Kino für Blinde und die Frage nach der Verantwortung
Kino für Blinde – gibt’s nicht. Gibt’s doch: Beim 4. Kirchlichen Filmfestival Recklinghausen unter dem Leitwort „welten-bilder / bilder-welten“ im Cineworld-Theater erlebte das Publikum von Sehenden und Sehbehinderten gemeinsam eine Premiere in Inklusion, nämlich den Episodenfilm „Auf den zweiten Blick“ von Sheri Hagen in einer Fassung mit Audiodeskription. Dabei wird das Bild von einer Stimme begleitet, die zusätzlich zum gewohnten Ton alles erklärt, was Sehbehinderte nur noch schwach oder gar nicht wahrnehmen können: die Umgebung der Personen, ihre Mimik, ihre Kleidung. Für Sehende ist das gewöhnungsbedürftig, zumal der Kommentar häufig schon ein, zwei Sekunden vor dem nächsten Bild einsetzt. Für eine zielgruppen-orientierte Vorführung mag sich das Verfahren eignen, zumal es mehr als ein reines Hörspiel bietet. Beim üblichen Kinobesuch sollte den eher wenigen Sehbehinderten ein Kopfhörer zur Verfügung gestellt werden. Beim Festival reagierten die Zuschauer unterschiedlich. Sie habe die Augen geschlossen, bekannte eine Frau und eine andere, sie habe als Nichtbehinderte auf diese Weise mehr wahrgenommen.
„Auf den zweiten Blick“ macht die Autorin Sheri Hagen in ihrem selbst produzierten Spielfilm (dem ersten nach ihrem Kinderfilm „Stella und die Störche“) auf die Alltagsprobleme von Menschen aufmerksam, die ganz verschieden mit ihrer mehr oder minder schweren Sehbehinderung umgehen, von der fatalen Leugnung oder der fatalistischen Annahme ihres Schicksals bis zum fantasievollen Versuch, gemeinsam das Beste daraus zu machen. Der Recklinghäuser Propst Jürgen Quante überreichte der Filmemacherin, - auch stellvertretend für ihr engagiertes Team, das ohne Gage mitgewirkt hatte, - den Festivalpreis, den dieses Jahr das Bistum Münster mit 2000 Euro ausgestattet hatte. In seiner Laudatio rühmte er die gute Umsetzung der Botschaft „Du brauchst den Anderen“. (Kinostart am 10.Oktober 2013.)
Menschen im Spannungsfeld
Die Entscheidung hatte der ökumenische Arbeitskreis „Kirche & Kino“ des örtlichen Kirchenkreises und Kreisdekanats getroffen, unterstützt vom Institut für Kino und Filmkultur e.V. (IKF) in Wiesbaden, dessen Vertreter Horst Walther und Michael M. Kleinschmidt für die künstlerische Leitung des Programms verantwortlich sind. Mit der Auswahl wurden an drei Tagen elf Spiel- und Dokumentarfilme vorgestellt und öffentlich diskutiert, die sich „engagiert und künstlerisch überzeugend mit dem Menschen im Spannungsfeld von Arbeitswelten, Kulturen und Religionen auseinandersetzen“, so das Programm. Über 1800 Besucher waren dazu bereit.
Als Glücksfall erwies sich dabei der Film „On the Inside – Der Tod kennt keine Namen“ von Uwe Janson. Denn er präsentierte die in Deutschland aufgewachsene, gebürtige Nigerianerin Sheri Hagen erneut und zwar diesmal als herausragende Darstellerin. Als Überlebende eines Massakers im Kongo nimmt sie in einem Berliner Hotel den als Minister angereisten Verantwortlichen als Geisel und zwingt den Hotelmanager, Zeuge ihrer privaten Gerichtsverhandlung zu sein. Als dabei erneut die Stammeskonflikte aufbrechen, erschießt sie den hasserfüllten Bodyguard des Ministers. Schließlich wird auch der ahnungslose halbwüchsige Sohn des Ministers mit den Verbrechen seines Vaters konfrontiert. In diesem klaustrophobischen Kammerspiel über Verantwortung sieht sich der Betrachter in der Rolle des Deutschen, der nicht weiß, wem er glauben und wie er sich verhalten soll. -
Wider Willen in ein fremdes Schicksal hineingezogen wird auch ein französischer Bademeister in Calais, der in „Welcome“, einem Film von Philippe Lioret, an einen jungen kurdischen Flüchtling gerät, der vergeblich versucht hat, zu seiner geliebten Freundin nach England zu gelangen und nun den Ärmelkanal durchschwimmen will. Dabei gerät der brave Bürger in schwere Konflikte mit den eigenen Behörden. Die Vorführung des Werkes (Film des Monats 2/2010 der Ev. Filmjury) im traditionellen Nachgang zum Weltgebetstag der Frauen entwickelte sich anschließend zur lebhaften Fragestunde mit erfahrenen Flüchtlingsbetreuerinnen, „die viele solcher Schicksale genau so erlebt“ haben und um Unterstützung baten. Ein Teil des Eintrittsgeldes ging als Spende an WGT-Projekte.
Die Frage nach der Wahrheit
„Informiert Euch – seid nicht blind, schaut nicht weg!“ lautete der Appell. Die Frage nach der Verantwortung jedes Einzelnen stellten nahezu alle gezeigten Filme. Auch in „Fünf Jahre Leben“ des Münchners Stefan Schaller über das Schicksal des Deutsch-Türken Murat Kurnaz im berüchtigten US-Gefangenenlager Guantanamo wird dabei immer auch nach der „Wahrheit“ gefragt. Der dokumentarhaft nachgespielte Beitrag, der dieses Jahr beim Filmfestival von Saarbrücken den INTERFILM-Preis erhalten hat, soll am 23. Mai 2013 vollsynchronisiert mit der Stimme von Kurnaz in die Kinos kommen. Dass der 31jährige Regisseur sich wie auch andere junge Kollegen dem intensiven Gespräch mit dem bemerkenswert aufgeschlossenen Publikum stellte, gehörte zu den Pluspunkten dieses kleinen Festivals. Die Fragen bezogen sich auf die Dreharbeiten, die Begegnungen mit Kurnaz und auf die Auseinandersetzung mit Terror-Angst und den Grenzen des Rechtstaats. – Vom viel zu langen Wegsehen und Schweigen handelt auch der Film „Hannah Arendt“ von Margarethe von Trotta (Film des Monats 1/2013), den die Produzentin Bettina Brokemper mitgebracht hatte. So groß war der Zuschauer-Andrang, dass Cineworld-Leiter Kai-Uwe Theveßen den größten der sieben Säle fast zweimal hätte füllen können. Er will im April weitere Vorstellungen ansetzen. Der Mut, mit dem die streitbare Philosophin auch über die heiklen Aspekte des Eichmann-Prozesses in Jerusalem berichtete und kompromisslos eigenverantwortliches Denken einforderte, wirkt in der einfühlsamen Darstellung von Barbara Sukowa durchaus aktuell.
Zum Nachdenken boten aber auch die „kleineren“ Filme reichlich Stoff. Der Eröffnungsbeitrag „Abseitsfalle“ von Stefan Hering (Regie) und Beatrice Meier (Drehbuch) veranschaulicht die Wechselbäder, durch die eine junge Ingenieurin stolpert, die in ihrer Firma, einem Waschmaschinenhersteller im Ruhrgebiet, den Arbeitsplatz-Abbau von 400 Kollegen und Kolleginnen abwickeln soll. Der Betriebsratsvorsitzende der Bochumer Opel-Werke bescheinigte dem Sozialdrama, das der Konzernhärte und dem Karrierestreben Einzelner die menschlichen Tragödien der Betroffenen gegenüberstellt, genaue Beobachtung und Authentizität (Kinostart noch offen). Auf eher satirische Weise geht Konstantin Faigle das Thema „Frohes Schaffen – Ein Film zur Senkung der Arbeitsmoral“ an. Der Dokumentarfilm, der am 2. Mai in die Kinos kommen soll, hinterfragt die Arbeit als „geheime Religion des Menschen“ und führt sie in humoristisch aufgepeppten Szenen ad absurdum – von der Machart her ist das eigentlich eher etwas fürs Fernsehen und gewiss besser als Talkrunden.
Risikoreich: Filme über Kinder
Das wichtige Thema der Suche nach der eigenen Identität hat dagegen der Filmerstling von Carsten Unger, „Bastard – Faustrecht der Kindheit“, verspielt. Da kidnappt ein 13jähriger als Adoptivkind aus der Babyklappe seinen Halbbruder, um ihn noch vor der eigenen Strafmündigkeit zu ermorden und sich damit an seiner leiblichen Mutter zu rächen, und eine verliebte Klassenkameradin will dabei zuschauen. Die Polizei erfährt durch ein Handy-Video davon, kann den Verschleppten aber nicht finden. Diese unglaubhafte Gruselstory über kaltherzige bzw. alkoholkranke Eltern und ungeliebte Kinder ist auf über zwei Stunden in (schlechter) „Tatort“-Manier ausgewalzt. Dass das Werk dennoch diverse Auszeichnungen wie den Baden-Württemberg-Filmpreis errungen hat, verdankt es wohl der für ein Debüt erstaunlich sicheren Gestaltung des Plots und namhaften Schauspielern wie Martina Gedeck, Hanns Zischler und anderen (Kinostart am 18. April 2013). Da hatte diesmal der Kinderfilm „Tony 10“ von Mischa Kamp trotz seiner märchenhaften Szenen mehr Realitätsbezug. Selbst mit fantasievollen Anstrengungen kann der zehnjährige Tony die Trennung seiner zerstrittenen Eltern nicht verhindern, aber eine Freundin, selbst Scheidungskind, hilft ihm, sie positiv zu verarbeiten. Das gefiel dem jungen Publikum sichtlich - die verlogenen HappyEnd-Filme hängen den Kindern wahrscheinlich längst zum Hals heraus. „Tony 10“ bekam dafür den Kinderfilmpreis, den die Stadt und der katholische Kirchenkreis alljährlich vergeben. Nächstes Mal soll erstmals eine eigene Kinderjury dafür die Auswahl treffen. Diesmal hat sie ihn nur kritisch begutachtet und zustimmend kommentiert.
Zum Schluss sei noch der einzige dezidiert religiöse Film erwähnt, der die Zuschauer nachhaltig beschäftigte: „Mandala“. Christoph Hübner und Gabriele Voss haben anlässlich der Ruhrtriennale 2011 zehn Tage lang mit der Kamera sechs buddhistischen Mönchen zugeschaut, die in einer Industriehalle mit Steinstaub aus dem Himalaya ein fünf mal fünf Meter großes, kreisrundes und farbenfrohes Gebilde ausstreuten. Das meditativ nach uralter Tradition sonst nur in Klöstern geschaffene religiöse Kunstwerk ist üblicherweise nicht öffentlich zu sehen. Nach der Fertigstellung wird es zerstört, so auch hier, und der Sand wie die Asche aus einer Urne in die Emscher gestreut. Der Schock regt zum Nachdenken an über die Vergänglichkeit des Lebens, der auch das Wunderwerk des menschlichen Körpers nicht entgeht. Das Publikum empfand den Vorgang als fremdartig und fühlte sich dennoch angesprochen. Dass das Filmemacher-Paar auf „Kulturfilm“-Erläuterungen verzichtete und in großer Ruhe Raum zum Miterleben ließ, wurde dankbar anerkannt.
Nicht selbstverständlich: ein Kinofest der Ökumene
Das Recklinghäuser Publikumsfilmfestival, - eine eher bescheidene Einrichtung neben den etablierten großen Filmfestspielen, aber in seiner Ausrichtung einzigartig in Deutschland, - ist ein Ereignis, und das nicht nur für die Einheimischen und die aus der Umgebung Angereisten. Es ist auch ein Fest der Ökumene. Wo finden sonst so unterschiedliche Schirmherren wie die Evangelische Landeskirche von Westfalen, das Bistum Münster und die Stadt Recklinghausen zusammen? Mit seinen Partnern sei er „zutiefst überzeugt vom Wirken des Festivals“, versicherte Bürgermeister Wolfgang Pantförder. Wo sonst überbringt an einem Kinoabend ein Weihbischof die Grüße seines Bischofs, und an einem anderen rühmt eine Superintendentin den Dialog, der für „beide Seiten bereichernd und fruchtbar„ sei? Wer wie die Autorin dieses Beitrags in den 50er und 60er Jahren die Berührungsängste zwischen den Konfessionen und die geradezu panische Angst vor religiöser Überfremdung miterlebt hat, empfindet das heute geschwisterliche Miteinander in der Heimatstadt als ein Wunder wie nach dem Mauerfall. Das gilt aber auch fürs Kino. Da wirkt unter den Festival-Initiatoren mit Thomas Damm ein junger evangelischer Pfarrer mit, der jeden Monat in seiner Marler Gemeinde einen Filmabend mit Diskussion veranstaltet. Die Deutsche Bischofskonferenz und das Evangelische Erwachsenenbildungswerk engagieren sich. Da leisten neben Förderern und Sponsoren Filmzeitschriften wie der katholische FILMDIENST und der evangelische EPD-Film Hilfestellung als Medienpartner. Und ein Landeskirchenrat rühmt öffentlich einen Vikar, der seine Examenspredigt wie ein Drehbuch aufgezogen hat, getreu der Bibel, die ja auch Szenen auszumalen pflege.
Kaum bekannt ist noch, dass es bereits nach dem Krieg – allerdings weitgehend unbeachtet von den Kirchen – vor Ort ein ungewöhnliches Interesse an Kinofilmen gab. Der Recklinghäuser Filmclub zog unter seiner Leiterin Dr. Eva M.J. Schmid schon damals Regisseure als Gäste an und bildete Filmkritikernachwuchs aus. Heute sind es junge Filmemacher, die dem Festival ihre neuesten Arbeiten anbieten, weil sie das aufnahmebereite Publikum schätzen. Und nachdem die kleineren Lichtspielhäuser von einst aufgeben mussten, übernimmt das Cineworld - anders als die Multiplex-Kollegen an anderen Orten – bereitwillig das Risiko, auch Filme zu zeigen, die nicht von vornherein gute Kasse versprechen. Kirche und Kino – hier sind sie eine zukunftsträchtige Verbindung eingegangen.