Nachtschicht
Sean Penn dürfte nicht die besten Erinnerungen an das Festival von Cannes haben, da sein humanitäres Afrika Drama „The Last Face“ hier 2016 bei der Premiere ausgebuht wurde. Diesmal erging es ihm als Schauspieler in Jean-Stéphane Sauvaires New York Noir „Black Flies“ nicht viel besser. Auch dieser Film kam bei der Kritik überhaupt nicht gut an.
Die schwarzen Fliegen des Titels sind die Schmeißfliegen, die eine verwesende Leiche in einem heruntergekommenen Apartmentblock umschwirren. Das ist nicht der einzige Horror, mit dem der junge Rettungssanitäter Cross (Ty Sheridan) bei seinen nächtlichen Einsätzen konfrontiert wird. An der Seite seines erfahrenen Kollegen „Rut“ Rutkowsky (Sean Penn) begegnet er allen Formen menschlichen Elends. Cross lebt in einem billigen Verschlag in Chinatown und bereit sich auf die Aufnahmeprüfung für das Medizinstudium vor, während sein Partner Rut mit professioneller Routine seinen Job macht und alle Träume von einem besseren Leben längst aufgegeben hat.
Sean Penn spielt ihn mit der stoischen Ruhe eines desillusionierten Veteranen im Rettungsdienst, der die Ereignisse von 9/11 aus nächster Nähe erlebt hat. „Black Flies“ traktiert die Zuschauer akustisch und optisch mit den schrillen Tönen und blitzenden Lichtern der Feuerwehrsirenen. Am Einsatzort werden die Helfer mit Beschimpfungen aller Art empfangen und haben Mühe, ihre Patienten zu finden, die selten die Fahrt ins Krankenhaus überleben.
So weit so gut, aber dann will uns Regisseur Sauvaire die Traumatisierung der Rettungssanitäter mit allen Mitteln deutlich machen. Der junge Cross trägt nicht nur eine Jacke mit einem brandrot geflügelten Erzengel Michael, er hat das Motiv auch noch als Bild an der Wand hängen. Rut verliert bei einem besonders blutigen Einsatz die Nerven und bei Cross kann selbst der Sex mit seiner Part-Time-Freundin die traumatischen Bilder nicht verdrängen. Es wird wenig gesprochen, doch was gesagt wird, erspart dem Zuschauer, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Das ist schade, denn der Film hat interessante Momente und mit Michael J. Pitt als cholerischem Zyniker und Mike Tyson als bärtig ergrautem Teamleiter pittoreske Nebenfiguren.
Tagschicht
Was wir von China in den Nachrichten sehen, sind Bilder von einem pompös inszenierten Parteitag und von aggressiven Manövern vor der Küste von Taiwan. Wir wissen, dass es um die Menschenrechte der Uiguren nicht gut bestellt ist, aber wie das Leben in der Provinz und wie die Realität in den chinesischen Fabriken aussieht, wissen wir wenig. Der Dokumentarfilm „Youth (Spring)“, eine Koproduktion mit Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden, zeigt den Alltag der Arbeiter in Zhili, einem armen Dorf, das sich seit den 1970er zu einem Zentrum der chinesischen Textilindustrie entwickelt hat. Hier wird vor allem Kinderkleidung für den einheimischen Markt produziert. Fünf Jahre lang, von 2014 bis 2019, hat der renommierte Dokumentarist Wang Bing in mehreren Textilfabriken gedreht. Man könnte von einer ethnographisch inspirierten Beobachtung der cineastischen Art sprechen.
Der Film konzentriert sich auf die jungen Arbeiter im Alter von 18 bis Anfang 20, die vom Land die Fabrik gekommen sind. Sie arbeiten von 8 Uhr morgens bis abends 23 Uhr mit zwei Stunden Pause zum Essen, sieben Tage die Woche, nur an ihrem ‚Ruhetag‘ endet die Arbeit um 17 Uhr. Es sind Verhältnisse, wie man sie aus der frühen Industrialisierung in Europa kennt. Nähen und Bügeln im Akkord. Auseinandersetzungen um Gehälter und Stückzahlen nehmen im Film zunehmend Raum ein. Man spürt, wie viel Konfliktpotential hier in der Luft liegt.
Nach der Arbeit begleitet die Kamera die Arbeiter ins Wohnheim, wo sie das Bad und die Zimmer miteinander teilen. Die jungen Männer und Frauen arbeiten Seite an Seite, machen Blödsinn, streiten sich und flirten miteinander. Streckenweise wirkt die Atmosphäre wie eine Mischung aus Arbeitslager und Landschulheim. Frauen werden schwanger und man debattiert, ob sie das Kind behalten oder abtreiben sollen. Für Sentimentalitäten ist in der Fabrik kein Platz. „Eine Abtreibung ist wie ein Hundebiss“, sagt einer der Chefs, „einmal gebissen und einmal zurückgebissen.“ Mit einer Dauer von 3 ½ Stunden verlangt der Film von den Zuschauern ein Maximum an Geduld. Und doch ist er erst der Auftakt zu einer Trilogie, an der Regisseur Wang Bing zurzeit schneidet.