Kampf gegen Gewalt und Sieg des Lebens
Als gewissenhafte Seismografen des Zeitgeschehens präsentieren sie sich bei den Internationalen Filmfestspielen Mannheim-Heidelberg (IFFMH) jedes Jahr aufs Neue: junge Regisseure und Regisseurinnen, kaum bekannte Newcomer im weltweiten Filmgeschäft. Ein schwer erziehbarer Junge, handyversierte mobbende Teenager, misshandelte Frauen, Söhne und Töchter von missratenen Vätern und verzweifelte Banker standen diesmal im Fokus. Stets ergibt sich ein anderes neues Bild mit vielen Facetten, nationalen Eigenheiten, aber auch überraschenden Gemeinsamkeiten - "rein zufällig", wie Programm-Mitgestalter Josef Schnelle beteuert. Hinzu kommen politische Akzente, diesmal mit dem Schwerpunkt Afghanistan.
Ein ungewöhnlicher Psychoschocker aus dem ganz gewöhnlichen Alltag ist der frankokanadische Film 10 1/2 von Daniel Grou (alias "Podz"), dem die Internationale Jury ihren Großen Preis verlieh. Der zehneinhalbjährige Tommy, Kind drogenkranker Eltern, landet, nachdem er einen kleinen Jungen zum Oralsex gezwungen hat, im Erziehungsheim. Dort reagiert er auf den kleinsten Druck mit ungebremster Zerstörungswut bis zur Selbstverletzung, ein scheinbar hoffnungsloser Fall. "Ich habe versagt", bekennt der um ihn bemühte Erzieher schließlich erschöpft. Zweimal reißt Tommy aus, wird vom verwahrlosten Vater abgewiesen und entkommt nur mit Mühe einem Pädophilen. Am Ende jedoch kehrt er freiwillig an den einzigen Ort zurück, wo ihm Liebe begegnet ist.
In Deutschland, wo klinisch weit leichtere Fälle von ADSH-Syndrom (Aufmerksamkeitsdefizit mit Hyperaktivität) als nicht bloß umweltbedingte Krankheit medikamentös behandelt werden, mag die im Film erklärte Ablehnung dieser Therapie erstaunen. Das hier entwickelte Psychogramm von Kindern und Erwachsenen bleibt jedoch in jeder Phase stimmig. Der junge Darsteller schockiert nicht nur durch die Intensität, mit der er seine Aggressivität bis zum Zusammenbruch austobt, er überzeugt auch in seiner Hilflosigkeit und Verzweiflung. 10 1/2 ist gewiss kein Film fürs Feierabendkino, wohl aber ein Lehrstück für Eltern und Pädagogen.
Gefährliche (Handy-)Spiele
Das Gleiche gilt, mit Einschränkung, auch für den dänischen Wettbewerbsbeitrag Hold om mig (Halt mich fest), dem die Ökumenische Jury von INTERFILM und SIGNIS ihren mit 1.500 Euro dotierten Preis zuererkannte. Der 1971 geborene Regisseur Kaspar Munk schildert, wie Gruppenzwang und Machtgehabe Teenager dazu verführen, auf dem Pausengelände ihrer Schule eine Vergewaltigung zu "spielen" und per Handy zu verbreiten. Die Eltern, soweit sie davon erfahren, reagieren unterschiedlich. Dem Opfer gelingt es nicht, sich der beruflich überlasteten Mutter anzuvertrauen. Noch ehe der reuige Haupttäter eine Entschuldigung vorbringen kann, nimmt sich das verstörte Mädchen das Leben.
"Durch die verantwortungsvolle und sensible Führung der jugendlichen Schauspieler und mit ästhetisch durchkomponierten Bildern legt der Regisseur kunstvoll den Grundstein für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung", begründete die Jury ihre Entscheidung. Bemerkenswert ist hier auch, wie angepasst der junge Türke in der Clique und sein Vater agieren. Die Außenseiterrolle als Intrigantin hat stattdessen ein Mädchen, das in seiner sozial verwahrlosten Familie keinen Rückhalt findet.
Wenn Munk pädagogische Absichten verfolgt haben sollte, so macht der brutale Schluss seinen Film als "Schulbeispiel" allerdings untauglich (Der kleine Bruder des Mädchens sucht die geliebte Schwester und steht beim Öffnen des Badezimmers vor ihren baumelnden Beinen). Das in den 90er Jahren noch propagierte Schockrezept hat sich in der Erziehung als kontraproduktiv erwiesen; Jugendliche reagieren darauf mit Abwehr, Kinder mit Angst. Ein offenes Ende - etwa mit der Szene, in der der Pseudovergewaltiger Mikkel seinen Brief überbringen will und den Platz des Mädchens in der Klasse leer findet, - könnte hingegen eine fruchtbare Diskussion anregen, über die Formen von Mobbing wie über die Gefahren eines gedankenlosen Umgangs mit Handy und I-Pod.
Die verschwundenen Kinder
In der Gunst des Publikums, das für die mitunter nur englisch untertitelten Vorführungen in Mannheim und Heidelberg geduldig anstand und hernach Fragebögen ausfüllte, lief neben Hold me tight ein in jeder Hinsicht ungewöhnliches Werk aus Argentinien allen anderen Wettbewerbsbeiträgen den Rang ab. Mit der Suche der Freundinnen Eva und Lola (Filmtitel) nach ihrer wahren Identität thematisiert Sabrina Farji das Schicksal der Kinder von ermordeten Häftlingen, die von den Obristen während der Zeit der Diktatur adoptiert worden waren und die heute von ihren überlebenden Verwandten, vor allem von den "Großmüttern der Plaza de Mayo", gesucht werden. "Das ganz neue argentinische Kino", so kündigte der Katalog den Film an und behielt recht. Denn Farji inszenierte die nach Fakten erzählte und eigentlich niederdrückende Story mit leichter Hand als eine Hymne auf den Sieg des Lebens. Dabei hat die kluge lebenslustige Jüdin Eva alle Mühe, ihre Freundin, mit der sie in einem Kabarett auftritt, mit der bitteren Erkenntnis zu versöhnen, dass ihre Eltern Schwerverbrecher sind. Denn Lola hängt an ihrem vermeintlichen Vater und dem Luxusleben, das er ihr verschafft hat. Eine Mittlerrolle spielt dabei die leibliche Tochter des Obristen, die den Machenschaften früh auf die Spur kam und die Familie aus Eifersucht verlassen hatte. Die aparte Mischung aus tiefem Ernst und einer Situationskomik, die nie geschmacklos wirkt, getränkt von eingängiger Musik, überzeugte das Publikum, das der dankbare Festivalleiter Michael Kötz bei jeder Gelegenheit als "klug und mutig" rühmte.
Gewalt gegen Frauen
Der Frage, wie Frauen mit physischer und psychischer männlicher Gewalt umgehen, nahmen sich gleich mehrere Filme an. In Deux Fois une Femme (Zweimal eine Frau) schickt der Frankokanadier Francois Delisle (Jahrgang 1967) die von ihrem Mann halbtot geschlagene Catherine in ein schwieriges Leben mit neuer Identität, in dem sich vor allem der 13jährige Sohn nicht zurechtfindet. In Planes para Manana (Pläne für morgen) der Spanierin Juana Macias (geboren 1971) kommt die lange zögernde geschlagene Frau, von ihrer 15jährigen Tochter zu einer Entscheidung gedrängt, bei einer Autofahrt im Streit mit dem Mann ums Leben. In Pure, dem ersten Spielfilm der Schwedin Lisa Langyseth (Jahrgang 1975), erweist sich die Liebe der 20jährigen Katarina zur Musik als stärker - sie geht buchstäblich über die Leiche des Dirigenten, der sie nach einem kurzen Abenteuer auf beleidigende Weise abgewimmelt hat, und verfolgt ihr eigenes Ziel. Die Internationale Jury würdigte die "außergewöhnliche schauspielerische Leistung" der jungen Alicia Vikander in diesem sehr kühl und konsequent komponierten Film mit einer lobenden Erwähnung. Im belgischen Film Marieke, Marieke von Sophie Schouken hat der unerwartete Selbstmord des Mannes seine Frau psychisch erstarren lassen. Die verlassene Tochter sucht den geliebten Vater im Sex mit viel älteren Männern und findet erst in der überraschenden Konfrontation mit seinen Spuren zur befreienden Trauerarbeit.
Zur Gewalttat verpflichtet?
Psychologisch viel weniger glaubwürdig geriet dem Briten Marcel Grant in Just Ines hingegen die Bekehrung eines gewalttätigen Mannes in einen fürsorglichen Lover. Sehr subtil zeichnet dafür die als Kind nach Kanada emigrierte Afghanin Nelofar Pazira eine von der Tradition bestimmte Erziehung zur Gewalt. In der Eingangssequenz ihres Film Act of Dishonour (Ein Fall von Unehre) muss ein Junge den Mörder seines Vaters hinrichten. Am Ende soll er als Erwachsener die ihm zugedachte Braut erschießen, die es gewagt hat, bei Dreharbeiten eines im Dorf angereisten kanadischen Filmteams mitzuwirken. Der Vater hat es nicht über sich gebracht, die geliebte Tochter zu töten, wie das Dorfgericht ihn heißt. Obwohl die junge Frau in der Wüste dem Tod ausgeliefert ist (wie ein anderer Festivalbeitrag, der Thriller Kandahar Break über ein Minenräumkommando, des Briten David Whitney bestätigte), wollte die Regisseurin im Filmgespräch ihr Überleben im Schlussbild als "Zeichen der Hoffnung" gewertet wissen. Das von der Internationalen Jury "lobend erwähnte" Werk hinterließ im Hinblick auf die erhoffte demokratisierte Befriedung des Landes jedoch einen eher zwiespältigen Eindruck. Wer den Kriegseinsatz dänischer Soldaten in der Provinz Helmand mitverfolgen konnte, wo die Einwohner von Taliban-Rache bedroht sind, - ungeschönt im Dokumentarfilm Armadillo von Janus Metz (Jahrgang 1976) aufgenommen - kann erst recht nicht an einen positiven Ausgang dieses Zusammenpralls der Welten glauben.
Keinen Krieg, aber einen Einsatz, bei dem gleichfalls Menschen auf der Strecke bleiben, zeigte schließlich das Spielfilmdebüt Win/Win des 1979 geborenen Niederländers Jaap van Heusden. Sein "Held" ist ein überaus erfolgreicher Banker, der miterleben muss, wie sein glückloser koreanischer Kollege den Boden unter den Füßen verliert. Darauf beendet er, physisch längst ausgepowert, seine Karriere mit einem phänomenalen Rundumschlag. Mit diesem eher traumhaften Schluss ist das ein Märchenfilm aus der Finanzwelt, aber zugleich auch ein spannungsreicher Beitrag über menschliche Beziehungen unter den Zwängen des Kapitalismus.
Preise, aber kein Kinoeinsatz?
Win/Win ebenso wie Pure und Planes hat die Jury der Kinobetreiber für die Lichtspieltheater empfohlen. Aber nicht einmal ihre Vorschläge vom Vorjahrsfestival sind - mangels Verleih - dort tatsächlich angekommen. Das gilt auch für die meisten anderen preisgekrönten Filme. Karsten Visarius, Leiter des filmkulturellen Zentrums des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik (GEP Frankfurt/Main) hat dies beim Mannheimer Filmempfang der Kirchen nicht nur im Hinblick auf die Preisträger der ökumenischen Juries beklagt. Wer den Andrang der Festivalbesucher erlebt hat, auch ihr Interesse an den Filmgesprächen bis weit nach Mitternacht, kann das kaum verstehen. Erst recht legt der ungebrochene Erfolg der täglich vorgeschalteten Kindervorstellungen, zu denen Rolf-Rüdiger Hamacher seit über zehn Jahren die Schulen der Umgebung einlädt, die Vermutung nahe, dass hier ein kultureller Schatz noch auf Entdeckung auch in anderen Orten wartet.
Dieses Filmfestival beweist inzwischen im 60. Jahr, wie man ein gutes Programm zusammenstellt - mal mehr, mal weniger überzeugend, je nachdem, was der Filmnachwuchs anzubieten hat. Zudem sollen auch diesmal rund 200 Produzenten, Filmhändler und Filmgeschäftsleute Gast der "Mannheim Meetings" gewesen sein, einer Einrichtung, die unter anderem zur Entstehung des Films Eva und Lola beigetragen hat. - "Zeit für Geschichten" hatte Kötz als Motto ausgegeben. Auch diesmal boten die Filmfestspiele in den beiden badischen Städten ein Fenster zur Welt mit sehenswertem Ausblick.