Grußwort zum Ökumenischen Empfang des Filmfestivals Mannheim-Heidelberg 2023
Louise Brooks in "Die Büchse der Pandora" von G.W. Pabst (© Atlas Film)
Am 22. November 2023 fand im Haus der Katholischen Kirche der Ökumenische Empfang der Kirchen zum Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg statt. In seinem Grußwort für INTERFILM und SIGNIS sprach Christian Engels, Leiter des EZEF (Evangelisches Zentrum für entwicklungsbezogene Filmarbeit) und der Filmkulturellen Arbeit der EKD im GEP, über die Beziehung zwischen Film und Politik.
„Lichtspiel“, der neue Roman von Daniel Kehlmann, der vor vier Wochen erschienen ist, behandelt Szenen aus dem Leben einer deutschen Regie-Legende, G.W. Pabst. Pabst hat in den 20er Jahren Filme gedreht, die viele von uns kennen, wie „Die freudlose Gasse“ und „Die Büchse der Pandora.“ Und später hat derselbe Pabst auch Filme im Dritten Reich gedreht.
Im Roman beschreibt Kehlmann die Premiere von „Paracelsus“ von 1941, einem dieser typischen Filme der Zeit, in dem ein angegriffenes deutsches Genie gegen alle Zweifler ankämpft. Der Kniff dabei ist die Perspektive, aus der Kehlmann das beschreibt. Die Premiere findet in Salzburg statt, weil es hier mitten im Krieg ruhiger und sicherer zugeht als in Berlin. Und sie wird besucht von dem englischen Schriftsteller Rupert Wooster, den die Nationalsozialisten in Südfrankreich festgenommen haben und der im Austausch für Erleichterungen in der Haft Radiosendungen aufnimmt, die die deutschen Verbrechen unfreiwillig verharmlosen. Das Vorbild dieser Figur ist P.G. Wodehouse, der genau das erlebt und genau so gehandelt hat. Jeder, der Wodehouse kennt, weiß, dass er politisch vollkommen naiv war und dachte, dass er mit der britischen stiff upper lip durchkommen würde, und dass er sich irrte. Im Roman besucht sein Abbild Rupert Wooster jedenfalls die Premiere und erwartet, ein dilettantisches und abgeschmacktes Machwerk zu sehen - und ist überrascht, wie sehr der Film ihm gefällt. Wooster, der Gefangene der Deutschen, kann nicht fassen, dass in einem verbrecherischen, unmenschlichen System ein so guter Film gemacht werden kann.
So wie Kehlmanns Roman voller Bezüge zur Gegenwart steckt, so führt auch diese Szene zu einem der zentralen Themenkomplexe in der aktuellen filmkulturellen Arbeit, dem Zusammenhang von Kultur und Politik. Können wir zum Beispiel mit unseren Jurys Filme aus Russland berücksichtigen? Und wie gehen wir mit Filmen um, von denen wir wissen, dass sie von Kritiker*innen Putins gedreht wurden? Ist es nicht eine Unterstützung ihrer Position, wenn wir sie auszeichnen? Und wie gehen wir damit um, wenn ukrainische Partner fordern, dass wir russische Filme insgesamt boykottieren? Wir sind, anders als Wooster im Roman „Lichtspiel“, nicht überrascht, dass in einem verbrecherischen System gute Filme gedreht werden können. Aber gerade weil wir das wissen, wird die Frage, wie wir mit ihnen umgehen, umso drängender.
Diese und ähnliche Fragen beschäftigen uns und werden uns in den nächsten Jahren beschäftigen.
Im nächsten Februar werden zum Beispiel zwei Filme in die deutschen Kinos kommen, die auf zwei der drängendsten politischen Fragen der Gegenwart eingehen. In ungefähr einem Jahr beginnt der Wahlkampf für die Bundestagswahl, und diese beiden Fragen werden den Ausgang mitentscheiden.
Der eine Film ist „Green Border“ von Agnieszka Holland. Holland erzählt von Menschen, die in den Grenzkonflikt zwischen Polen und Belarus verwickelt sind, als Flüchtlinge, als Helfer*innen, als Grenzsoldat*innen. Holland ist dabei direkt und emotional. Sie macht ganz deutlich, dass hier alle Menschen leiden. Sie macht die Politik auf beiden Seiten verantwortlich, weil beide Seiten die Menschen auf der Flucht gnadenlos aus- und benutzen. Sie zeigt, dass es Spielräume der Menschlichkeit gibt, aber dass diese Spielräume keine Rolle spielen, wenn sich nicht die Politik im internationalen Maßstab ändert. „Green Border“ wurde in Polen zu einem der erfolgreichsten einheimischen Filme des Jahres. Aber gleichzeitig hat er in Polen eine große Welle von Kritik erlebt. Agnieszka Holland, die dreimal für den Oscar nominiert worden ist, wurde unterstellt, mit ihrer Darstellung der Grenzkontrollen anti-polnische Propaganda zu betreiben, und zwar im Auftrag Deutschlands, wie es das schon unter den Nationalsozialisten gab. Alle erwartbaren Argumente, alle lächerlichen Klischees wurden von den angegriffenen Parteien herangezogen, was schon zeigt, wie sehr der Film sie trifft. Aber er trifft nicht nur sie, der Film trifft auch uns alle, weil die Wachen hier nicht nur an der polnischen Grenze stehen, sondern an der der EU, an unserer. Der Film zeigt, was hinter allen Zahlen der Migration steht, und deshalb ist es auch ein Film über uns, und deshalb fordert er auch von uns eine Reaktion.
Der andere Film ist der englische, aber deutschsprachige „The Zone of Interest“ von Jonathan Glazer. Auch von diesem Film werden Sie wahrscheinlich schon gehört haben. Er handelt vom alltäglichen Leben von Rudolf Höß und seiner Familie in einer netten kleinbürgerlichen Idylle direkt neben dem Konzentrationslager Auschwitz. Auf der Leinwand ist kein einziges Verbrechen zu sehen. Es ist alles auf der Tonspur und in kleinen Anspielungen, die den ganzen Horror dessen zeigen, was exakt neben den Abendessen der Familie passiert und wie es neben ihrem Swimmingpool aussieht. Der Film ist erschütternd, aber er hat naturgemäß nicht die Diskussionen wie Green Border ausgelöst, wenigstens nicht bisher, weil niemand bestreitet, was er zeigt, und wahrscheinlich auch, weil er in der Vergangenheit zu spielen scheint. Aber „The Zone of Interest“ betrifft uns heute ganz aktuell, weil er mitten in die Antisemitismus-Diskussion stößt, die nach den Ereignissen vom 7. Oktober auch in Deutschland wieder aufgekommen ist. Der Film zeigt, ohne es zu zeigen, warum Vertreter*innen der deutschen Regierung heute ihre Solidarität mit Israel erklären. Der Film zeigt, ohne es zu zeigen, das Ergebnis von Antisemitismus.
Und darüber hinaus trifft „The Zone of Interest“ uns ins Mark, weil er zeigt, wie Menschen ihr Glück aufbauen. Sie müssen nur ignorieren, wie direkt neben ihnen Menschen gequält und getötet werden. Sie müssen nur wegschauen. Und das verbindet „The Zone of Interest“ auch mit der Gegenwart, das verbindet ihn auch mit „Green Border“.
Beide Filme sind völlig unterschiedlich. Während „Green Border“ direkt, engagiert und emotional vorgeht, ist „The Zone of Interest“ auf der Oberfläche sehr streng, kühl, fast schon distanziert. Ich glaube aber, dass diese Filme sich nicht widersprechen, sondern ergänzen. Beide Filme stellen Fragen, die existenziell und gleichzeitig hochaktuell, die human und gleichzeitig politisch sind. Und für beide Filme wird sich die evangelische Filmarbeit in den nächsten Monaten einsetzen.
Auch das Programm des Festivals hier in Mannheim und Heidelberg zeigt diese Beschäftigung des Films mit der Gegenwart und der Politik mit Klassikern wie „Der Pfandleiher“ von Sidney Lumet oder „Evil Does not Exist“ aus dem Iran oder „Without Air“ aus Ungarn, neben so tollen Filmen wie „Raging Bull.“ Ich danke Ihnen für diese spannende und liebevolle Zusammenstellung, und ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.