Ein Kino der Illumination

Thesen zum chinesischen Kino der Gegenwart
Still Life (Jia Zhang-ke)

Szenenfoto aus "Still Life" von Jia Zhang-ke (China, Hongkong 2006)


Bei der Mostra del Cinema, den Internationalen Filmfestspielen von Venedig (27. August-6. September 2008), war INTERFILM erstmals offiziell vertreten. Während des Festivals veranstaltete INTERFILM gemeinsam mit der italienischen Partnerorganisation Associazione protestante Cinema „Roberto Sbaffi“ und der katholischen Filmorganisation in Italien, der Fondazione Ente dello Spettacolo, eine Podiumsdiskussion zum chinesischen Gegenwartskino. Karsten Visarius, Executive Director von INTERFILM, hielt dazu folgenden Vortrag (für die INTERFLM-Website geringfügig erweitert).

Ich möchte mit einer grundsätzlichen Klärung beginnen. Der chinesische Film kann uns aus unterschiedlichen Gründen beschäftigen: weil China ein bedeutender Faktor der Weltpolitik geworden ist, oder weil es in der Globalisierung der Wirtschaft eine wichtige Rolle spielt. Unter dieser Perspektive betrachten wir Filme als Material, dass uns Informationen über soziale, politische, kulturelle oder geographische Fragen liefern kann. Für meine Überlegungen ist jedoch ein anderer Gesichtspunkt ausschlaggebend. Chinesische Filme interessieren uns durch ihren künstlerischen Wert und ihre ästhetische Kraft, und zwar schon bedeutend länger, als es politische und ökonomische Faktoren erklären können. Gewiss, auch für eine solche Perspektive spielt die Neugier auf eine unbekannte Welt und das Bedürfnis nach Erkenntnis eine wichtige Rolle. Aber dieses Interesse richtet sich nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, auf Informationen in einem faktischen oder analytischen Sinn. Es geht vielmehr um Anteilnahme an Erfahrungen – um Begegnung, Austausch, Verständnis, Einfühlung, kurz, um die Sphäre der Subjektivität, in die uns künstlerisch gelungene (und sogar misslungene) Filme Einblick gewähren.

Vorab ist noch eine zweite Klärung notwendig. „Chinesische Filme“ meint im folgenden ausschließlich Filme aus der Volksrepublik, also nicht aus Taiwan, aus Hongkong, oder von Auslandschinesen. Regisseure wie Hou Hsiao-Hsien und Tsai Ming-liang, wie Wong Kar-wei oder Ang Lee finden keine Berücksichtigung. Nicht, weil sie weniger „chinesisch“ wären. Sondern weil die politischen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen der Filmproduktion in der Volksrepublik sich deutlich von denen der anderen Chinas unterscheiden, auch wenn sie immer noch, jedenfalls für den Blick eines fernen Beobachters, die Herkunft aus einem gemeinsamen Kulturraum zu teilen scheinen. Gerade für die Frage nach den spirituellen Dimensionen des chinesischen Gegenwartsfilms gehen dabei wichtige Aspekte verloren. Ich komme am Schluss meines Textes auf diese Frage und die Gesamtheit der chinesischen Kinematographie zurück.

Man kann ziemlich genau datieren, seit wann chinesische Filme die Aufmerksamkeit eines internationalen Publikums auf sich gezogen haben. 1985 gewann „Gelbe Erde“ (Huang tu di/Yellow Earth) von Chen Kaige, mit Zhang Yimou als Kameramann, den Silbernen Leoparden in Locarno und eine Lobende Erwähnung der Ökumenischen Jury. Es folgten der Goldene Bär für Zhang Yimous Debut als Regisseur, „Das Rote Kornfeld“ (Hong gao liang/Red Sorghum), in Berlin 1988 und in Fribourg, wieder in der Schweiz, im gleichen Jahr ein Preis für Tian Zhuangzhuangs „Der Pferdedieb“ (Dao ma tse/Horse Thief). Diese drei Regisseure und ihre Filme bilden den Kern dessen, was später als die „Fünfte Generation“ des chinesischen Films bekannt und berühmt wurde.

Obwohl wir uns heute auf das chinesische Gegenwartskino der sechsten oder siebten Generation konzentrieren wollen, möchte ich, wenn auch sehr allgemein, die Leistungen der „Fünften Generation“ für den chinesischen Film in Erinnerung rufen. Denn sie bilden das Fundament, auf dem auch die jüngeren Regisseure des chinesischen Kinos aufbauen.

Die erste, entscheidende Leistung besteht in der Re-Etablierung des Films als Kunst statt eines Instruments der politischen Propaganda. Damit im Zusammenhang steht zweitens die Durchsetzung des Prinzips der Autorenschaft, also die Verankerung der verschiedenen Ebenen und Elemente eines Films in einer persönlichen Konzeption und Vision. Dieses Prinzip steht, wie wir wissen, nicht nur im Konflikt mit politischer Kontrolle durch Zensur, sondern auch mit dem Kalkül des wirtschaftlichen Erfolgs, den Konzessionen an Publikumsgeschmack und Konvention. Und drittens hat die „Fünfte Generation“ das Gespür dafür geweckt, dass Kunst nicht existieren kann ohne ein Bewusstsein der eigenen Geschichte. Alle diese Prinzipien stehen in direktem Widerspruch zu den Maximen der Kulturrevolution und der Katastrophe, die sie für die chinesische Gesellschaft bedeutet – eine Katastrophe, die sich unmittelbar in den Biografien der Regisseure der 5. Generation niedergeschlagen hat.

Für die interkulturelle Perspektive, die uns heute besonders beschäftigt, hat das letzte Prinzip, die Verortung des eigenen Schaffens in der Filmgeschichte, eine besondere Bedeutung. Denn die Regisseure der 5. Generation haben ihren eigenen Stil in der Auseinandersetzung mit den Filmen des Westens, vor allem mit der europäischen Filmgeschichte entwickelt. Das gilt genauso für die Regisseure der nächsten Generation bis heute. Dabei spielen zunächst der italienische Neorealismus, dann die französische Nouvelle Vague eine wichtige Rolle, daneben einzelne herausragende Künstler wie Robert Bresson und Michelangelo Antonioni. Wir müssen also nicht nach einer abstrakten Beziehung zwischen westlich-europäischen und chinesischen Filmen suchen. Es geht dabei nicht um die Suche nach Einflüssen oder Abhängigkeiten. Es geht vielmehr um Austausch, um Anpassung, um Verwandlung, kurz um eine internationale filmästhetische Kommunikation. Meine These lautet deshalb: die Ausdrucksformen des modernen chinesischen Films basieren auf einer interkulturellen Matrix. Wir müssen den chinesischen Film als ein Gewebe, als eine Textur betrachten, in dem sich eigene, nationale und äußere, internationale Elemente durchdringen.

Ich füge dieser These eine Fußnote hinzu. Die inhärente Internationalität und Interkulturalität des Films, auch in China, steht im Widerspruch zu der Suche nach einer kollektiven Identität, in China mit einem Jahrtausende alten imperialen Hintergrund. Die Entwicklung der Regisseure der 5. Generation, vor allem von Zhang Yimou, aber auch von Chen Kaige, lässt sich beschreiben als Weg von Protest und persönlicher künstlerischer Selbstbehauptung zu der Übernahme kollektiver Sehnsüchte und Bedürfnisse, die einen imperialen Mythos beschwören, ohne dass dabei kritische Revisionen und Untertöne ausgeschlossen wären. Sie fordern damit, auch ökonomisch erfolgreich, die Mythologie des Hollywoodkinos heraus.

Für mich persönlich, als ein protestantisch geprägter Filmkritiker, für INTERFILM, aber auch für die Ökumenischen Jurys, die es außer in Venedig an zahlreichen internationalen Filmfestivals gibt, zählen jedoch andere Präferenzen. Nicht der Mythos, nicht die Illusion, nicht das kollektive emotionale Erlebnis – Elemente, die untrennbar mit dem Kino verbunden zu sein scheinen. Es gibt aber eine andere Seite des Kinos. Sie hat zu tun mit Mitgefühl, mit Empathie, mit Wahrheit, mit der Würde des einzelnen, mit der Parteinahme für Gerechtigkeit und mit dem Protest gegen Unterdrückung und Gewalt. Ich muss nicht erklären, warum diese Werte für eine Filmorganisation kirchlicher Herkunft von zentraler Bedeutung sind. Aber ich will doch begründen, warum sie auch für das Kino als Filmkunst grundlegend sind, jedenfalls aus unserer Sicht. Ich beziehe mich dabei auf die Filme von Jia Zhang-ke, dem gegenwärtig wohl wichtigsten Regisseur des chinesischen Kinos, der auch hier in Venedig einen neuen Film zeigt und dessen Kameramann Yu Lik-wai mit einem eigenen Film im Wettbewerb vertreten ist.

Jia Zhang-kes erster Film Xiao Wu, englisch Pickpocket, handelt von einem kleinen Gauner in der chinesischen Provinzstadt Fengyang, in der der Regisseur selbst aufgewachsen ist. Seine früheren Kollegen sind inzwischen wichtige Geschäftsleute geworden, die Polizei, die ihn für kleine Gegenleistungen hat gewähren lassen, entzieht ihm ihre Protektion. Am Schluss steht er angekettet auf der Straße und wird von Passanten begafft, als sei Kafkas Käfer plötzlich ins Leben getreten. Die Handlung des Films ist kaum von Belang. Wichtig ist das Bild einer Provinzstadt, die Straßen und Plätze, Hinterhöfe und Wohnräume; wichtig sind die sozialen Rollen und das Netz der Beziehungen, wichtig ist, dass Xiao Wu mit einem Feuerzeug, das Beethovens Etude „für Elise“ spielt, das Herz einer Prostituierten gewinnt.

„Platform“, Jias nächster Film, handelt von einer Gruppe wandernder Schauspieler wieder aus Fengyang zwischen 1980 und 1989, die durch die Provinz ziehen und den Wandel von einem Theater im Auftrag der Partei zu einem Privatunternehmen durchleben. Persönlich ist es der Weg von einer Stimmung jugendlichen Aufbegehrens zum Kampf um die Aufmerksamkeit eines meist desinteressierten Publikums. Es ist ein großes Panorama einer ganzen Dekade und des provinziellen Chinas, das auch, wie Balzacs Roman, den Titel „Verlorene Illusionen“ tragen könnte.

Ich springe zu „Still Life“, dem Film, mit dem Jia Zhang-ke 2006 in Venedig den Goldenen Löwen gewann. Er spielt in der gespenstischen Kulisse der von Abriss und Untergang gezeichneten Stadt Fengjie, die dem Drei-Schluchten-Staudamm am Yang-tse geopfert wurde. Der Film erzählt von einem ehemaligen Minenarbeiter auf der Suche nach seiner Frau, die ihn vor 16 Jahren verlassen hat, und in einer zweiten Geschichte von einer Ehefrau, die ihren Mann an eine erfolgreiche Karriere verloren hat. Das Bild auf unserer Einladung stammt aus diesem Film. Es zeigt im Hintergrund einen Seiltänzer, der nicht abzustürzen versucht – ein Symbol für die Gratwanderung zwischen verlorener Tradition und ungewisser Zukunft, die die Figuren des Films bewältigen müssen.

Die schwierige Selbstbehauptung am Rande der Gesellschaft, prekäre, unsichere Lebensbedingungen, der Kontrast zwischen Zukunftsverheißungen und enttäuschenden Erfahrungen, großen Worten und nüchterner Realität, zwischen beeindruckenden Kulissen und verborgenem Elend, ökonomischem Wachstum und persönlicher Not liefern den Stoff für das Drama dieser Filme. Das Alltagsleben in einer sich in rasender Geschwindigkeit verändernden sozialen Umwelt – das ist das Thema Jia Zhang-kes, aber auch das vieler anderer Regisseure seiner Generation. Sie erzählen, wie der Kampf ums Überleben das Leben selbst auffrisst: Glück, Befriedigung, Hoffnung, Vertrauen, Solidarität, Selbstbewusstsein. Nur ein bewundernswerter Pragmatismus hält die Menschen aufrecht. Man könnte sagen, dass die Figuren von Jia Zhang-ke durch die Wertlosigkeit von Werten bedroht und beschädigt sind. Das wir dies sehen, spüren und verstehen können, ist eine große Kunstleistung. Sie beruht darauf, dass Kamera, Dramaturgie und Figuren sich in einer fast dokumentarischen Weise offen halten für die Wirklichkeit und ihr Gestalt geben.

Im Kino von Zhang Yimou oder Chen Kaige finden wir die Suche nach einer nationalen Identität, ein eindrucksvolles Aufgebot ästhetischer Zeichen, die in der Geschichte Chinas erfunden worden sind, um den Glanz des Reiches darzustellen. In den Martial Arts-Filme Hongkongs, die Ang Lee weiterentwickelt, die die amerikanische Matrix-Trilogie beerbt und Quentin Tarantinos „Kill Bill“ schon wieder ironisiert hat, erleben wir die Überwindung des Körpers und der Wirklichkeit durch asketische Disziplin und spirituelle Versenkung, eine Art von filmischen Zen-Buddhismus. Im Kino Taiwans, in den Filmen Hou Hsiao-Hsiens, Edward Yangs, sogar noch Tsai Ming-liangs, scheint die Frage nach dem Schicksal der Familie im Zentrum zu stehen; das Kino der Volksrepublik hat sich mit diesem Themenkomplex vor allem in Form von kritischen Filmen zur weiblichen Zwangsverheiratung auseinandergesetzt. Fragt man nach den Impulsen des chinesischen Kinos für das Kino des Westens, so bilden imperialer Monumentalismus und spirituell motivierte, entgrenzte Akrobatik die attraktivste, anregendste Mischung. Jia Zhang-ke und seine Mitstreiter – Wang Xiaoshuai mit „Beijing Bicycle“, Ning Ying mit „I Love Beijing“, Li Yang mit „Blind Shaft“, Zhuang Yuxin mit „Teeth of Love“, um wenigstens einige zu nennen – verfolgen eine andere Intention. Ihr Kino ist nicht eines der Wirkung sondern der Wahrheit. Es ist nicht das Kino der Illusion sondern der Illumination. Für uns im Westen hält dieses Kino zwei Botschaften bereit. Wir können in ihm zum einen ein Bild unserer Zukunft erkennen. Denn unter den Bedingungen der Globalisierung machen Armut, soziale Unsicherheit, der Abschied von vertrauten Lebensbedingungen, Entsolidarisierung und bedrohliche Lebensrisiken nicht vor den eigenen Toren halt. Zum anderen fordert es unsere Empathie, Anteilnahme und Stellungnahme heraus. Wenn Nachrichten, Bilder und Geschichten in einem weltweiten Kommunikationssystem alle Distanzen vernichten und eine Nähe zu jedermann stiften, können wir uns Gleichgültigkeit, Desinteresse oder nationale Egoismen nicht leisten. Es sei denn, wir wollten den Bankrott unserer eigenen Werte unterschreiben.

Wir wissen, das dieses Kino in China kaum eine Auswertung findet, keine Unterstützung und keine Werbung erfährt, oft sogar verboten ist und nur durch Video-Piraterie verbreitet wird. Es wird dadurch seiner wichtigsten Funktion beraubt: teilzunehmen an der öffentlichen Kommunikation über Probleme, politische Entscheidungen und Perspektiven der chinesischen Gesellschaft. Deshalb plädiere ich dafür, die Künstler des chinesischen Gegenwartskinos zu preisen und ihnen Preise zu verleihen: in der Hoffnung, dass diese Anerkennung auch chinesische Zuschauer neugierig darauf macht, diese Filme mit eigenen Augen sehen zu können.