Die Welt als Vorstellung
Schon im vorigen Jahr, als er die Leitung der Berlinale übernahm, hat Dieter Kosslick dem deutschen Film mit einer eigenen Sektion (der „Deutschen Reihe“) und vier Beiträgen im Wettbewerb (zur Erinnerung: „Heaven“ von Tom Tykwer, „Der Felsen“ von Dominik Graf, „Halbe Treppe“ von Andreas Dresen und „Baader“ von Christopher Roth) die Bühne des Festivals eingeräumt – und sich damit der larmoyanten, manchmal auch nur ignoranten Unterschätzung der einheimischen Produktion entgegengestellt. Es war längst fällig, dass nicht nur die Marktchancen deutscher Filme erörtert und ein Kassenerfolg wie „Der Schuh des Manitu“ bejubelt, sondern dass sie auch ins Rampenlicht des international wichtigsten filmkulturellen Ereignisses in Deutschland gerückt wurden. Bei allen Unterschieden der Einschätzung und der Bewertung lässt sich mindestens behaupten, dass sie dieser Beachtung standgehalten haben. Nur am Rande sei festgehalten, dass die kirchliche Filmarbeit den Anstoß des Festivals umgehend aufgegriffen hat: „Heaven“ und „Der Felsen“ standen auf einem internationalen katholisch-evangelischen Symposium zur Aktualität des Bilderstreits zwischen Bildverächtern und Bildverehrern zur Debatte, „Halbe Treppe“ wurde „Film des Monats“ der evangelischen Filmjury. Wenn die Festivalöffentlichkeit diesen Filmen den Ausbruch aus der deutschen Kinoprovinz ermöglicht hat, so bescheinigt ihnen die kirchliche Aufmerksamkeit eine Teilhabe an kulturellen Tiefenprozessen über die Grenzen des Kinos hinaus.
Auch bei der zweiten Berlinale unter seiner Ägide hat Kosslick an seinem Konzept festgehalten und in ein Wettbewerbsprogramm, dessen überdurchschnittliches Niveau breite Anerkennung fand, immerhin drei deutsche Filme aufgenommen. Einer davon, „Goodbye Lenin“ von Wolfgang Becker, hat bereits jetzt in den Kinos seine Publikumstauglichkeit bewiesen. Becker erzählt die Geschichte einer DDR-Bürgerin, die die Wende des Jahres 1989 und die ihr folgenden Monate nach einem Unfall im Koma verschläft. Als sie wieder erwacht, spiegelt Alex, ihr Sohn, aus Sorge um einen Rückfall – bloß keine Aufregung! – ihr den Fortbestand der DDR vor. Der Film reizt eine halsbrecherische Grundidee bis an die Grenzen der Wahrscheinlichkeit aus, und man muss den Regisseur für den Listenreichtum bewundern, mit der er sie bis zum Schluss glücklich über die Runden bringt. Immerhin muss für Mutter Kerner ein Paralleluniversum geschaffen werden, das eine untergegangene Welt konserviert. Anfangs genügt es noch, das Zimmer der Genesenden mit – allmählich rar werdenden – DDR-Warenbeständen auszustatten, widerspenstige Familienmitglieder und verständnisvolle Nachbarn zum über Jahre geübten Theaterspiel zu animieren. Ein videobegeisterter Freund sorgt für die Fortschreibung der Nachrichtenchronik im Stil der „Aktuellen Kamera“, und für den Rest des Fernsehprogramms reicht, durchaus realistisch, die Wiederholung des Immergleichen. Mutters Rückkehr ins Leben jenseits der eigenen vier Wände jedoch zwingt Alex dazu, den Geschichtsverlauf neu zu erfinden. Also führt er ihr die Bilder vom Mauerfall und Vereinigungsjubel mit einer schöpferischen Umdeutung vor: als Sieg des Sozialismus, dem die ihrer kapitalistischen Ausbeutung überdrüssigen Westdeutschen zuströmen. Eine Wunschfantasie – wie jedes Happy End.
„Goodbye Lenin“ zehrt von der Potenz des Kinos, eine eigene Realität hervorzubringen. Und von der Neigung des Publikums, sich aus der Wirklichkeit fort zu träumen. Bliebe es dabei, wäre Becker nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine clevere Komödie gelungen, die mit dem Musilschen „Möglichkeitssinn“ spielt. Aber er hat darin einen Widerhaken angebracht, der ihr größeres Format verleiht. Es ist das Thema der Lebenslüge, in der sich Politisches und Privates vermengen. Alex ist in dem Glauben aufgewachsen, dass sein Vater seine Mutter verlassen und aus egoistischen Motiven in den Westen geflohen ist. Am Ende muss Alex erfahren, dass sie den Mut nicht fand, ihm wie vereinbart zu folgen; dass ihr Selbstmordversuch danach nicht verratener Liebe, sondern der Verzweiflung über die eigene Schwäche entsprang; und dass ihr ideologischer Konformismus ein erfülltes Leben ersetzen musste. In der Täuschung, der Manipulation der äußeren Welt, steckt eine Selbsttäuschung, in der Komödie eine Katastrophe. In Wahrheit dreht sich Wolfgang Beckers Film um Glaubensfragen. Wenn Marx forderte, die Philosophie, das Denken, vom Kopf auf die Füße zu stellen, so legt „Goodbye Lenin“ die Vermutung nahe, dass in Deutschland die Welt immer noch aus dem Kopf entsteht.
Dass sich der Film, auch der deutsche Film, bei aller Illusionsbereitschaft (und der Illusionsbereitschaft aller) dieses Erbe nicht unbedingt zu eigen machen muss, demonstrierte in Berlin der zweite deutsche Wettbewerbsbeitrag, „Lichter“ von Hans-Christian Schmid. Nicht zufällig spielt der Film an einer Grenze, dort, wo ganz unmetaphorisch Innen und Außen aufeinander stoßen. Menschen, Waren, Lebensformen und Beziehungen im Transit: diesen Übergangszustand hält Schmid in einer Reihe parallel verlaufender Geschichten fest, die er in Frankfurt an der Oder und im polnischen Slubice auf der anderen Seite des Flusses angesiedelt hat. Die Montage, die sie in der Form von Robert Altmans „Short Cuts“ miteinander verzahnt, springt mühelos von einem Schauplatz zum nächsten und erzeugt damit ein räumliches Kontinuum, das der Fluss, die Grenze, in getrennte Sphären zerschneidet - kaum zu überwinden für eine Gruppe ukrainischer Flüchtlinge, die alle Hoffnung auf ein besseres Leben im Westen setzen; Profitgrundlage für Zigarettenschmuggler oder, im größeren Maßstab, für Investoren, die auf das Gefälle der Wirtschaftsräume spekulieren; Prüfstein für eine Liebesgeschichte, in der romantische Träumerei an der Härte der Lebensbedingungen scheitert; moralische Herausforderung zwischen Legalität und Hilfsbedürftigkeit, Eigeninteresse und Mitmenschlichkeit.
Die hintergündige Logik der Grenze entfaltet der Film in konkreten, unsentimental beobachteten Schicksalen, mit all ihren komischen und bitteren, illusionären und ernüchternden Facetten. So hofft der rechtschaffene polnische Taxifahrer Antoni, durch die Fluchthilfe für eine ukrainische Familie das Geld für das Kommunionskleid seiner Tochter zu erlangen. Die Überquerung der Oder im Morgengrauen misslingt, als der Ukrainer abgetrieben wird und fast ertrinkt. Das Drama der verzweifelten Familie gibt Antoni Gelegenheit, die vereinbarte Summe unbemerkt an sich zu bringen. Inzwischen hat seine Frau aus ihrem Hochzeitskleid ein Kleid für die Tochter genäht. Als Antoni die Kirche betritt, in der die Kommunionsfeier schon begonnen hat, muss er erkennen, dass er seine Integrität einer fixen Idee geopfert hat. Beladen mit Schuld und Vergeblichkeit, das fromme Zeremoniell vor Augen, laufen ihm Tränen über das Gesicht. Die an Ken Loachs "Raining Stones" erinnernde Geschichte eines teuer bezahlten Vaterstolzes wird aus der Perspektive der betrogenen ukrainischen Familie zum Glück, wenigstens das nackte Leben gerettet zu haben. Das anekdotische Format von "Lichter" wie die leichthändige Verknüpfungskunst Schmids lädt dazu ein, den Film zu unterschätzen und den Reichtum an Differenzen zu übersehen, die er nie in einfachen Gleichungen aufgehen lässt.
"Lichter" reihte sich ein in die Berlinale-Filme, die von Migration, Flucht und Vertreibung erzählten und einem vom aktuellen Irak-Konflikt überschatteten Festival eine deutlich politische Note gaben. Einem davon verlieh die internationale Jury unter dem Vorsitz des kanadischen Regisseurs Atom Egoyan, selbst Spross einer armenischen Migrantenfamilie, mit dem "Goldenen Bären" den Hauptpreis des Festivals: "In This World" von Michael Winterbottom. Von einem Flüchtlingslager in Pakistan über den Iran und die Türkei bis nach London folgt der Film zwei Afghanen auf einer gefährlich unsicheren Reise. Gleichsam der unsichtbare Dritte ist Winterbottoms Kamera, die die Perspektive der Flüchtlinge bis hinein in die Dunkelheit eines Schiffscontainers teilt, in den sie mit anderen Migranten eingepfercht werden. Einige werden diesen Transport nicht überleben. Auch den Friedenspreis und den Preis der ökumenischen Jury zog "In This World" auf sich. Der halbdokumentarische Film bezeuge, so die Würdigung der Kirchenjury, eine anhaltende, weltweite menschliche Tragödie.
Wenn Winterbottom schon durch seinen Titel auf dem irdischen Diesseits beharrt, das wir mit anderen teilen, und eine zweifellos materielle Solidarität einfordert, so führt uns Oskar Roehler im dritten deutschen Wettbewerbsfilm mit dem Beziehungsdrama zwischen einem Schriftstellersohn und einer Pfarrerstochter in eine exklusive Sphäre, die nur von den beiden Liebenden bewohnt werden kann, in eine Intimität, deren Entblößung wir sei's fassunglos oder verständnisvoll, angewidert oder angezogen beobachten. Robert und Marie mögen eine Adresse in Berlin haben, aber sie sind in Roehlers "Der alte Affe Angst" anderswo unterwegs – im Aufstieg zum Himmel, im Absturz zur Hölle. Das ruhelose Hin und Her fängt mit einem Streit im Schlafzimmerdunkel an, nach welchem ein Therapeut zur umgehenden Trennung raten würde. Der Auftritt eines solchen Therapeuten an späterer Stelle bestätigt nur, dass den beiden nicht zu helfen ist. Robert ist impotent und findet nur bei Prostituierten Befriedigung. Marie erleidet nach einem einzigen geglückten Beischlaf eine Fehlgeburt und versucht sich im elterlichen Pfarrhaus umzubringen. Und dazwischen Szenen schutzlosester Hingabe, für deren Rückhaltlosigkeit mindestens die Schauspieler (André Hennicke und Marie Bäumer) Bewunderung verdienen. Körperlichkeit und emotionale Verausgabung, oft am Rande des Erträglichen, verdichten sich zu einer Dauerattacke, die Distanz nicht zulässt.
Angst, sagte ein australischer, des Deutschen unkundiger Kollege in Berlin, sei ein Wort, das selbst er kenne. Roehler, der mit "Die Unberührbare" den wichtigsten deutschen Beitrag zum Kinojahr 2001 schuf, das Drama eines Auszugs aus der eigenen, politischen Biografie in die Unzugänglichkeit der Depression, knüpft auch mit seinem neuen Film an einen vertrauten Mythos an, die Geschichte der romantischen, deutschen Innerlichkeit, mit ihren verlockenden und ihren verstörenden Seiten. Ein Mythos, an dem auch "Goodbye Lenin" und seine chimärische Wiederkehr der Vergangenheit teilhat, zum Preis der Verdrängung der realen. Die Angst, die die Beziehung von Marie und Robert untergräbt, entspricht der religiösen Inbrunst, mit der der Film ihre Vision der Liebe, das ausschließlich füreinander Bestimmtsein feiert. Die Geschichte endet auf einer Wiese, mit einem im Tanz unendlich um sich kreiselnden, glücklichen Paar. Man kann diesen Tanz auch als Strudel sehen, der zwei Menschen im Untergang erfasst.