Geschichte(n) erzählen, um die Zukunft zu gestalten
Der Presiträger der Ökumenischen Jury im Wettbewerb: El botón de nácar (Der Perlmuttknopf)
Wir sind alle eine Familie und für die Opfer wie für die Täter verantwortlich – ein Satz, der die Situation der exilierten Priester in El Club von Pablo Larraín beschreiben könnte, die in einem Haus am Ende der Welt leben, dorthin relegiert von ihrer Kirche. Eine Wohngemeinschaft von Männern, die Babys verkauft und Kinder missbraucht haben – und nun konfrontiert werden mit einem Mann, der Aussprache fordert, und einem Abgesandten der katholischen Kirche, der prüfen soll, ob das Haus nicht geschlossen werden muss. Die Situation eskalkiert, und am Ende lebt das Opfer mit den Tätern, in einer geschlossenen Gesellschaft zusammen – eine Hölle auf Erden?
Zu Beginn des Films wird Genesis 1,4 zitiert: „Und Gott schied das Licht von der Finsternis“. Vielleicht kann nur Gott eine solche Trennung vollbringen, die Menschen müssen damit leben, dass sie ein unentwirrbares Gewebe bleiben und oft genug Opfer und Täter in einem sind.
Doch stammt der Satz nicht aus dem kontrovers und heftig diskutierten El Club, sondern aus dem chilenischen Dokumentarfilm El botón de nacár (Der Perlmuttknopf), der den Hauptpreis der Ökumenischen Jury auf der 65. Berlinale gewann. Anhand des titelgebenden Perlmuttknopfs führt uns der Regisseur Patricio Guzmán hier auf eine Reise durch Chile mit seiner 4500 km langen Küste. Der Legende nach wurde ein Feuerländer, der nach diesem Knopf "Jemmy Button" (Vorbild für Endes "Jim Knopf") genannt wurde, für einen solchen nach England verkauft, im Jahr 1826, und seine Reise führte ihn von der Steinzeit bis ins industrielle Zeitalter, von Patagonien nach London und viele Jahre später auch wieder zurück. Jemmy Button wurde seiner Identität beraubt, viele Patagonier durch die sich ansiedelnden Chilenen ihres Lebens. Ein Völkermord, dem Guzman die zahlreichen Opfer der Militärdiktatur Pinochets in den Jahren 1973-1989 gegenüberstellt. Beschwert mit Eisenbahnschienen, wurden die Körper tausender Folteropfer ins Meer geworfen. Auf der Suche nach Überbleibseln dieser Menschen findet sich auf einer der Schienen wieder ein Perlmuttknopf, alles andere hat sich im Wasser aufgelöst, das ein Gedächtnis hat und dem dieser Film eine Stimme verleiht.
Hat sich alles aufgelöst, wo bleiben die Seelen? Mit einem kosmischen Bild entlässt uns dieser philosophische Film, der im Weltall beginnt und auch dort wieder endet: Ein Quasar voll Wassernebel wurde entdeckt, wie ein riesiger Ozean, in dem die Seelen leben, wie die der ausgerotteten "Wasservölker", die dort mit ihren Booten rudern, möglicherweise.
Vielleicht leben die Toten aber auch als Sterne weiter, wie uns eine alte Feuerländerin erzählt, in ihrer fast ausgestorbenen Sprache, in der es kein Wort für "Gott" gibt.
Von der Vergangenheit erzählen, um die Zukunft zu gestalten – so war das Motto der Panorama-Filmreihe. Hier präsentierte Hal Hartley mit Ned Rifle den dritten Teil seiner Underground- Trilogie über Henry (Henry Fool), Fay (Fay Grim) und ihren Sohn Ned. Er erhielt den Panorama-Preis der Ökumenischen Jury für seine Geschichte über den Titelhelden Ned Rifle, der seine Mutter rächen und den Vater töten will, dies jedoch in ständigem Gespräch mit Gott, als dessen Werkzeug er sich versteht. Doch werden die Geschichten der Menschen im Himmel geschrieben (so lernen wir in dem japanischen Film „Ten No Chasuke“), und auch wenn menschliche Pläne drehbuchverändernd wirken können, gehen die Rachephantasien Neds ganz anders auf als erwartet. Er stellt sich der Vergangenheit und wird sie nicht wiederholen, wird es anders machen – ein hoffnungsvoller Ausgang dieser lakonischen Reflexion über Familienbande, Schuld und Scheitern.
Den Forum-Filmpreis erhielt Histoire de Judas, in dem Rabah Ameur-Zaimeche die Perspektive und die Rolle des Judas einnimmt, der in diesem zeitlosen Historienfilm als bester Freund von Jesus gezeigt wird. Judas nimmt, nachdem Jesus von den römischen Machthabern im besetzten Palästina als Aufständischer hingerichtet wird, dessen Stelle im Grab ein. Die Figur Jesu gehört nicht nur einer Religion, betont der Regisseur; wenn er das für ihn maßgebliche Thema der "Gerechtigkeit" in Jesu Botschaft in der Landschaft Algeriens ansiedelt und die Römer mit Franzosen, die Juden mit Arabern besetzt, wird dies zu einem politischen Statement, das einmal mehr die gesellschaftliche Dimension und Bedeutung der Filmfestspiele zeigt.
Jesus selbst sehen wir am Ende der Histoire seinen Weg weitergehen – und es ist immer wieder sehenswert, welche Variationen dieser „Greatest Story Ever Told“ auch in der Gegenwart entworfen werden, um die Zukunft zu formen.