . Das Drama beleuchtet verschiedene Formen von Einsamkeit und überzeugt mit starken Bildern und hervorragenden SchauspielerInnen.
©Film Servis Festival Karlovy Vary
La tirisia
Besonders sehenswert war im offiziellen Wettbewerb auch der Animationsfilm „Rocks in My Pockets“ von Signe Baumane (Lettland/USA 2014), den die Ökumenische Jury mit einer Lobenden Erwähnung und die Fipresci-Jury mit ihrem Preis auszeichneten. Mit Mut und Humor erzählt die Filmemacherin von den Depressionen dreier Frauengenerationen, die an Selbstmord denken, sobald sie in einer patriarchalen Gesellschaft in die Rolle der Hausfrau und Mutter gedrängt werden. Auch die Filmemacherin leidet an schweren depressiven Verstimmungen. Sie aber bricht das Familiensystem auf, geht nach New York und setzt sich mit der Frage auseinander, inwiefern sich die Depression nur medikamentös behandeln liesse. Sie findet für sich eine andere Art Heilung: sie lebt ihre Kreativität, zeichnet gegen die Krankheit an und erkennt, dass Leben für alle heisst, sich jeden Tag neu darauf einzustellen. Ihre Zeichnungen sind fröhlich und ausdrucksstark. Bestechend ist die eindringliche Stimme Baumanes, die aus dem Off durch die Erzählung führt und dadurch dem Animationsfilm zusätzlich Authentizität verleiht.