Von Heike Kühn

Was ist ein gelungenes Filmfestival, wenn nicht eine experimentelle Erzählung? Filme aus aller Welt zu versammeln, das ist ehrenhaft. Aber den Mut zu haben, diese Welt in Facetten zu zeigen, die sich von der Allerweltserzählung entfernen, das zeichnet die Internationalen Filmfestspiele Berlin aus, auch in ihrer 63. Ausgabe. Gelegentlich liest man, die Berlinale habe nicht genügend Glamour. Oder zu viel davon. Doch möchte ich nach fünfundzwanzig Jahren als Filmkritikerin unumwunden erklären: Bei einem Festival von dieser Größe und Qualität kann jeder mit seiner Auswahl glücklich werden, so er eine trifft. Es ist wahr, dass es Jahrgänge gibt, in denen die Zusammensetzung des Internationalen Wettbewerbs den einen mehr zusagt als den anderen. Aber solange die Leitung der Berlinale Filme wie „Pardé“, „Child´s Pose“, „Prince Avalanche“ und „La Religieuse“ im Wettbewerb wagt, können ihr auch Filme wie Steven Soderberhgs „Side Effects“ nicht schaden: das Kino der Effekte und des Unterhaltungszwangs, was ist es schon nach einem Jahr in unserer Erinnerung?

Was wirklich bleibt von dieser Berlinale ist die Bewunderung für den iranischen Regisseur Jafar Panahi und seinen mit ihm für die Regie verantwortlichen Hauptdarsteller Kamboziya Partovi. „This is not a film“ hieß Panahis erster Film nach dem ebenso skrupel- wie rechtlosem zwanzigjährigem Berufsverbot, das das Iranische Regime 2010 über ihn verhängte. „Pardé“ vermittelt mit großer Wahrhaftigkeit, wie sich das Aufbegehren gegen zwanzig gestohlene Jahre in lebensbedrohliche Melancholie verwandelt. Gedreht auf Panahis eigenem Grundstück am Kaspischen Meer, entfaltet der Film, dessen Titel „Vorhang“ bedeutet, die Ausmaße einer allgegenwärtigen, vom Regime gewollten Schizophrenie.

Ein namenloser Drehbuchautor, sichtlich Panahis Alter Ego, schmuggelt seinen Hund in eine Villa ein. Sie liegt an einer verlassenen Strandpromenade, der Winter und zahllose Vergnügungsverbote halten die Menschen vom Meer ab. In dieser Abgeschiedenheit will er das Risiko des Schreibens eingehen. Dem Hund Auslauf zu gewähren, ist zu gefährlich: Eine Nachrichtensendung, von der man als Filmbetrachter nicht weiß, ob sie fiktiv oder real ist, „dokumentiert“ die Tötung von Hunden als Triumphzug iranischer Reinheitsfanatiker. Der Hund mit dem programmatischen Namen „Boy“ ist leicht als Symbol eines den eigenen Trieben folgenden Lebens zu erkennen, das bis in die natürlichsten Regungen hinein den Kontrollzwängen der Scheinheiligen unterworfen wird. Will der „unreine“ Hund überleben, muss er lernen, ein Katzenklo zu benutzen.

Der Hund, der keiner sein darf, kommentiert jaulend das kümmerlich gefristete Dasein des Drehbuchautors. Während der Autor die Panoramascheiben der Villa mit schwarzen Tüchern verhängt und frustriert leeres Papier zerknüllt, platzen zwei junge Leute in sein Refugium. Reza und Melika behaupten, Bruder und Schwester und auf der Flucht vor der Sittenpolizei zu sein. Der junge Mann verschwindet und lässt die unstete Melika zurück, auch sie eine des verbotenen Lebens Überdrüssige. Melika entpuppt sich als hemmungslos neugierig und vielschichtig provokant. Sie gibt Details aus dem Leben ihres überraschten Gastgebers zum Besten, reißt die Vorhänge herunter und changiert zwischen Opfer und Polizeispitzel, bis auch sie sich schließlich in Luft auflöst.

An diesem Punkt der Erzählung, die sich jetzt als Seelenleben eines Autors erschließt, der seine Hauptdarsteller halluziniert, tritt Jafar Panahi auf und in seine eigene Villa ein. Nun ist es der Autor (Kamboziya Partovi), der sich in einen Geist verwandelt und gemeinsam mit dem Filmpersonal Reza und Melika den Regisseur heimsucht. Die Villa liegt verwüstet und ausgeraubt. Diebe hätten die Scheiben zerbrochen, sagt der Regisseur, der in einem entfernten Dorf nach einem Glaser schickt. Doch wer glaubt, dass es sich hier nur um eine psychoanalytisch verstandene Zerstörung im Haus der Seele handelt, übersieht Panahis poetischen Widerstand: Wer unter Bann einen Film drehen will, bei dem die Banner der Zensur heruntergerissen werden, muss göttlich lügen können. Durch die eingeworfenen Scheiben weht ein frischer Wind – das muss man den Nachbarn, die Teil des heimlich gedrehten Films wurden, ja irgendwie erklären.

So fallen die Metapher vom Künstler mit Hausarrest, der seine eigenen Fenster einschmeißt, um aus der paranoiden Abschottung herauszukommen, mit der Realität des Filmemachers und dem kreativen Surplus seines hochkomplexen Films zusammen. Am Ende geht Melika, die lebensmüde Muse, ins Wasser, und der Regisseur folgt ihr. Doch der Film spult sich zurück und meergeboren steigt Jafar Panahi aus den Wellen. Die Natur, der Mythos und die Kunst sind auf seiner Seite. Weder Panahi noch Partovi durften nach Berlin reisen, um den Silbernen Bären für das Beste Drehbuch entgegenzunehmen. Aber Tausende haben gesehen, dass sie sich nicht beugen. Mit wenig Mitteln haben sie einen Film gemacht, der aus ästhetischer und ethischer Sicht eines Tages für den Iran einstehen wird.

Filme wie „Pardé“ gelten im Westen als experimentell oder avantgardistisch, weil scheinbar nicht viel passiert. Und doch wird in diesem vermeintlichen Ungeschehen ein ganzes Land in seinen Beschränkungen, seinem Nicht-sein-dürfen porträtiert. Möglicherweise ist es Zeit, dies als eine erweiterte Form der Filmsprache zu betrachten und die an den Haaren herbeigezogene Action der rastlosen Plotmaschinen als Betrug am Reichtum der Filmerzählung. Das Fehlen von „action“ ist dann auch das auffälligste Kriterium, das sowohl die positiven wie die eher gelangweilten Kritiken hervorheben, die zu François Delisles Film „Le météore“ erschienen.

Selbst in einem überreich und mutig kuratierten Programm wie das des diesjährigen FORUM/FORUM EXPANDED sticht der Film des kanadischen Filmemachers hervor: Ihn nachzuerzählen, heißt bereits, ihm eine Form zu geben, die er so nicht hat. Doch erzählen wollen und müssen wir, um zu verstehen. Und eben davon handelt der Film, der jede logische Handlung ausschlägt: Pierre, ein Mann um die Vierzig, sitzt im Gefängnis und wird jede Woche von seiner achtzigjährigen Mutter besucht. Bevor man die beiden zu Gesicht bekommt, hört man aus dem Off, was sie übereinander oder über sich selbst denken. Wie einsam sie sind, wie sehr sie hoffen. Wie sehr sie sich Illusionen hingeben, so wie Pierre, der daran festhält, seine Ehefrau nach 14 Jahren Haft zurückzubekommen; wie deutlich sie über jede Illusion hinaus sind, so wie Pierres sterbende Mutter, die weiß, dass sie den Sohn nicht mehr als freien Mann sehen wird.

Während die Stimmen, zeitversetzt oder zeitlos über Bildern von Wasserfällen, Tieren oder einer blutroten Rose schwebend die Projektionen, Träume und Schuldbekenntnisse der Betroffenen aussenden, sieht man bisweilen Fragmente der beteiligten Körper. So ist die Mutter am Anfang eine Hand mit einem schmalen Ehering, die sich auf der mühsamen Fahrt ins Gefängnis an die Türfüllung eines Taxis lehnt. Der Mörder Pierre, denn als solcher entpuppt er sich in der kräftezehrenden Rekonstruktion seines lange Zeit alle Schuld abstreitenden Unterbewusstseins und der ihn bewusst machenden Filmdramaturgie, bleibt buchstäblich solange unsichtbar, bis er sich selbst sehen kann: Als Drogensüchtigen, der eine Radfahrerin mit dem Auto überrollt und sie flüchtend zum Tode verurteilt hat.

In diese schmerzhafte Aus-einander-Setzung, die das Dickicht von Vorwürfen, Schuldgefühlen und Schuldzuweisungen zerlegt wie ein Bindestrich den Zusammenhang der geschriebenen Sprache, fließen zudem die Gefühlswelten der Ex-Ehefrau, eines Gefängniswärters und eines frisch verhafteten jungen Drogendealers ein. Sich selbst aus dem OFF erklärend, ja sich selbst belauschend wie einem Fremden, dem man nicht traut, überprüfen sie ihre Motive, ihre Verstrickung in den Mord, der ihr Leben verändert hat. So gelingt es diesem tief in die kollektive Psyche hineinreichenden Film, einen spezifischen Fall von Fahrerflucht und Totschlag als Parabel auszuloten: jenseits der Konkretion der Sippenhaft, unter der Mutter und Ehefrau leiden, jenseits der Traumatisierung des Gefängniswärters, der sich als Gefangenen seines Jobs und seines mühsam anerzogenen Misstrauens erfährt, beschreibt der Film nichts Geringeres als den allerersten Mord auf Erden. Ob Brudermord oder Schwesternmord, das ist nicht entscheidend: das Kainsmal der unterlassenen Hilfeleistung prägt alle, die mit dem Mörder verbunden sind. Hätten seine Eltern ihn anders erziehen, mehr lieben müssen? Seine Frau ihm früher Grenzen setzen sollen? Hätten seine Dealer die Verantwortung übernehmen müssen?

Der Dialog, der üblicherweise die Verhältnisse zu klären versucht, bleibt aus. Stattdessen schieben sich Wolken ins Bild oder das Meer. Stattdessen kommt der junge, dreist grinsende Drogendealer ins Gefängnis und bekundet, dass der Kreislauf von Schuldverdrängung weitergeht. Es sei denn, jeder einzelne übernimmt Verantwortung. Für sich selbst, für den anderen. Für das unbestimmte Dazwischen, das durch den Film zieht wie ein Meteor über den Himmel. Nicht wenige Katastrophenfilme haben solch einen Titel: Wenn dann die Einschläge des Himmelskörpers drohen und das Chaos der Apokalypse genussvoll ausgeschlachtet wird, muss stets ein Held her. Ein Opfer, das die Erde rettet. François Delisles, Regisseur, Produzent, Drehbuchautor und Darsteller der Hauptfigur Pierre in Personalunion, hat auch hier einen bemerkenswert anderen Schluss gewählt. Am Ende inszeniert Pierre, der in Begleitung „seines“ Wärters zur Beerdigung seiner Mutter fahren darf, einen Fluchtversuch und lässt sich erschießen. „Ich komme“, sagt er sterbend zum Himmel. Seine Freiheit kostet einen Mord, den der Nächste begeht. Wir werden, sagt dieser erstaunliche Film, nicht aus dem Teufelskreis entkommen, wenn wir der Action, dem ständigen Ausagieren nicht entsagen.

Information

Festivals

Die Berlinale ist zu Ende, die Jurys haben ihre Preise vergeben. Die Ökumenische Jury zeichnete den chilenischen Wettbewerbsbeitrag "Gloria" von Sebastián Lelio aus. Der Goldene Bär der Internationalen Festivaljury ging an "Poziţia Copilului" (Child's Pose/Mutter und Sohn) von Călin Peter Netzer, Rumänien.