Preisverleihung und Bilanz des Festivals
Mati Diop, Regisseurin von "Dahomey", mit Jurypräsdentin Lupita Nyong'o (© Ali Ghandtschi / Berlinale 2024)
Seit Jahren ist die Berlinale bekannt, man könnte auch sagen, berüchtigt dafür, möglichst schräge Filme mit dem Goldenen Bären auszuzeichnen. Der letzte Gewinner, der auch den Weg ins Kino fand, war 2017 „Körper und Seele“ von Ildikó Enyedi. Seitdem hat man den Eindruck, dass es vor allem ideologische Kriterien waren, nach denen die Preise auf der Berlinale vergeben wurden.
Jetzt also „Dahomey“, in den Pressemeldungen allgemein als „Raubkunst-Doku“ bezeichnet. Die senegalesisch-französische Regisseurin Mati Diop, deren Spielfilmdebüt „Atlantique“ vor fünf Jahren in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, dokumentiert die Rückführung von geraubten Holzstatuen aus dem damaligen Königreich Dahomey, die Ende des 19. Jahrhunderts von der französischen Kolonialmacht nach Frankreich gebracht wurden. 2021 wurden 26 Objekte aus dem Pariser Musée du quai Branly an das westafrikanische Benin zurückgegeben. Wir sehen, wie Präsident Patrice Talon in einer pompösen Zeremonie die Kunstwerke in Empfang nimmt. Dass Talon dank Korruption einer der reichsten Männer im subsaharischen Afrika ist und die Opposition im Gefängnis verschwinden lässt, all das interessiert Mati Diop nicht.
Für ihre Dokumentation hätte eine Länge von 30 Minuten locker gereicht, aber Diop schafft es, den Film auf 67 Minuten auszuweiten und surreal zu überhöhen. Kaum dass die Statuen in Holzkisten verstaut sind, beginnt Nr. 26 mit verfremdeter Monsterstimme einen Monolog über die Zeit im Pariser Museum und die Rückkehr nach Afrika. Autor und Sprecher der streckenweise unfreiwillig komisch klingenden Geistertexte ist der haitianische Schriftsteller Makenzy Orcel.
„Dahomey“ traf in Berlin auf ein geteiltes Echo. Während die Einen seine poetische Qualität und Relevanz in der aktuellen Debatte um Raubkunst hervorhoben, fanden andere den Film überlang und wenig originell. Mit einem Plädoyer für die Restitution von Raubkunst rennt man heute offene Türen ein und kann sich des allgemeinen Beifalls sicher sein. Aber muss es dafür einen Goldenen Bären geben? So bleibt die Vermutung, dass schon wie im vergangenen Jahr bei Nicolas Philiberts Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“, weniger die filmische Qualität als vielmehr die Relevanz des Sujets gewürdigt wurde.
Der Darstellerpreis für Sebastian Stan in „A Different Man“ lässt auf ähnliche Motive schließen. Seine Verwandlung von einem physisch entstellten Mann, der unter Neurofibromatose leidet, zum attraktiven Frauenschwarm bedurfte keiner großen schauspielerischen Leistung. Oder sollte hier das Thema ‚Behinderung im Film‘ gewürdigt werden? Cillian Murphy wäre für seine Rolle in „Small Things Like These“ ein geeigneterer Anwärter gewesen. Dass Emily Watson im gleichen Film für ihren 5-Minuten-Auftritt als unerbittliche Mutter Oberin den Preis als beste Nebendarstellerin erhielt, passt zur absurden Logik dieser Preisvergabe. Ähnlich wie bei „Pepe“, dem sprechenden Nilpferd, dessen Weg von Südwestafrika nach Südamerika wir über zwei Stunden verfolgen dürfen. Warum es für den Film von Nelson Carlos De Los Santos Arias, der wie eine Bildercollage wirkt, ausgerechnet den Regiepreis gab, bleibt ein Rätsel.
Ebenfalls rätselhaft, dass ein großartiger Film wie Andreas Dresens Widerstandsdrama „In Liebe, Eure Hilde“ bei der Preisvergabe leer ausging. Wenigstens ein Darstellerpreis für Liv Lisa Fries (nicht möglich, da im Regelwerk der Berlinale für Schauspieler nur noch ein Unisex-Preis vorgesehen ist) oder eine Auszeichnung für das beste Drehbuch für Laila Stieler wären angemessen gewesen. Dass Matthias Glasner mit dem Drehbuchpreis für sein gnadenloses Familiendrama „Sterben“ bedacht wurde, ist nachvollziehbar, wenngleich der Film mit einer Länge von drei Stunden die Geduld der Zuschauer einigermaßen strapaziert.
Zwei Preise gab es für den iranischen Beitrag „Keyke mahboobe man“ (My Favourite Cake) von Maryam Moghaddam & Behtash Sanaeeha. Die tragikomische Geschichte einer Witwe, die sich in Teheran auf die Suche nach einem Mann macht und einen kurzen Augenblick später Liebe erlebt, war der Favorit der Kritiker und wurde sowohl von der Ökumenischen Jury wie von der internationalen Filmkritik (FIPRESCI) prämiert.
Zum Eklat kam es bei der Preisverleihung, als der amerikanische Regisseur Ben Russell, der für den Dokumentarfilm „Direct Action“ ausgezeichnet wurde, mit einer Kufiya (vulgo: Palästinensertuch) auf die Bühne kam, von „Genozid“ in Gaza sprach und zur Solidarität mit den Palästinensern aufrief. Neben dem Publikumspreis in der Reihe Panorama gewann der palästinensische Film „No Other Land“ auch den Hauptpreis als bester Dokumentarfilm. In seiner Dankesrede sprach der Filmemacher Basel Adra über seine ambivalenten Gefühle: „Es ist schwer für mich zu feiern, während in Gaza gerade zehntausende Menschen meines Volkes getötet werden.“ Sein israelischer Co-Regisseur Yuval Abraham äußerte sich folgendermaßen: "Basel und ich sind gleich alt. Ich bin Israeli, Basel ist Palästinenser…Ich lebe unter ziviler Justiz, Basel unter Militärverwaltung. Wir leben 30 Minuten voneinander entfernt, ich darf wählen, Basel darf das nicht. Ich kann mich in meinem Land frei bewegen. Basel ist wie Millionen Palästinenser eingesperrt unter der Besatzung im Westjordanland. Diese Situation der Apartheid zwischen uns, diese Ungleichheit, muss ein Ende haben.“ Das Publikum im Saal reagierte mit großem Applaus.
Genau einen Tag später brach ein medialer Sturm der Entrüstung los, ausgelöst durch einen Bericht des israelischen Senders Kan, der von einer „antisemitischen Rede“ Abrahams sprach. Die renommierte israelische Tageszeitung Ha’aretz schreibt dazu: “Dieses Framing (Ettikettierung) durch Kan entspricht der Atmosphäre des Mundtotmachens, der Selbstzensur und Verfolgung aller, die es wagen, das israelische Regime zu kritisieren. Genauer gesagt, derjenigen Israelis, die gegen die Besatzung opponieren…Was ist so beängstigend an Abrahams Worten? In weniger als einer Minute hat er eine Situation beschrieben, die von den meisten Israelis geleugnet wird, oder schlimmer noch, deren sie sich überhaupt nicht bewusst sind.“
Wie auf ein Stichwort wurden auf einmal die Preisverleihung und die gesamte Berlinale als antisemitisch geschmäht. Der israelische Botschafter Ron Prosor sprach von „antisemitischen und israelfeindlichen Äußerungen“, der Zentralrat der Juden forderte Konsequenzen für die Kulturförderung. Die Kulturstaatsministerin Claudia Roth sprach von „Israelhass“ und kündigte eine Untersuchung an, während die Festivalleitung sich von den Äußerungen der Preisträger schriftlich distanzierte.
Angesichts der medialen Empörung trat die Frage nach der künstlerischen Bilanz dieser Berlinale völlig in den Hintergrund. Immerhin war es dem künstlerischen Leiter Carlo Chatrian gelungen, Martin Scorsese nach Berlin zu locken, wo ihm ein Ehrenbär überreicht wurde. Ansonsten, ein schwacher Wettbewerb, der noch schwächer ausfiel als in den vergangenen Jahren, hilflose Preisentscheidungen und verschwommene Abgrenzungen zwischen den einzelnen Sektionen des Festivals. Im nächsten Jahr wird es kein Führungsduo mehr geben und die Amerikanerin Tricia Tuttle die alleinige Leitung der Berlinale übernehmen. Man darf gespannt sein.