Am diesjährigen Filmfestival Cannes, das nach einem vielschichtigen und in vieler Hinsicht offenen Wettbewerb am letzten Samstagabend mit den Preisverleihungen zu Ende ging, erhielt der brasilianische Regisseur Walter Salles für seinen Film Diarios de motocicleta (Carnets de voyage) den Preis der Ökumenischen Jury. Mit einer lobenden Erwähnung für den Film Moolaadé des senegalischen Regisseurs Ousmane Sembene, der in der Reihe „Un certain regard“ programmiert war, lenkte die Ökumenische Jury die Aufmerksamkeit auf den einzigen afrikanischen Beitrag im offiziellen Festivalprogramm. Aus Anlass der 30.Ökumenischen Jury in Cannes wurde der britische Regisseur Ken Loach für sein Gesamtwerk mit einem Spezialpreis
geehrt.
Der für seinen eindrücklichen Film Central Station von der Ökumenischen Jury bereits an der Berlinale 1998 ausgezeichnete Walter Salles erzählt in seinem neuen (von Robert Redford produzierten) Film von zwei argentinischen Medizinstudenten, die 1952 mit einem alten Motorrad der Marke „Norton 500“ mit dem Fabrikationsjahr 1939 aufbrechen, um den lateinamerikanischen Kontinent zu entdecken. Ihre Namen sind Alberto Granado und Ernesto Guevara, hervorragend gespielt vom 25jährigen mexikanischen Schauspieler Gael Garcia Bernal, der zuvor (ausser Konkurrenz) bereits in Almodovars La mala educacion herausragte und deshalb als Anwärter für den Preis als bester männlicher Darsteller galt. Was zunächst als eine mit herkömmlichen Mitteln realisierte Reise unbedarfter jugendlicher Abenteurer durch abwechslungsreiche Landschaften von Argentinien über Chile, Peru und Kolumbien bis nach Venezuela erscheint, wird immer mehr zu einer berührenden Konfrontation mit der sozialen Wirklichkeit, wie sie sich beispielsweise in den Kupferminen Chiles oder in einer Leprastation des Amazonas zeigt. Und der Zuschauer beginnt spätestens bei der Begegnung mit dem gealterten Alberto Granada am Ende des Films die Motive zu verstehen, warum sich Ernesto Guevara in der Folge dieser Reise zum legendären „Che“ verändert hat. Unter Presseleuten galt der Film bis zuletzt als Anwärter auf einen Preis. „Diesen Film auszuzeichnen wäre ein Zeichen der Hoffnung. Nicht nur politisch, sondern auch für das lateinamerikanische Kino“, schrieb Nicole Hess im Tages-Anzeiger vom 22.Mai. Warum es einzig die Ökumenische Jury getan hat, bleibt eine offene Frage.
Aus der offiziellen Festivalreihe „Un certain regard“ zeichnete die Ökumenische Jury den Film Mooladé des renommierten senegalesischen Regisseurs Ousmane Sembène aus, der im nichtgewerblichen Film- und Videoverleih ZOOM (Schweiz) durch seinen Film Guelwaar vertreten ist (in Deutschland bei EZEF). Im Vordergrund des neuen Films steht ein friedlich wirkendes Dorf, das plötzlich zum Mittelpunkt einer Konfrontation zwischen Tradition und Moderne wird. weil sich eine Mutter weigert, ihre Tochter beschneiden zu lassen. Unvermittelt fliehen vier andere Mädchen vor dem Beschneidungsritual und stellen sich unter den Schutz der mutigen Heldin des Films. Im Widerspruch zwischen dem Anspruch der Tradition und dem heiligen Recht auf Asyl entwickelt sich eine universelle Dilemmageschichte, in welcher der aus Frankreich zurückkehrende Sohn des Dorfchefs eine entscheidende Rolle einnimmt. Am Ende rivalisiert die von ihm installierte Fernsehantenne mit dem Minarett der Moschee und signalisiert den Umbruch. Die Produktion wurde durch den Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) gefördert.
Spezialpreis für Ken Loach
Die internationalen kirchlichen Filmorganisationen INTERFILM und SIGNIS (früher: OCIC) sind seit 1974 mit einer ökumenischen Jury in Cannes präsent, unterstützt von den nationalen Organisationen Pro-Fil und Chrétiens-Medias, sowie einem grossen Kreis von Freiwilligen, die sich für die Organisation eines Standes am Filmmarkt, die Pressearbeit und andere öffentliche Auftritte der Jury in Cannes engagieren. Am ersten Festivalsonntag fanden im Beisein der jeweiligen Juryvertreter konfessionell getrennt durchgeführte Mess- bzw. Abendmahlsfeiern statt, und am Vorabend vor Auffahrt wurde in der anglikanischen Kirche mit Beteiligung von Vertretern katholischer, protestantischer, freikirchlicher, anglikanischer und, orthodoxer Kirchen ein ökumenischer Gottesdienst durchgeführt, an welchem mit Jean Arnold de Clermont, dem Präsidenten der Fédération Protestante de France, der auch Präsident der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) ist, ein prominenter Kirchenvertreter die Predigt hielt.
Die kirchlichen Filmorganisationen INTERFILM und SIGNIS nahmen die 30. ökumenische Jury in Cannes zum Anlass, den britischen Regisseur Ken Loach mit einem Spezialpreis für sein Gesamtwerk zu ehren. Loach ist von der ökumenischen Jury an verschiedenen Festivals wie kein anderer mit zahlreichen Preisen und Lobenden Erwähnungen ausgezeichnet worden, in Cannes bereits 1981 für Looks and Smiles, 1990 für Hidden Agenda, 1994 in Berlin für Laydbird, Ladybird, 1995 in Cannes für Land and Freedom und 1998 mit dem Europäischen Templeton Filmpreis für My name is Joe. Mit dem OCIC-Preis wurde 1985 der Film Which side are you on?ausgezeichnet. Loachs Gesamtwerk zeigt, dass er auf der Seite der Menschen ist, die leiden und gleichzeitig kämpfen, die Grund haben, enttäuscht zu sein und trotzdem hoffen, die glauben, dass Solidarität und Sorge füreinander Werte sind, die Hoffnung für die Zukunft stiften. So war es denn auch typisch, dass Loach an der Zeremonie für die Überreichung des Preises den französischen „Intermittants“, den Teilzeitangestellten aus dem Kulturleben, die mit verschiedenartigen Aktionen fast täglich an der Croisette für die Verbesserung ihres Versicherungs- und Pensionssystems demonstrierten, das Mikrofon übergab, damit sie auch bei dieser Gelegenheit auf ihr Anliegen aufmerksam machen konnten.
Michael Moore als Überraschungssieger
Zwar stellten die USA in der neunköpfigen offiziellen Jury mit Quentin Tarantino nicht nur den Jurypräsidenten, sondern noch drei weitere Mitglieder, und im Wettbewerb waren sie mit insgesamt vier Titeln vertreten. Auch der Abschlussfilm und fünf weitere Titel, die ausser Konkurrenz gezeigt wurden, kamen aus den USA. Cannes versuchte offensichtlich, seine Beziehungen mit Hollywood gegenüber dem Vorjahr zu verbessern. Gleichzeitig fand eine eklatante Öffnung gegenüber dem asiatischen Kino statt, das mit starken Filmen präsent war. Auch bezüglich des vertretenen Genres wartete Cannes dieses Jahr mit neuen Perspektiven auf. Mit Shrek 2 und Innocencewaren neben zwei Dokumentarfilmen und fünfzehn Spielfilmen auch zwei hochstehende Animationsfilme aus den USA und Japan vertreten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Die asiatischen Filme hinterliessen allesamt einen starken Eindruck, unter ihnen Nobody Knows des Japaners Kore-Eda Hirokazu, dessen 14jähriger Hauptdarsteller Yagira Yuya mit dem Preis als bester Darsteller ausgezeichnet wurde. Er spielt in einem sowohl bedrückend stillen wie eindrücklichen Film eines von vier Kindern, die von der Mutter allein in einer Wohnung zurückgelassen werden.
Einen breiten Raum nahm in der Berichterstattung neben zwei koreanischen Filmen auch der erste thailändische Wettbewerbsbeitrag Tropical Malady ein, der einen archaischen Erlösungsmythos thematisiert. Dass schliesslich der eher holzschnittartig wirkende Dokumentarfilm Fahrenheit 9/11 des erklärten Bush-Gegners Michael Moore die Goldene Palme gewann statt der heiss ersehnte und hoch gelobte sensible Film 2046 des Hongkong-Chinesen Wong Kar-wai, ist als sowohl überraschende wie klare politische Entscheidung der Festivaljury zu werten.