Bologna: Il Cinema Ritrovato (3)

Bericht von Peter Paul Huth (Schluss)
Made in England: The Films of Powell and Pressburger (David Hinton)

Made in England: The Films of Powell and Pressburger (David Hinton; © 2024 P & P Film Limited & British Broadcasting Corporation)


Es gibt einige viel gereiste Cineasten und habituelle Festivalbesucher, die Bologna als ihr Lieblingsfestival bezeichnen. Die Atmosphäre ist entspannt und demokratisch, es gibt keinen VIP-Bereich, keine Stars, die vom gemeinen Volk abgeschirmt werden müssen. Die Teilnehmer kommen aus 70 Ländern, wie stolz vermerkt wird. Tickets und Akkreditierungen sind bezahlbar, vor allem für Studenten, die den Großteil der Zuschauer ausmachen. Aus Deutschland waren ganze filmwissenschaftliche Seminare zur Exkursion nach Bologna gereist.

Im Programm finden sich auch einige Dokumentationen zu einzelnen Filmemachern, wie z. B. der Filmessay von David Hinton „Made in England: The Films of Powell and Pressburger“, der auch schon in Berlin und Cannes zusehen war. Sehr persönlich erzählt Martin Scorsese von seiner Beziehung zu dem von ihm verehrten Michael Powell. Nach erfolgreichen Filmen in den 40er und 50er Jahren wie „The Life and Death of Colonel Blimp“ „The Red Shoes“ und „The Tales of Hoffmann“ war der Regisseur in England so gut wie vergessen und lebte zurückgezogen in einem abgelegenen Cottage in Kent. Scorsese und seine Freunde Francis Ford Coppola und Brian de Palma hatten die Filme von Powell und Pressburger im Studium entdeckt und waren voller Begeisterung. Sie fragten sich, was hinter dem geheimnisvollen Duo steckte, das bei seinen Filmen gemeinsam für Drehbuch, Regie und Produktion verantwortlich zeichnete. In seiner Kindheit hatte Scorsese einige ihrer Filme im Fernsehen gesehen, alle, auch die Farbfilme, in Schwarz/Weiß. Weil die Hollywood-Studios damals keine Filme an das Fernsehen verkauften, liefen dort vor allem englische Produktionen.

Als er 1974 einen Preis auf dem Festival von Edinburgh gewann, machte sich Scorsese auf die Suche nach Michael Powell, freundete sich mit ihm an und holte ihn nach New York. Der machte zwar keine Filme mehr, wurde aber zum Mentor bei Scorseses Projekten. Dessen langjährige Cutterin Thelma Schoonmaker verliebte sich in den zurückhaltenden Engländer und die beiden wurden ein Paar.

Ende Juni kam „Made in England“ in Deutschland ins Kino und ist mittlerweile auch auf MUBI zu sehen.


Sehr aufschlussreich war auch die Dokumentation „Jacques Demy, le Rose et le Noir“ von Florence Platarets und Frédéric Bonnaud, die mit zahlreichen persönlichen Dokumenten das Leben und die Filmographie von Jacques Demy nachzeichnet. Der französische Regisseur, der nur 13 Filme realisierte und im Alter von 59 Jahren starb, war berühmt für seine bunten, extravaganten Musicals. „Les Parapluies de Cherbourg“ (Die Regenschirme von Cherbourg, 1964) gewann die Goldene Palme in Cannes. Die restaurierte Fassung wurde in Bologna auf der Piazza Maggiore von Damien Chazelle präsentiert, der den Film als Inspiration für „La La Land“ bezeichnete. Die deutsche Kritik reagierte bei der Premiere vor 60 Jahren alles andere als enthusiastisch. Der Katholische Filmdienst war immerhin beeindruckt von den „stilisierte(n) Farben, Formen“ und Bewegungen der anspruchslosen Alltagsgeschichte“, während der Evangelische Filmbeobachter das „Filmsingspiel“ trotz seiner „Sentimentalität“ für „bemerkenswert“ hielt. Ausgesprochen sauertöpfisch beklagt Ulrich Gregor in seiner „Geschichte des Films seit 1960“ die „romantischen Klischees… (den) Hang zur Sentimentalität“, die den Film „im Endresultat zu schwer verträglichem, süßlichem Kitsch“ machen. Die musicalerfahrenen US-Kritiker reagierten dagegen überwiegend positiv. „Les Parapluies de Cherbourg“ wurde für mehrere Oscars nominiert.

Ohnehin wurde von vielen der dramatische Hintergrund des Films, der französische Algerienkrieg, übersehen, an dem die jugendliche Liebe der Protagonisten zerbricht. „Meine Filme sind getarnt. Oft verbirgt sich hinter der Farbe und Musik der wahre Pessimismus der Geschichte“, wie Jacques Demy sagte. In „Une Chambre en Ville“ (Ein Zimmer in der Stadt, 1982) ist es ein Hafenarbeiterstreik in Nantes, bei dem sich Polizisten und Streikende gegenüberstehen.


Der harten Realität der italienischen Nachkriegsjahre begegnet man in den Filmen von Pietro Germi, dem eine Retrospektive gewidmet war. In “Il Camino della Speranza“ (Weg der Hoffnung, 1950), an dessen Drehbuch auch Federico Fellini mitgearbeitet hat, zeigt Germi die soziale Verelendung eines sizilianischen Dorfes nach der Schließung der örtlichen Schwefelmine. Ein Schlepper verspricht den Menschen Arbeit und Wohlstand im Kohlerevier von Nordfrankreich. Auf halber Strecke in Rom verschwindet er mit ihrem Geld, sie müssen sich alleine nach Norden durchschlagen, werden von Carabinieri und streikenden Arbeitern gejagt, als sie bei Parma bei einem Großbauern anheuern. Ohne Geld und Papiere erreichen sie schließlich die französische Grenze, wo sie einen verschneiten Pass überqueren. Überraschende Parallelen tun sich auf zwischen den verarmten Sizilianern von damals und den Flüchtlingen von heute.

In „Il Ferroviere“ (Das rote Signal, 1955) verbindet Germi Elemente des Neorealismus mit einer dramatischen Familiengeschichte. Der Regisseur selbst spielt den Lokomotivführer Andrea, der beinahe einen Unfall verursacht, als er ein Signal übersieht. Von der Gewerkschaft im Stich gelassen, wird er zum Streikbrecher und sozial isoliert. Zuhause versucht er vergeblich, seine Familie herumzukommandieren, doch die schwangere Tochter ist nicht bereit, den vorgesehenen Mann zu heiraten. „Il Ferroviere“ zeichnet ein soziologisch präzises Bild des proletarischen Lebens im Nachkriegsitalien. Die kommunistisch orientierte Filmkritik nannte den Film populistisch und sentimental und warf Germi mangelndes Klassenbewusstsein vor. Ein echter Arbeiter könne kein Streikbrecher sein. Ein Grund für Germis dauerhafte Marginalisierung im Kanon des italienischen Neorealismus.


Angesichts von 480 Filmen (incl. Kurzfilme) im Programm von Bologna ließe sich noch vieles aufzählen wie z.B. die restaurierte Fassung des „Godzilla“-Films aus dem Jahr 1954 (Regie: Ishiro Honda), der auf japanisch „Gojira“ heißt und mit seinen Bezügen auf die atomaren Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki überraschend ernsthaft und politisch wirkt. Oder James Cagney, der in „The Roaring Twenties“ von Raoul Walsh (1939) als Soldat aus dem 1. Weltkrieg kommt und zuerst arbeitslos auf der Straße landet, bevor er im Zuge der Prohibition zum Alkoholschmuggler großen Stils wird. Nachdem er sich an seinem skrupellosen Partner Humphrey Bogart gerächt hat, von dem er betrogen wurde, stirbt er einsam im Schnee, ähnlich wie Warren Beatty in „McCabe & Mrs.Miller“.

Vielleicht ist die Atmosphäre in Bologna so entspannt, weil es zwar eine Fülle klassischer Filme zu entdecken gibt, aber das Festival nicht dem Zwang unterliegt, Premieren und nie Gesehenes zu präsentieren. In Bologna vertraut man auf die Neugier und Intelligenz des Publikums. „Zuschauer sind nicht bloß Konsumenten,“ sagt Guy Borlée, der das Programm von „Il Cinema Ritrovato“ koordiniert, „sie haben auch ein Herz und ein Gehirn.“