99 Filme in sechs Tagen - Und immer noch mehr zu entdecken

Festivalbericht von Jurymitglied Matthias Kuhl, Bern
Der Katalog der 60. Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen 2014 vermerkt unter "Trends und Figures" zum Internationalen Wettbewerb: "Die Ökumenische Jury vergibt einen Preis, dotiert mit 1500 Euro. Darüber hinaus spricht die Ökumenische Jury Ankaufsempfehlungen für den internationalen Kinder- und Jugendfilmwettbewerb aus." Damit ist das Filmprogramm der Ökumenischen Jury einigermassen klar umrissen. 
 
99 Filme in sechs Tagen: Neunundneunzig! – So erdrückend wie das zunächst klingt, ist dieses Unterfangen an einem Kurzfilmfestival natürlich nicht, obwohl …
 
Internationaler Wettbewerb
 
In den 61 Filmen des Internationalen Wettbewerbs gab es eine unfassbare, fast unübersichtliche Vielfalt aus 35 Ländern zu sehen: historisch, absurd, (re-) konstruiert, animiert, schwarz-weiss, kritisch, collagenartig, theatralisch, anstrengend, lustig, bedrückend, dokumentarisch, anklagend, rätselhaft, unverständlich, retro, schön, beklemmend – andererseits niemals harmlos, banal oder nur amüsant. Die Filme waren selten narrativ, überwiegend experimentell und oft politisch. Das Programm war wegen der Vielzahl der kulturellen, historischen und politischen Entstehungs- und Bedeutungskontexte insgesamt sehr anspruchsvoll und eher schwer zugänglich.
 
Im Internationalen Wettbewerb wurde – genau wie im Deutschen Wettbewerb – der Anspruch des Oberhausener Manifests von 1962 auch im 60. Jubiläumsjahr des Festivals deutlich: Oberhausen versteht sich als Seismograph politischer und gesellschaftlicher Verschiebungen und Verwerfungen, national wie global, mit kritischem Blick auf internationale Vestrickungen. Auch die im Internationalen Wettbewerb verliehenen Preise bringen diesen Anspruch zum Ausdruck.
 
Der mit 8000 Euro dotierte Grosse Preis der Stadt Oberhausen ging an LA ESTANCIA von Federico Adorno, Paraguay 2014. Der mit 4000 Euro dotierte Hauptpreis ging an GANGSTER BACKSTAGE von Teboho Edkins, Frankreich/Südafrika 2013. Der mit 2500 Euro dotierte ARTE-Preis ging an EPISTROFI STIN ODO AIOLU von Maria Kourkouta, Frankreich/Griechenland 2013.
 
La Estancia
 
Die Ökumenische Jury stellte zwei Filme in den Mittelpunkt, die in eher narrativen Formen zwei grosse Lebenfragen thematisieren. Der Preis der Ökumenischen Jury ging an NEEUKLIDINE GEOMETRIJA (NICHTEUKLIDISCHE GEOMETRIE) von Skirmanta Jakaite und Solveiga Masteikaite, Litauen 2013. Eine Lobende Erwähnung ging an TWO FILMS ABOUT LONELINESS (ZWEI FILME ÜBER EINSAMKEIT) von Christopher Eales und Will Bishop-Stephens, Grossbritannien 2014.
 
Internationaler Kinder- und Jugendwettbewerb
 
Mit dem Internationalen Kinder- und Jugendwettbewerb gab es für die Ökumenische Jury noch eine zweite Blickrichtung. In sieben altersmässig gestaffelten Programmen wurden dort insgesamt 38 Filme präsentiert. Statt vom ruhigen Kreis der Könner, Kenner und Kritiker des Kurzfilms war man in den Vorstellungen des Internationalen Kinder- und Jugendwettbewerbs umgeben von quietschenden Kindergartenkindern, offenherzigen Grundschülerinnen, vorlauten Fünftklässlern oder müde lächelnden Pubertierendenhorden. Die Kinder und Jugendlichen genossen dabei sichtlich ihre schulfreie Doppelstunde und liessen den altersgerecht ausgewählten und moderierten Filmen ein erfrischend unmittelbares und klares Feedback zukommen.
 
Die Kinderjury vergab zwei mit je 1000 Euro dotierte Preise an FATIMA, Naima Mohamud, Finnland 2013 und ALLES MAG (ERLAUBT IST, WAS GEFÄLLT), Stephan Wouterlood, Niederlande 2014. Die Jugendjury vergab einen mit 1000 Euro dotierten Preis an JAMEY'S GEVECHT (JAMEYS KAMPF), Denise Janzée, Niederlande 2013.
 
Fatima
 
Die Ökumenische Jury stellte erfreut fest, dass das Angebot von Filmen für die (u.a. kirchliche) Bildungsarbeit für alle Altersgruppen quantitativ wie qualitativ sehr gut ist. Es wäre leicht möglich, aus dem diesjährigen Oberhausener Festivalprogramm zahlreiche Filme mit einer Ankaufsempfehlung auszuzeichnen. Die Ankaufsempfehlung der Ökumenischen Jury erhielt schliesslich der Film VLOEIBAAR STAAL (STÄHLERNE TAGE) von Flynn von Kleist, Niederland 2013, mit der Begründung: "In der tristen Umgebung eines Stahlwerkes kümmert sich Franka sehr um ihren Vater und den Haushalt. Als sie einen jungen Mann kennen lernt, beginnt die Siebzehnjährige, dieses Leben in Frage zu stellen. Auf einfühlsame Weise stellt STÄHLERNE TAGE die bedrückenden Lebensumstände und die Abhängigkeit der jungen Frau dar. Ebenso gelingt es dem Film mit beeindruckenden Bildern, Frankas Wunsch nach Freiheit und einem selbst bestimmten Leben zu vermitteln."
 
 
Ehrenpreis an Lars Henrik Gass
 
Im Rahmen der Preisverleihung sorgte die Ökumenische Jury schliesslich noch für eine kleine Überraschung: Anlässlich des 60. Jubiläums hob die Jury das Engagement des langjährigen Festivalleiters Lars Henrik Gass für den Kurzfilm sowie die Filmkunst im Allgemeinen hervor, sie würdigte seine enormen Verdienste für die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen und überreichte ihm den Ehrenpreis der Ökumenischen Jury. In seiner Dankesrede würdigte der sichtlich bewegte Festivalleiter die Arbeit der Ökumenischen Jury und der kirchlichen Filmorganisationen. In der langjährigen Zusammenarbeit mit den Kurzfilmtagen habe er immer wieder beobachtet, dass die Ökumenischen Jurys "politische und mutige Preise" verliehen.
 
99 Filme in sechs Tagen: Neunundneunzig! – Als ich zu Hause den Festivalkatalog durchsehe, muss ich erkennen, dass meine 99 Filme nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Oberhausener Gesamtprogramm waren. Es wäre noch viel mehr zu sehen gewesen, nämlich zusätzlich weitere 323 Filme: Verpasst habe ich den Deutschen Wettbewerb, den Nordrhein-Westfalen-Wettbewerb, den Musikvideo-Wettbewerb, das überraschende wie innovative Programm "Film without Film", dazu die "Profile" zu vier Regisseuren, vier "Archive"-Programme, ausserdem die "Open Screenings", die "Preisträger anderer Festivals", das Programm "Short Matters", alle "Emerging Artists", die Auswahl "Aus dem Archiv der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen" und alle "Market Screenings". Schliesslich war ich bei keinem einzigen Podium dabei.
 
Oberhausen ist unmöglich. Nächstes Jahr wieder!