Hohes Niveau der Nachwuchsfilme
Ein echter Nachwuchsfilm hat beim 39. Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken drei wichtige Preise gewonnen. Die Ökumenische Jury vergab ihren Preis für den ungewöhnlichen Heimatfilm aus Süddeutschland mit der Begründung: „Die Menschen sind verschieden. Anpassung ist nötig. 'An Dich oder an mich?' - Ein dynamischer Rhythmus und viel Humor schaffen ein liebevolles Kaleidoskop aller nur möglichen Gegensätze, Stadt und Land, Mann und Frau, Alt und Jung, Tradition und Moderne, Einheimische und Fremde, Konvention und Mut, vielfältige Formen der Liebe – und all das in Bubenhausen! 'Heimat ist da, wo Du Dich selbst findest', sagt uns Lisa Miller in 'Landrauschen'.“
Wie seit Jahrzehnten bei internationalen Filmfestivals bewertet seit vier Jahren auch bei dem Wettbewerb für den deutschsprachigen Nachwuchsfilm in Saarbrücken eine ökumenische Jury die 16 Beiträge in der Kategorie Spielfilm. Koordiniert von der internationalen kirchlichen Filmorganisation INTERFILM (Bern) und der internationalen katholischen Vereinigung für Kommunikation SIGNIS (Brüssel) hat die international besetzte Ökumenische Jury den von den beiden Landesarbeitsgemeinschaften der Katholischen und Evangelischen Erwachsenenbildung im Saarland mit 2.500 Euro dotierten Preis vergeben. Als Auswahlkriterium galt unter anderem, ob es dem Film mit künstlerischen Mitteln gelingt, die Zuschauer für spirituelle, menschliche oder soziale Fragen und Werte zu sensibilisieren.
Bei der Preisverleihung freute sich die 31-jährige Regisseurin Lisa Miller ganz besonders über den Preis der kirchlichen Jury, weil dies bedeute, dass es Christen gebe, die tolerant seien, wie sie sagte. Da wusste sie allerdings auch noch nicht, dass sie außerdem noch die Preise für den besten Spielfilm und die beste Regie gewinnen sollte.
Insgesamt gewann der Film über 50.000 Euro Preisgeld – mehr, als er gekostet hatte. Lisa Miller finanzierte die Produktion über private Spenden ohne öffentliche Mittel Sie drehte in Ihrem Heimatort überwiegend mit Laiendarstellern. Daran mag es liegen, dass die Charaktere ein wenig unfertig und die Geschichte nicht ganz „geschliffen“ wirken, aber die Handlung und die Dialoge sind witzig. Wenn gelacht und gekichert wird, ist das echt. Und der Umgang der Dorfbevölkerung mit einem lesbischen Paar wirkt niemals gekünstelt, sondern glaubwürdig. Der Film geht zwar ins Gericht mit kleinkarierten Denkmustern, Ressentiments und reaktionärem Verhalten, aber er schildert die dörfliche Welt „con amore“, er macht Spaß und regt dazu an, eigene Gewohnheiten und Verhaltensweisen zu reflektieren. Wenn man so will: ein dekonstruktivistischer Heimatfilm.
Ähnlich erfolgreich ging die österreichische Produktion „Cops“ von Stefan A. Lukacs aus dem Wettbewerb hervor: Dafür vergab die Spielfilmjury den Preis für den gesellschaftlich relevanten Film, und für das Publikum, das mit Stimmkarten selber Punkte vergeben konnte, war es der beste Film des Wettbewerbs. Er handelt von einem jungen Mann in einer Spezialeinheit der Wiener Polizei. Es ist ein Männerfilm. Umso bemerkenswerter ist, dass Anna Suk den Preis für die beste Nebenrolle erhielt. Hauptthema des Films ist Loyalität: im Verhältnis des einzelnen zum Team, des Vaters zum Sohn, des Freundes zur Freundin und der Polizei zum Rechtsstaat.
Indessen sind zwei der stärksten Filme des Wettbewerbs völlig leer ausgegangen – zu Unrecht, denn sie hätten Preise verdient. Beide sind im besten Sinne zeitgenössisch. Sie haben mit unserer an Effizienz und ökonomischer Verwertbarkeit orientierten Leistungsgesellschaft zu tun. Der vielleicht eindringlichste und zugleich einer der komischsten Filme war "Reise nach Jerusalem". Lucia Chiarla drehte ihn mit ganz wenig Geld in Berlin und sorgte damit für Urbanität in einem Wettbewerb, der ansonsten viel Wald und Landschaft und mehr private Räume als den öffentlichen Raum in Szene setzte. Der Film zeigt glaubhaft, wie eine nicht mehr ganz junge Frau versucht, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und mehrfach scheitert.
Das Kinderspiel „Reise nach Jerusalem“ ist die durchgängige Metapher; bis zum Ende scheint für die Protagonistin (in allen Phasen glaubhaft: Eva Löbau) kein Platz in der Gesellschaft frei zu sein. Der Film zeigt, dass selbst gut ausgebildete, interessierte, aufgeschlossene anpassungsfähige Menschen es heutzutage schwer haben können, Fuß zu fassen. Er entlarvt die euphemistische Rede von Ich-AG und Freelancer-Organisation als bloße Schönfärberei für in Wahrheit prekäre Arbeitsverhältnisse. Trotz aller schlechter Erfahrung, schonungslos gezeigter fortschreitender Verarmung und erheblicher persönlicher Verunsicherung vermitteln die Regisseurin und Hauptdarstellerin mit einer sympathischen Naivität und Lebensfreude – und nicht zuletzt mit Mitteln der Komödie - eine Ahnung davon, was es heißt, seine Würde zu behaupten. „Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“, um es mit Albert Camus zu sagen.
Zu den herausragenden, auch den besonders gut fotografierten Filmen, die in einem wirklich starken Wettbewerb ohne Prämie blieben, gehört außerdem „1000 Arten, Regen zu beschreiben“ von Isa Prahl. Der Film zeigt exemplarisch am Beispiel eines 18-Jährigen und seiner Familie Rollen- und Leistungserwartungen sowie Hilf- und Ratlosigkeit in unserer Zeit. Der junge Mann verweigert jeden Kontakt zu den Menschen, die sich vergeblich um einen Zugang zu ihm bemühen. Seine Stubentür bleibt verschlossen. Mit Wut und Verzweiflung reagieren die Angehörigen. Vater, Mutter und Tochter kaschieren zunächst die blöde Situation mit Lügen nach außen, suchen sich dann Ersatz für den Kontakt zu dem ja doch geliebten Menschen, der allem Anschein nach nichts mehr mit ihnen zu tun haben will. Sein Fenster zur Welt ist das Internet, symbolisch zum Ausdruck gebracht in den 1000 Arten, Regen zu beschreiben. Was für viele abstrus wirken mag: In Japan heißt das Phänomen, um das es in "1000 Arten, Regen zu beschreiben" geht, „Hikikomori“. Es bezeichnet die Tatsache, dass sich Jugendliche konsequent in ihr Zimmer zurückziehen und sich von der Umwelt abkapseln. Wie es heißt, gelten inzwischen Hunderttausende in Japan als sogenannte Hikikomori-Jugendliche.
Zu den stärksten Wettbewerbsbeiträgen zählten die voneinander unabhängigen Filme des Ehepaars Lisa Brühlmann und Dominik Locher aus der Schweiz. In beiden geht es um Metamorphosen. „Blue my Mind“ von Lisa Brühlmann ist das einfühlsame Porträt eines Teenagers, der sich anders als seine Altersgenossinnen entwickelt. Die körperlichen Veränderungen des Mädchens nehmen fantastische Formen an. Der Regisseurin und der Hauptdarstellerin gelingen spannend und sehenswert die Gratwanderung über die drohenden Tiefen von Absurdität und Effekthascherei. Interessant sind die auf vielfältige Weise in Szene gesetzten Versuche, so etwas wie Pausen in der doch unaufhaltsamen Entwicklung zu machen. Für diesen Film sprach die Spielfilmjury der Regisseurin Lisa Brühlmann den Preis der saarländischen Ministerpräsidentin für die beste Regie zu.
Der zweifellos ebenfalls preiswürdige, jedoch in Saarbrücken nicht prämierte Film „Goliath“ von Dominik Locher führt am Beispiel eines jungen Paares vor, welche verheerenden Wirkungen Rollenerwartungen und Selbstoptimierungsbemühungen haben können. Es ist emotional höchst kompliziert, wenn der werdende Vater (klasse: Sven Schelker) meint, seine Liebste (ebenfalls sehr überzeugend: Jasna Fritzi Bauer) werfe ihm vor, sie und sich nicht gegen einen Angriff gewalttätiger junger Leute geschützt zu haben. Ihre Beteuerungen, dass dies nicht der Fall sei, überzeugen ihn nicht. Aus David wird Goliath; er will sich in Zukunft wehren können, trainiert seine Kraft, nimmt Anabolika. Mit seinem Körper verändert sich sein Wesen. Ungeduld, Jähzorn, Gewaltbereitschaft nehmen quasi Gestalt an. Als er sein Baby entführt, befürchtet der Zuschauer das Schlimmste. Aber „Goliath“ ist zärtlich und vernünftig…
Die in Saarbrücken, an der saarländisch-lothringischen Grenze, mit Schülern aus deutschen und französischen Schulen besetzte Jugendjury vergab ihren Preis für „Draußen in meinem Kopf“. Der Film von Eibe Maleen Krebs ist ein verdichtetes Kammerspiel um Nähe und Distanz, Ablehnung und Freundschaft. Ein gelähmter junger Mann und sein Betreuer im Freiwilligen Sozialen Jahr kabbeln sich mit Sarkasmus einerseits und gutgemeinten Plattitüden andererseits, entdecken aber Gemeinsamkeiten und werden Verbündete. Die Story ist mitunter etwas zu voraussehbar, aber nicht peinlich; die schauspielerischen Leistungen von Samuel Koch (der seit seinem Unfall bei „Wetten, dass...?“ querschnittsgelähmt ist) und des jungen Samuel Hohenhövel machen den Film sehenswert.
Loane Balthasar erhielt den Preis für die beste Schauspielnachwuchs-Hauptrolle in der Schweizer Produktion „Sarah spielt einen Werwolf“. Dieser Film von Katharina Wyss zeigt auf eine sehr einfühlsame, aber auch kunstvolle Art und Weise die Versuche einer 17-jährigen, im realen Leben und auf der Bühne Fuß zu fassen. Das Thema „Sexueller Missbrauch“ wird mit höchster Sensibilität ins Bild gesetzt, unerwartete Handlungen werden zum Probierstein für alle Beteiligten, und der Film zeigt, wie eng Vertrauen in die Mitwelt und Zutrauen zu sich selbst zusammenhängen.
Der deutsch-schweizerische Film „Vakuum“ von Christine Repond lebt von den schauspielerischen Leistungen von Barbara Auer und Robert Hunger Bühler. Es geht um eine HIV-Infektion – völlig unerwartet, „aus dem Nichts“ sozusagen. Von einem zum anderen Moment ist in der Familie alles anders, Der Film räumt auf mit dem Klischee, dass AIDS nur etwas von Homosexuellen und Fixern wäre. Er plädiert intellektuell und emotional zugleich für unaufgeregte Sachlichkeit und liebende Solidarität.
Die Programmmacher um die Festivalleitung Svenja Böttger und den Programmleiter Oliver Baumgarten haben in dem Wettbewerb der 16 Spielfilme eine erstaunliche Vielfalt platziert. Wie ein Western wirkt der in vielfacher Hinsicht interessante Beitrag aus dem Nachbarland Luxemburg, „Gutland“ von Govinda Van Maele. Als „Lonesome Cowboy“, der mit seiner zunächst unsichtbaren Bande Geld erbeutet hat, landet der Protagonist (Frederick Lau) in einem luxemburgischen Dorf. Er trifft auf schöne Frauen – besonders Vicky Krieps (die gerade in Hollywood reüssiert) – schräge Typen und üble ehemalige Kumpane. Die Geschichte ist spannend erzählt, die Schauspieler sind authentisch, das Luxemburger Landleben wirkt mal befremdlich, mal vertraut – ein Sittengemälde, wo alles seinen Platz zu haben scheint, doch gelegentlich trügt auch der Schein.
Ein echter Genre-Film ist „Jenseits des Spiegels“ von Nils Loof. Der Film ist mysteriös, mitreißend, wohl dosiert erschreckend, er entwickelt Hochspannung und kann sie halten. Das Innere eines Bauernhofes und die düstere sumpfig-gruselige, gleichwohl schöne Umgebung eines Teichs bilden die Schauplätze für eine konsequent entwickelte Geschichte voller Rätsel und merkwürdiger Begebenheiten. Der Film folgt einer genretypischen Logik und erfüllt die Zuschauererwartungen, paradoxerweise gerade dann, wenn sie durchbrochen werden - höchst effekt- und spannungsreich.
Ähnlich mysteriös, aber viel langsamer, geradezu elegisch inszeniert ist die deutsch-österreichische Produktion „Hagazussa“ von Lukas Feigelfeld. Der Titel bedeutet „Hexe“ im Sinne von, „die auf der Grenze sitzt“ – wobei die Grenze zwischen Realität und Fantasie, Diesseits und Jenseits liegt. Es ist eine düstere, in Kapitel gegliederte Geschichte aus dem späten Mittelalter oder eher der frühen Neuzeit. Rationalität und Technik haben sich noch nicht gegen Animismus und mystische Mutmaßung durchgesetzt. Eine kalte, feindliche Welt, in der Wärme gesucht, aber nur als Surrogat gefunden wird. Der Film konstituiert sich in stimmigen Bildern, von buchstäblich einstimmiger Musik untermalt, grandiosen Landschaftsaufnahmen inklusive ästhetisiertem Schrecken und barocken Vanitas-Motiven.
Noch deutlicher als Episodenfilm angelegt ist „Just Drifting Along“ von Jan Freers. Die Verknüpfung der einzelnen Kapitel gelingt zwar nicht so virtuos, wie im „Reigen“ des Festivalpaten Max Ophüls, aber nicht ohne Raffinement. Die schrulligen Figuren sind überzeichnet wie im Comic, Pulp Fiction auf hanseatische Art sozusagen: lustig bis hin zur Groteske. In Episoden hat auch der Österreicher Sebastian Brauneis seinen Film „Zauberer“ angelegt. Es ist ein Panoptikum von Großstadtsituationen. Der Zuschauer tappt weithin orientierungslos, blind wie eine der Figuren, durch die Szenerie, sucht Verbindungen, meist vergebens, bekommt aber allmählich eine Ahnung von einem Zusammenhang. Letztlich entzieht sich der Film jedoch einer eindeutigen Festlegung: Absurdes Theater in der Tradition eines Eugène Ionesco oder Samuel Beckett.
Auch absurd, allerdings eher als grotesker Spaß angelegt, ist „Axel der Held“ von Hendrik Hölzemann. Dieser Film kombiniert Indianer-, Frauen-, Abenteurer- und Tierschützerklischees in Karl-May- und Playboy-Manier in einem pittoresken Spiel von überbordender Fantasie. In der Wirkung ist das Publikum merklich gespalten in Spaß und Ablehnung.
Am deutlichsten aus dem Spielfilmrahmen in diesem Wettbewerb fiel „Angst (Love Will Keep us Safe from Death)“ von Vladislav Yö. Es ist ein ambitionierter Kunstfilm, angelegt zwischen deutschem Expressionismus und New Wave: zitatenreich, artifiziell, stylish. Faszinierend und rätselhaft wie Greta Garbo. Ein Film für Vernissagen und hippe Parties.
Als bester Dokumentarfilm wurde „Global Family“ von Andreas Köhler (der auch bei „1000 Arten, Regen zu beschreiben“ die Kamera führte) und Melanie Andernach ausgezeichnet. Eine sehr gute Prämierung! Der Film ist ganz nah bei den Menschen, zeigt ohne jeden Kommentar die Realität einer über die ganze Welt verstreute Familie aus Somalia. Die alte Mutter lebt seit der Flucht vorm Bürgerkrieg in mehr als ärmlichen Verhältnissen in Äthiopien. Während ihr Sohn sie nach Deutschland holen möchte, setzt sie ihre Hoffnung darauf, dass ihre 17-jährige Enkelin sie versorgt, die selbst für sich ganz andere Wünsche hat.
Der Preis für die beste Musik in einem Dokumentarfilm ging an „Germania“ bzw. den Komponisten Matthias Lindermayr. Als bester mittellanger Film wurde „Bester Mann“ von Florian Forsch ausgezeichnet; den Publikumspreis in dieser Kategorie erhielt „Endling“ von Axel Schaad. Den Preis für den besten Kurzfilm erhielt Christoph M. Saber für „Sakrilège“. Das Publikum entschied sich für den Kurzfilm mit dem längsten Titel: „Entschuldigung, ich suche den Tischtennisraum und meine Freundin“ von Bernhard Wenger.
Die Bilanz des 39. Filmfestivals Max Ophüls Preis ist überaus positiv, wie die Festivalleitung mitteilt: „Insgesamt wurden 36.066 (2017: 35.130) Kinotickets ausgegeben. Die Auslastung der Säle stieg bei gleichbleibender Gesamtkapazität an Plätzen auf 80 Prozent (2017: 77,6 Prozent). Preisverleihung und Filmparty waren mit ca. 1.500 Fans gut besucht. Die Zahl der Fachbesucher blieb mit 1.200 Akkreditierten konstant. Das Branchenprogramm MOP-Industry mit seinen Panels, dem Speed Dating und den MOP-Meetings erfreute sich großer Beliebtheit mit insgesamt rund 810 (2017: 660) BesucherInnen. Insgesamt mehr als 5.000 Gäste (2017: 4.500) feierten an vier Tagen im Festivalclub Lolas Bistro.“
Siehe:
http://www.max-ophuels-preis.de/