Berlinale 2023: Notizen, Kommentare und Beobachtungen (1)

Von Waltraud Verlaguet

Internationaler Wettbewerb


Art College 1994

Regie: Liu Jian

VR China, 2023
Internationaler Wettbewerb: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202314680.html


Mit Zeichnungen im Stil der 1990iger Jahre und oft urkomischen Dialogen, schwarzem Humor und satirischem Elan erzählt der Film das Leben einer Gruppe von Freunden in einer Kunstschule Südchinas. Konflikte und Flirts, wie sie für junge Leute typisch sind, tauchen am Rande auf, zentral aber sind die Reflexionen über Kunst. Was ist Kunst? Wer entscheidet, was Kunst ist? Der Künstler? Aber wer entscheidet, wer ein Künstler ist?

Dahinter steht der Generationenkonflikt zwischen den Lehrern, die den traditionellen Malstil erhalten wollen, und den jungen Menschen, die wie überall auf der Welt nach neuen Wegen suchen... Dazu kommt der Wunsch, reisen zu können, um die Meisterwerke der Weltkunst in Museen der ganzen Welt zu sehen.

Fröhlich schildert der Film die Atmosphäre eines Chinas im Prozess der Öffnung zur Welt und die Wertekonflikte, die diese Öffnung erzeugt.

 

Bai taz hi guang (The Shadowless Tower)

Regie: Zhang Lu

VR China 2022

Internationaler Wettbewerb: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202303739.html


Auch Gu wurde von seinem Vater verlassen, wie Ralphie in Manodrome. Doch anders als dieser entwickelt er keine aggressiven Impulse, sondern leidet im Gegenteil unter einem Übermaß an Höflichkeit, wie die junge Fotografin Ouyang anmerkt, die seine Arbeit begleitet und zu der er eine Beziehung aufbauen wird. Mit langsamem Rhythmus, behutsam und zart zeichnet der Regisseur ein einfühlsames Porträt eines Mannes in der Midlife-Crisis. Er ist geschieden und kümmert sich gelegentlich um seine Tochter, die leuchtende Smiley, die er bei seiner Schwester untergebracht hat. Er schreibt keine Gedichte mehr und weiß nicht recht, wo er steht.

Viele der Szenen drehen sich um einen hohen, architektonisch bizarren buddhistischen Turm, dessen Schatten irgendwo in Tibet liegen soll. Eines Abends bemerken Gu und Ouyang, dass auch sie keine Schatten haben. Ein Zeichen für Orientierungslosigkeit? Auf jeden Fall hinterfragt Gu seinen Platz im Leben und lässt sich gelassen von dieser ungestümen, ja unverschämten jungen Frau sowie von seinem Schwager, der ihm heimlich einen Zettel mit der Adresse seines Vaters überreicht, infrage stellen. Was wäre, wenn dieser letztendlich unschuldig war an dem, was ihm einst vorgeworfen wurde? Zwischen Wiederholungen und Reminiszenzen entsteht ein Weg durch die Vergangenheit in die Zukunft. Durch versetzte Bildausschnitte, durch Spiegelungen oder Brennweitenveränderungen lässt uns der Regisseur durch diese Geschichte schweifen, als würden wir einen Drachen beobachten, der in den Himmel aufsteigt.

 

Bis ans Ende der Nacht

Regie: Christoph Hochhäusler

Deutschland 2023

Internationaler Wettbewerb: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202309393.html


Leni wird aus dem Gefängnis entlassen, um Robert dabei zu helfen, Drogenhändler zu überführen. Sie müssen ein Liebespaar spielen und sich während einer Tanzstunde dem Gangster nähern. Nur: die beiden hatten wirklich eine Romanze– aber das war, als Leni noch Leonard war. Alle üblichen Muster werden unsicher: männlich/weiblich/trans, Bulle/Gangster, nett/böse… Robert ist kein Musterpolizist, wir würden ihn eher für einen Gangster halten. Seine Liebe zu Leni ist ambivalent, heftig, gewalttätig. Der Dealer wirkt freundlich – seine Handlanger weniger. Und welches Ziel hat Leni? Liebe oder Freiheitsdrang?

Oft im Dunkeln gefilmt, kann man weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinne sehr klar sehen. Lenis letzter Blick in die Kamera und bei vollem Licht beantwortet die Frage.

 

Disco Boy

Regie: Giacomo Abruzzese

Frankreich, Italien, Belgien, Polen 2023

Internationaler Wettbewerb: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202302125.html


Aleksei (Franz Rogowski) will zusammen mit seinem Freund Mikhail aus Weißrussland fliehen. Sie schließen sich einer Gruppe an, die mit einem 4-Tages-Visum mit dem Bus zu einem Fußballspiel nach Polen reisen. Ihre Gesichter sind dem Anlass entsprechend geschminkt. Doch während eines Zwischenstopps verlassen sie die Gruppe, um illegal nach Frankreich zu kommen. Beim Überqueren der Oder verliert Mikhail sein Leben. Aleksei geht allein weiter, um sich der Fremdenlegion anzuschließen, in der Hoffnung auf eine neue mögliche Zukunft mit einem französischen Pass.

Währenddessen lässt sich Jomo in Nigeria von seiner Schwester schminken. Doch hier haben die Farben eine existenzielle Bedeutung: Jomo, der davon träumt, ein Tänzer, ein „Disco Boy“, zu werden, ist Aktivist einer bewaffneten Gruppe, die gegen die Ausbeutung seines Dorfes durch die Kolonisatoren kämpft. Eine weiße Journalistin kommt, um die Aktivisten zu interviewen – sie wirkt wirklich lächerlich.

Nach seiner Ausbildung zum Legionär wird Aleksei nach Nigeria geschickt. Er wird natürlich auf Jomo stossen.

Fesselnd gefilmt, bildet ihre „Begegnung“ einen Wendepunkt im Film. Es führt dazu, dass Aleksei eine Identität annimmt, die ganz anders ist als die, nach der er gesucht hat, eine Identität des Verlustes, der Treue über den Tod hinaus. Faszinierend.

 

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Regie: Emily Atef

Deutschland 2023

Internationaler Wettbewerb: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202309628.html


Ein schönes junges Mädchen zwischen zärtlicher Liebe zu einem gleichaltrigen Jungen und wilder Leidenschaft zu einem älteren Mann vor dem Hintergrund der deutschen Wiedervereinigung. Letztere wird leider überhaupt nicht ausgenutzt, sie erscheint als überflüssige Zutat, um eine Tiefe zu beanspruchen, die der Film nicht hat. Die Spannung zwischen Liebe und Leidenschaft ist auch nicht neu oder innovativ, sie dient eher als Vorwand für Nacktszenen. Von einer Regisseurin wie Emily Atef hätte man mehr Subtilität erwartet.

 

Limbo

R: Ivan Sen

Australien 2023

Internationaler Wettbewerb: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202304831.html


Gefilmt in Schwarz-Weiß, besser gesagt in Grau, entspricht die Ästhetik dem Sujet: Wir befinden uns in einer Wüstenlandschaft, in der Opalminen abgebaut werden. Die Armut ist grell. Der Polizist, der dorthin fährt, um einen alten Fall wieder aufzurollen, hört fromme Predigten im Radio, in denen es um den Limbus geht: Wo alle hinkommen, das Vorzimmer der Hölle. Und was der Film zeigt, ist nicht weit davon entfernt. Auch das Motel heißt „Limbo“.

Am Schluss wird der Polizist die Wahrheit herausfinden, aber wozu ? Es ist besser, den Lebenden zu helfen, ihre verschütteten Beziehungen wieder aufzunehmen und Leben wieder möglich zu machen.

 

Manodrome

Regie: John Trengove

Großbritannien, USA 2023

Internationaler Wettbewerb: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202310730.html


Ein Abstieg in die Hölle der Männlichkeit. Ralphie (Jesse Eisenberg) ist nicht der Prototyp des Machos. Seine Freundin ist schwanger und sie hoffen, trotz ihrer zerrütteten Vergangenheit eine richtige Familie gründen zu können. Ralphie wurde von seinem Vater verlassen, als er klein war. Er zweifelt an seiner Männlichkeit, versucht sie mit Bodybuilding aufzupolieren, aber seine Potenz spielt nicht mit. Ein „Freund“ stellt ihn einer Männergemeinschaft vor, die wahre Männlichkeit zelebriert, indem sie auf Sex verzichtet, um sich aus der „Gynosphäre“ zu befreien (an dieser Stelle des Films brach der Raum in Gelächter aus). Um ihr wahres Selbst, seine innere Stärke, wiederzuentdecken. Der Guru (großartig: Adrien Brody) praktiziert New-Age-Rituale (ähnlich denen von AI: African Intelligence), um all die vergrabene Wut ans Licht zu bringen, um sie zu vertiefen. Da flippt Ralphie völlig aus. Kurz gesagt, eine Ballung aller Laster der Männlichkeit.

Das letzte Bild ist sehr berührend und zeigt die wahre Wunde dieses Kindes, das ein Mann sein möchte, oder dieses Mannes, der das verletzte Kind von einst geblieben ist. Aber ist das nicht etwas zu einfach? Wenn alle Jungen, die von ihren Vätern verlassen wurden, Psychopathen würden...

 

Past Lives

Regie: Celine Song

USA 2022

Internationaler Wettbewerb: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202313871.html


Eine zarte Liebesgeschichte, wie wir sie bei asiatischen Regisseuren mögen. Die Kamera schafft es, verborgene Bewegungen der Seele einzufangen, wo Worte nicht gesagt werden können. Fernab jeglicher Sentimentalität inszeniert der Film die existenziellen Fragen eines jeden, mit all den „Was wäre wenn“, die man sich im Laufe seines Lebens stellen kann. Vergangene Entscheidungen hinterfragen oder seinen Entscheidungen treu bleiben, die immer auch und zugleich Verzicht sind? Ein Filmdebüt, das seiner Regisseurin eine große Zukunft verspricht.

 

Sur l’Adamant

Regie: Nicolas Philibert

Frankreich, Japan 2023

Internationaler Wettbewerb: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202305594.html


Ein sehr nützlicher Dokumentarfilm über eine einzigartige Institution: das Adamant, eine Tagesklinik in einem auf der Seine schwimmenden Kahn, in der Menschen mit psychischen Problemen behandelt werden. Er bringt uns die Patienten und ihre Betreuer näher, oft in Nahaufnahme, gefilmt bei ihren verschiedenen Aktivitäten Zeichnen, Musik, Tanz, Kino, Nähen, gemeinsames Nachdenken über das Tagesprogramm oder die Nachrichten. Der große Dokumentarfilmer Nicolas Philibert beleuchtet sie zartfühlend und mit dem Bewusstsein für ihre Zerbrechlichkeit, für die Gefahren, in der sie immer schweben, aber auch für ihre manchmal überraschenden Einsichten. Und er porträtiert auch die Pflegekräfte, die keine weißen Kittel tragen und bereitwillig zugeben, dass sie weiterdenken müssen, etwa wenn eine der Patientinnen anbietet, selbst einen Workshop zu leiten – was eingeübte Gewohnheiten auf den Kopf stellen würde. Auch angesichste der immer möglichen Wahnvorstellungen, die die Patienten selbst fürchten, bleibt der Film ihnen gegenüber stets respektvoll und lässt uns spüren, wie sehr sie eine ausgestreckte Hand brauchen. (Goldener Bär der Berlinale 2023)

 

Suzume

Regie: Makoto Shinkai

Japan 2023

Internationaler Wettbewerb: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202307156.html


Dieser Animationsfilm verwendet die üblichen Elemente des Genres: junge Menschen, die sehen, was andere nicht sehen, die Dinge verstehen, die andere nicht verstehen, und die besondere Kräfte besitzen, mit deren Hilfe sie die Welt retten müssen. Dazu kommt eine Liebesgeschichte, in der das junge Waisenkind seinen Prinzen trifft, und wie in Aschenputtel ist es ein Geschenk der Mutter, das es ihr ermöglicht, ihre Situation zu meistern. Die Bedrohung, die über dem Land schwebt, erinnert an die Katastrophen, die Japan regelmäßig heimsuchen, Erdbeben, Vulkanismus und Tsunamis.

Schöne Bilder unterstreichen die Gleichzeitigkeit zwischen der Bedrohung, die über der Welt hängt, und dem normalen, sorglosen Leben, das alle anderen führen, was zweifellos nicht ohne Bezug zu der Situation in unserer realen Welt ist, in der wir trotz der ökologischen Bedrohung und der des Krieges weiter ins Kino gehen, gegen Reformen protestieren oder ein gutes Restaurant suchen.

Am Anfang lassen wir uns von der Geschichte und der Ästhetik mitreißen; aber dieselbe Drohung wird zu oft wiederholt; mit einer stärkeren Verdichtung hätte der Film an Wirkung gewonnen.

 

The Survival of Kindness

Regie: Rolf Heer

Australien 2022

Internationaler Wettbewerb: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202302045.html


Alles beginnt mit dem Modell eines Kampfes zwischen Weißen und Eingeborenen, letztere entweder tot oder in Ketten. Dann entpuppt sich das Modell als Dekoration auf einer Torte (Schokolade und Sahne). Ein Mann mit Gasmaske schneidet sie in Stücke und verteilt sie an andere ähnlich maskierte Männer. Sie tauschen Wortfetzen aus, die wir nicht verstehen.

Das Bild spricht für sich.

Dann sehen wir eine schwarze Frau, ausgesetzt in einem Käfig mitten in der Wüste. Rundherum Ameisen, in Großaufnahme gefilmt.

Die Frau findet einen Weg, den Käfig zu öffnen und geht und geht und geht. Wüste, Berge, Eisenbahnschienen, eine qualmende Fabrik. Wenn sie unglücklichen Menschen begegnet, hilft sie ihnen, so gut sie kann, mit einem Lächeln. Dann das Bedürfnis, zu sich selbst zurückzukehren. Man könnte sagen, ein Roadmovie - durch unterschiedlichste Landschaften und von Hoffnung hin zu einem tragischen Selbst.

Die Bilder sind wunderbar. Landschaften sind eigenständige Akteure. Sie wechseln sich ab mit Großaufnahmen der Frau, entschlossen, wohlwollend, wohlwollend entschlossen. Wir sehen sie nie essen, als ob sie es nicht müsste. Am Ende verstehen wir es.

 

Tótem

R: Lila Avilés

Mexiko, Dänemark, Frankreich 2023

Internationaler Wettbewerb: https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202307056.html


Ein Tag, ein Haus, eine Familie. Die kleine Sor versteht nicht, warum sie ihren Vater nicht sehen darf. Sie hat Angst, dass er sie nicht mehr liebt. Aber dieser muss sich ausruhen: Am Abend gibt es eine Party, für die er in guter Verfassung sein muss. Der ganze Haushalt ist in Aufruhr, es wird gekocht, dekoriert, Lieder und kleine Nummern werden geprobt, eine Exorzistin soll die bösen Geister vertreiben... Im Laufe des Tages wird Sor reifer und ihre großen Augen blicken in die Zukunft. Ein Film voller Leben und Liebe. (Preis der Ökumenischen Jury)