Beziehungsdramen in wechselnden Konstellationen
Žert (Der Scherz, Jaromil Jireš, Tschechoslowakei 1969)
Karlovy Vary oder Karlsbad, wie die Stadt früher hieß, hat eine große Tradition als Kurort. Goethe und Schiller waren hier, Dvorák und Smetana, Gustav Mahler und Sigmund Freud. Heute ist die Stadt bekannt für ihr internationales Filmfestival, das durch seine freundliche und entspannte Atmosphäre beeindruckt, wie auch durch sein enthusiastisches Publikum. Fast alle Vorführungen waren ausverkauft, wenn das Kino voll war, saßen die Zuschauer zur Not auch auf dem Boden. Im Anschluss an die Vorführungen gab es engagierte Diskussionen mit den Filmemachern und Schauspielern.
Draußen auf der Straße ging das Festival als Volksfest weiter. Die halbe Stadt verwandelte sich in eine Partymeile. Da die Einschränkungen der Corona Zeit endlich vorbei sind, wurde entsprechend leidenschaftlich gefeiert.
Geschichten von Eltern und Kinder, Paaren und Partnerschaften waren ein zentrales Thema in diesem Jahr. Herausragend in diesem Zusammenhang der Dokumentarfilm „Mein Vater, der Fürst“ von Lukas Sturm und Lila Schwarzenberg. Über einen Zeitraum von fünf Jahren befragt die Tochter Lila in sehr persönlichen Gesprächen ihren berühmten Vater, Karl Fürst Schwarzenberg, nach seinem Lebensweg und ihrer gemeinsamen Familiengeschichte. Dabei reflektiert sie ihre ungeliebte Rolle als Prinzessin einer traditionsreichen Adelsfamilie. Es entsteht das Portrait einer Vater-Tochter-Beziehung, das einen überraschenden Sog entwickelt und durchaus übertragbar ist auf andere Familien.
Karl Schwarzenberg wuchs auf Schloss Orlík in Südböhmen auf. Nach der kommunistischen Machtübernahme 1948 musste er zusammen mit seiner Familie das Land verlassen. 1989 kam er im Zuge der sogenannten „Samtenen Revolution“ zurück in die Tschechoslowakei und wurde einer der engsten Mitarbeiter von Václav Havel. Später fungierte er als Außenminister und scheiterte nur knapp als Präsidentschaftskandidat. Doch hinter der erfolgreichen politischen Biographie verbirgt sich ein Leben voller Brüche und Widersprüche. Im Rollstuhl war der heute 84jährige zur Premiere nach Karlovy Vary gekommen, wo er begeistert gefeiert wurde und alle Fragen auf Tschechisch beantwortete.
In „Fucking Bornholm“ von der Polin Anna Kazejak fahren zwei befreundete Familien für ein langes Wochenende auf die dänische Insel Bornholm. Es dauert nicht lange, bis verdrängte Konflikte aufbrechen und von der erhofften Ferienstimmung wenig übrigbleibt. Der polnische Star Agnieszka Grochowska spielt eindrucksvoll die Mutter, die sich Sorgen macht um ihre Kinder und für eine Nacht aus ihrer steril gewordenen Ehe ausbricht. „Fucking Bornholm“ wurde mit dem Preis der europäischen Arthouse Kinos ausgezeichnet (Europa Cinemas Label).
Um Ausbrüche geht es auch in dem tschechischen Film „Hranice lásky“ (Borders of Love/Grenzen der Liebe), der den FIPRESCI Preis der internationalen Kritiker-Jury erhielt. Hanka und Petr sind ein junges, kinderloses Paar, das anfängt, sich über seine erotischen Phantasien auszutauschen, und schließlich mit der Spielart einer polyamoren Beziehung experimentiert. Während Hanka an dem Leben mit wechselnden Partnern Gefallen findet, reagiert Petr zunehmend eifersüchtig und wütend. Er zieht sich zurück und beendet die Beziehung, die so stark und unzerstörbar schien.
Wer nach dem suggestiven Plakat einen Sexfilm erwartete, wurde enttäuscht. „Ich möchte, dass sich die Zuschauer unbehaglich fühlen und sich fragen, wo für sie die Grenzen der Liebe liegen“, sagte der polnische Regisseur Tomasz Winski, der in Prag Film studierte und zusammen mit der Hauptdarstellerin Hana Vagnerová das Drehbuch geschrieben hat. „Ich war froh, nach dem Ende der Dreharbeiten die Figur der Hanka hinter mir zu lassen“, meinte Hana Vagnerová. „Sie fing an, toxisch zu werden.“
2017 beeindruckte der Israeli Ofir Raul Grazier mit seinem Debüt „The Cakemaker“ im Wettbewerb von Karlovy Vary. Auch in seinem neuen Film „America“ entwirft er eine komplexe Beziehungskonstellation. Eli arbeitet als Schwimmlehrer in Chicago, der Tod seines Vaters bringt ihn zurück nach Israel. Dort trifft er auf seinen Jugendfreund Yotam und dessen Verlobte Iris, eine dunkelhäutige Jüdin mit äthiopischen Wurzeln. Als Yotam nach einem Badeunfall monatelang im Koma liegt, entwickelt sich eine Liebesbeziehung zwischen Eli und Iris. Beide verbindet eine traumatische Vergangenheit, bei Eli mit seinem gewalttätigen Vater, bei Iris mit ihrer streng religiösen Einwandererfamilie. Einfühlsam und nie vorhersehbar erzählt Regisseur Grazier von den emotionalen Verflechtungen seiner drei Protagonisten.
Seit dem Krieg in der Ukraine hat sich das Erscheinungsbild der Stadt verändert. Auf der Straße hört man niemanden mehr Russisch sprechen, während in der Vergangenheit russische Kurgäste in Karlovy Vary omnipräsent waren. Viele Hotels und Immobilien, fast die halbe Stadt, sind in russischer Hand. Jetzt wird überprüft, was damit geschehen soll und ob ihre Besitzer auf der Sanktionsliste der EU stehen.
Als Geste der Solidarität unterstützte Karlovy Vary das Festival in Odessa, das wegen des Krieges nicht stattfinden kann, und hatte dessen Reihe „Works in Progress“ übernommen.
Politische Themen spielten natürlich auch in zahlreichen Filmen eine Rolle. Einer der brisantesten war „The Killing of a Journalist“ (Die Ermordung eines Journalisten), der den Fall des investigativen slowakischen Journalisten Jan Kuciak aufgreift, der im Februar 2018 zusammen mit seiner Freundin Martina Kusnirová ermordet wurde. In der dänisch-amerikanischen Koproduktion rekonstruiert Matt Sernecki die Umstände, die zu der Tat führten. Die Aufdeckung krimineller Verstrickungen zwischen dubiosen Geschäftsleuten und höchsten Regierungskreisen löste in der Slowakei ein politisches Erdbeben aus, in dessen Folge der Ministerpräsident Robert Fico, sein Innenminister sowie der Polizeichef zurücktreten mussten. Selbst große Teile des Justizapparats erwiesen sich als korrupt.
Dem mutmaßlichen Drahtzieher des Auftragsmords, Marián Kocner, einem zwielichtigen Geschäftsmann mit besten Verbindungen in die Politik und Justiz, konnte keine direkte Beteiligung nachgewiesen werden, obwohl er Jan Kuciak wegen dessen Recherchen bedroht hatte. Akribisch recherchiert und spannend wie ein Thriller zeichnet der Film die mafiösen Verwicklungen im politischen System der Slowakei, einem Land, das als ökonomisches Erfolgsmodell unter den Staaten des ehemaligen Ostblocks gilt.
Im tschechischen Wettbewerbsbeitrag „Slovo“ (Das Wort) wird zwar niemand ermordet, aber eine Familie massiv unter Druck gesetzt, weil der Protagonist seine moralischen Prinzipien nicht verraten will. Es ist das Jahr 1968, dem Notar Viktor wird nahegelegt, in die Partei einzutreten, um seine patriotische Gesinnung zu unterstreichen. Er weigert sich und befürchtet das Schlimmste für die Zukunft. Im Zuge der sowjetischen Okkupation fällt Viktor in eine tiefe Depression.
Es ist seine Frau Maria, die die Familie zusammenhält und ihm wieder Mut macht. Als er eine erneute Loyalitätserklärung verweigert, zwingt man ihn zum Umzug aufs Land. Es war das Schicksal ihrer Großeltern, das die Regisseurin Beata Parkanová, die für die beste Regie ausgezeichnet wurde, zu dieser Geschichte inspirierte. Der Film lebt vom subtilen Spiel von Martin Finger, der den Preis als bester Darsteller gewann, und von Gabriela Mikulková als seiner Ehefrau.
Eine härtere Form der Repression zeigt ein Klassiker der berühmten „Neuen Welle“ des tschechoslowakischen Kinos, der in einer restaurierten Fassung vorgestellt wurde. „Zert“ (Der Scherz, 1968) von Jaromil Jires basiert auf einer Erzählung von Milan Kundera, der auch am Drehbuch mitarbeitete. Anfang der 1950er Jahre wird dem Studenten Ludvík ein politischer Scherz zum Verhängnis. Auf einer Postkarte an seine linientreue Freundin hatte er geschrieben: „Optimismus ist das Opium der Massen. Lang lebe Trotzki!“ Seine Mitstudenten und Freunde wenden sich von ihm ab und fordern eine harte Bestrafung. Er wird aus der Partei ausgeschlossen, von der Universität verwiesen und in einem Strafbataillon gedemütigt und schikaniert.
15 Jahre später begegnet er der Frau seines ehemals besten Freundes, der inzwischen in der Partei Karriere gemacht hat. Um sich zu rächen, will Ludvík sie verführen. Aber sein Plan geht nicht so auf wie er sich vorgestellt hatte. In Rückblenden tauchen Bilder der stalinistischen 50er Jahre auf, dabei entsteht durch die Überlagerung von Ton und Bild eine bittere Collage aus Gegenwart und Vergangenheit.
Zum Ausklang ein freundlicher, meditativer Film aus Österreich, „Zoo Lockdown“. Andreas Horvath, der mit einem Portrait über Helmut Berger bekannt wurde, hat während des strengen Lockdowns im Frühjahr 2020 die Tiere im Salzburger Zoo gefilmt. Tiere unter sich, für Besucher war der Zoo gesperrt. Die einzigen Menschen sind die Tierpfleger, die das Futter bringen oder dem Veterinär bei der Besamung eines weiblichen Nashorns assistieren. Vor allem die Affen, insbesondere die Lemuren, sorgen für amüsante Momente, wenn sie auf dem Nashorn herumturnen oder den menschenleeren Zoo erkunden.
Man hat den Eindruck, dass es Andreas Horvath gelungen ist, durch aufmerksame Beobachtung das spezifische Wesen der verschiedenen Tiere einzufangen. Horvath hat nicht nur die Kamera geführt, sondern auch selbst geschnitten und die Musik komponiert. Ein Allroundtalent und ein radikaler Minimalist. Der Film kommt ganz ohne Dialog oder Kommentar aus, weil er durch den Schnitt und die Musik eine eigene Spannung entwickelt. Unruhig wird es erst, als die Besucher wiederkommen.
Was nützen die schönsten Filme, wenn sie nur auf dem Festival zu sehen sind und womöglich nie ins Kino kommen? Um diesem Dilemma zu begegnen, mit dem alle Festivals konfrontiert sind, hat Karlovy Vary jetzt eine eigene Streaming Plattform ins Leben gerufen, auf der einzelne Titel abgerufen werden können. Darüber hinaus hat man sich mit dem führenden tschechischen Verleih für Arthouse Filme, Aerofilms, zusammengetan, um einer Auswahl an Festivalfilmen einen Kinostart zu ermöglichen. Eine vielversprechende Initiative, die darauf abzielt, das Festival für ein möglichst breites Publikum zu öffnen und eine Alternative zu den Blockbustern aus Hollywood anzubieten.