Die Berlinale 2003 – von Karsten Visarius

In einem Interview zur Eröffnung des Festivals nannte Festivalleiter Dieter Kosslick die Berlinale einen „audiovisuellen Kirchentag“. Man muss Kosslick danach nicht gleich zum heimlichen Mitstreiter der kirchlichen Filmarbeit ernennen. Dennoch verweist seine Analogie zwischen dem wichtigsten filmkulturellen Ereignis in Deutschland und dem dieses Jahr ebenfalls in Berlin stattfindenden, erstmals ökumenischen Kirchentreffen auf ein auch für das kirchliche Filmengagement gültiges Verständnis, für das sich Film und Kino nicht in Entertainment und Geschäft erschöpfen. Vielmehr ermöglicht der Film, ganz dem Festivalmotto „Towards Tolerance“ entsprechend, eine Wahrnehmung der Welt unter unterschiedlichsten Perspektiven und einen vielstimmigen Dialog von Menschen mit jeweils spezifischen historischen, politischen und kulturellen Prägungen. Dabei spiegeln die Geschichten des Kinos nicht vor, dass Verständigung billig zu haben wäre, auch wenn sie den Fantasieräumen der Illusion entstammen. 

Still aus "Gangs of New York"
Der Abschlussfilm des Festivals, Martin Scorseses >Gangs of New York< (Bild links), entwirft vielmehr das Bild einer fortwährenden Gewaltspirale, die ein zur Vergebung unfähiges Menschengeschlecht seit Jahrhunderten hervorbringt. Der Zuschauer dieses barbarischen Infernos, das Scorsese anhand der ethnischen Bandenkämpfe in New York Mitte des 19. Jahrhunderts entwirft, vermag jedenfalls in der trügerischen Kulisse Manhattans vor dem 11. September, im Schlussbild des Films, kein himmlisches Paradiso zu erkennen.


Auch das Kino greift manchmal zu Wundern, wenn es von einer besseren Welt erzählen will. Der Preisträger des kirchlichen John Templeton European Film Award, der auf der Berlinale zum sechsten Mal verliehen wurde, lässt solche Wunder mit Vorliebe und größter Lakonie am Rande der Gesellschaft, im Leben der Unscheinbaren, Übersehenen und Ausgegrenzten geschehen. Das Wunder sieht zunächst wie eine Katastrophe aus. Ein von plündernden Rowdys fast Erschlagener, in der Klinik schon Totgesagter, erhebt sich von seiner Bahre und beginnt ohne Namen, ohne Gedächtnis und Identität ein zweites Leben. Bei den Ärmsten findet Aki Kaurismäkis >Mann ohne Vergangenheit< Pflege und Unterkunft, bei der Heilsarmee einen neuen Anzug und die Frau, die er lieben wird. Und als er auf verschlungenen Wegen  auch seine Vergangenheit wiederfindet, erweist sich sein altes Leben in seiner ganzen trostlosen Normalität als ebenso mißlungen wie sein neues als Segen. In seiner Predigt zur Preisverleihung interpretierte Interfilm-Präsident Hans Werner Dannowski Kaurismäkis Film als Variation der rückhaltlosen Preisgabe aller Sicherheiten zugunsten einer Verwandlung, die das Evangelium dem wahrhaft Gläubigen verheißt – nicht gerade das Szenario, das unsere aktuellen gesellschaftlichen Debatten bestimmt. Kaurismäki, der selbst den Preis nicht entgegennehmen konnte, hätte seine eigene sanfte Radikalität in dieser Deutung gut wiedererkennen können. An seiner Stelle nahm sein Produzent Ilkka Mertsola die Urkunde und das von der Templeton Foundation gestiftete Preisgeld in Höhe von 10.000 SFr. in Empfang.

Wie die Templeton-Preisverleihung fand auch der Empfang der Kirchen und der jüdischen Gemeinde in der evangelischen Matthäuskirche statt. Bei dieser Gelegenheit stellte sich auch die dieses Jahr auf sechs Mitglieder (früher zehn) reduzierte ökumenische Jury vor. International zusammengesetzt, mit Vertretern aus den USA, Frankreich, Deutschland, der Schweiz und Tschechien,  umfasste sie neben Katholiken und Protestanten auch ein jüdisches INTERFILM-Mitglied. Die Jury verlieh ihren Preis an einen Film, in dem die politische Akzentuierung des Festivals sich besonders eindrucksvoll niederschlug, an die Flüchtlingsgeschichte >In This World< von Michael Winterbottom. Halb dokumentarisch mit einer digitalen Handkamera gedreht, folgt der Film zwei Afghanen auf ihrem Weg aus einem pakistanischen Flüchtlingscamp über den Iran, die Türkei und Italien bis nach London - ein Ziel, das nur der Jüngere der beiden erreicht. Auch die Internationale Jury unter dem Vorsitz des kanadischen Regisseurs Atom Egoyan vergab den Goldenen Bären an Winterbottom, dem es gelingt, den Zuschauer in das Drama einer jederzeit existenzbedrohenden Zufällen ausgesetzten Reise hineinzuversetzen.

Die weiteren Preise der ökumenischen Jury, vom Rat der EKD und von der Deutschen Bischofskonferenz jeweils mit 2500 € ausgestattet, gingen an den polnischen Film >Edi< von Piotr Trzaskalski aus dem Internationalen Forum des jungen Films und an den israelischen Beitrag >Broken Wings< von Nir Bergmann aus der Panorama-Sektion des Festivals.

Information

Erstellt